Der Alltag von Opfern des Naziregimes in der Altenpflege

Hitler ist jetzt mehr als sechzig Jahre tot und die Vergangenheitsbewältigung sollte nun endlich mal aufhören. Schließlich gibt es in der Gegenwart genügend Probleme, die dringend gelöst werden müssen. So sagen manche. Nicht nur am Stammtisch. Doch die Geschichte des Nationalsozialismus ist kein abgeschlossenes Kapitel. Es gibt Menschen, die heute noch unter den Folgen des Naziterrors leiden.

In einer einfühlsamen Radiosendung berichtet Sibylle Hoffmann über die Probleme von NS-Opfern, die heute pflegebedürftig sind. Die Reportage trägt den Titel „Bleiben Sie mir vom Leib! Opfer des Naziregimes in der Altenpflege“ und wurde am 2. Juli im SWR 2 gesendet. Sie kann aber auf der Homepage des Südwestrundfunks noch gehört (MP3, 25 Minuten) oder nachgelesen (RTF, 11 Seiten) werden.

In der Sendung wird der Fall einer Frau geschildert, die von den Nationalsozialisten als „Asoziale“ verfolgt, zwangssterilisiert und zu medizinischen Experimenten herangezogen worden war. Aufgrund dieser traumatischen Erfahrungen misstraute Frau Peh seitdem allen Ärzten und Pflegern. Wie die Mitarbeiterin eines Pflegedienstes berichtet, war es schon schwierig, überhaupt in die Wohnung der Patientin zu gelangen:

„Ich hab vor dieser Tür gestanden, richtig tief Luft geholt und hab mir manchmal einfach Tricks überlegt, um zu sagen: Hallo Frau Peh, ich bin heute da und wollte ihnen von meiner Katze erzählen - ich hab gar keine Katze, meine Nachbarn haben Katzen - damit ich nen Fuß durch diese Tür krieg. Sie liebte Tiere über alles. Ihre ganze Liebe, die sie Menschen nicht mehr entgegenbringen konnte, hat sie auf Tiere projiziert.“

War es gelungen, Frau Peh zum Öffnen der Wohnungstür zu bewegen, musste weiterhin äußerst behutsam vorgegangen werden:

„Man war dann in der Wohnung, aber konnte noch nicht irgendwas an dieser Frau machen. Sie musste zum Beispiel Blutzucker gemessen kriegen, Insulin bekommen, das ging nur jeden zweiten Tag, höchstens. Ansonsten ist man hochkant aus der Wohnung geflogen, wenn man den Moment verpasst hatte, wo man etwas machen konnte. Und als sie dann bettlägerig wurde, dann konnte sie sich nicht mehr wehren, dass jemand in die Wohnung ging, aber dann hat sie sich massiv damit gewehrt, dass sie die Menschen geschlagen hat, die kamen ans Bett. Und da immer wieder drüberzugehen und den Moment auszuhalten bis sie dann sagte: ‚Ach, es ist schön, dass Du da bist’, das war ne echte harte Arbeit für die Leute, die da hin mussten.“

Pflegebedürftig zu werden und einzusehen, dass man dauerhaft auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen ist – dies stellt für alte Menschen eine schwere Belastung dar. Für Opfer des Naziregimes besteht die Gefahr einer Retraumatisierung: Der Eintritt in ein Pflegeheim wird unter Umständen als (Wieder-)Einweisung ins Lager erlebt. Feste Tagesabläufe, weiße Kittel und Mehrbettzimmer können panische Ängste auslösen. Krankheit konnte in einem Konzentrationslager Selektion und Mord bedeuten. Es ist nicht ungewöhnlich, dass NS-Verfolgte die Behandlung auch schwerwiegender Krankheiten verweigern.

Zudem haben Opfer des Nationalsozialismus oft Schwierigkeiten beim Umgang mit Gleichaltrigen: Was sollen sie sagen, wenn über „die gute alte Zeit“ gesprochen wird? Unerträglich ist die Vorstellung, gemeinsam mit einem Täter im Zimmer leben zu müssen.

Unser Gesundheitssystem ist auf diese spezielle Problemlage nicht eingestellt. Die zeitintensive Betreuung wird von den Kassen nur unzureichend vergütet, so dass Pflegekräfte unentgeltliche Mehrarbeit leisten müssen, wenn sie ihrer Aufgabe gewissenhaft nachkommen wollen. Nötig wären auch Fortbildungsveranstaltungen, in denen professionelle Helfer und Angehörige auf die besonderen Pflegebedürfnisse von NS-Verfolgten vorbereitet werden.

Links:

Weitere Informationen über NS-Opfer in der Altenhilfe finden Sie beim Bundesverband Information und Beratung für NS-Verfolgte.

In der Radiosendung von Sibylle Hoffmann wird der Hamburger Pflegedienst „Solidarische Hilfe im Alter“ vorgestellt, der sich auf die Betreuung von NS-Opfern spezialisiert hat. Die Homepage der „Solidarischen Hilfe“ enthält u. a. mehrere einführende Texte zur Thematik.

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