... Als die Mauer gefallen war, dachte ich als Wissenschaftler nicht gleich an ein politisches Engagement, andererseits hatten mir die lettischen Kollegen klargemacht, daß auch ein Wissenschaftler Verantwortung für die Gesellschaft trägt.
Auf der Suche nach Partnern, die sich mit bildungs- und wissenschaftspolitischen Fragen beschäftigen, begegnete mir Anfang 1990 eine kleine Gruppe von Eltern, die ausschließlich SPD-orientiert war. Mit einigen Mitgliedern dieser Gruppe fuhr ich im Februar 1990 das erste Mal in meinem Leben in den Westen.
Wir suchten die Schule „von morgen“, nachdem wir die „von gestern“ zu kennen glaubten. In Bonn-Beuel lernten wir u.a. eine Gesamtschule kennen und waren überwiegend begeistert. Fast alle, die mitgefahren waren, hätten am liebsten sämtliche Polytechnischen Oberschulen in Potsdam zu Gesamtschulen konvertiert.
Im Auftrag dieser Gruppe beteiligte ich mich am Runden Tisch „Bildung“ des Bezirkes Potsdam und analysierte die beabsichtigten Aktivitäten der SED-Bildungsfunktionäre, um daraus unsere konkreten Forderungen abzuleiten. Im Januar war ich in die SPD eingetreten, weil mir deren Programm am überzeugendsten zu sein schien, wobei ich natürlich die Partei im Sinne hatte, die ich mit Persönlichkeiten wie Willy Brandt und Helmut Schmidt verband. ...
In der Anfangszeit mussten die Schriftführer bei Abstimmungen sehr oft zu Auszählungen der Stimmen eingesetzt werden, weil das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten problemorientiert war. Deshalb gab es für manchen Regierungsvorschlag neben Stimmen aus der Opposition auch Gegenstimmen aus der Koalition. Das ist heute unvorstellbar.
Die Landesverfassung erklärt in Artikel 67 den Fraktionszwang für unzulässig, deshalb hüte man sich, das parteipolitische Kalkül über den Verstand zu stellen! Wenn der Präsident im Plenum die eigenen Fraktionskollegen wie jeden anderen Abgeordneten aufmerksam begleitet, führt das über unerfüllbare Erwartungen nicht selten zu Spannungen, zuweilen spürt man sogar Distanz zur Fraktion. Auch wenn der Präsident Mitglied einer Fraktion ist, hat er sich doch in seiner politischen Funktion für das Parlament überparteilich zu verhalten. ...
Was für Brandenburg richtig gelaufen ist, hängt wohl vom Blickwinkel des Betrachters ab. Ob der Umgang mit dem Bodenreformland gewollt falsch war, ist auf Grund manchmal erschreckend weitreichenden Gedächtnisschwundes der Akteure schwer zu bewerten.
Wenn mir heute Forderungen nach kostenloser Kinderbetreuung vom ersten Lebensjahr als eine der besonderen Erkenntnisse auf der Bundesebene begegnen, erinnere ich mich auch des Widerstandes einer gereiften Sozialdemokratin gegen die Absicht in der SPD-Fraktion, schon in der zweiten Wahlperiode in Brandenburg eben dieses Ziel aufzunehmen.
Natürlich ist die Wende noch zu spüren, aber weniger als Aufbruchstimmung, vielmehr sind es ihre Auswirkungen. So gehört Arbeitslosigkeit ebenso zu unserer Wirklichkeit, wie man zunehmender Bürokratie gegenüber steht und ohne Anwalt chancenlos ist.
Dass die DDR mittlerweile zu einem Objekt in einer Unterhaltungsgesellschaft geworden ist, sehe ich eher amüsiert. Aber es ist geradezu beglückend, wenn es hin und wieder Interesse an authentischen Informationen über diese hinter uns liegende Zeit gibt.
Wir sollten uns perspektivisch daran ausrichten, was wir heute und später zu leisten in der Lage sind. Denn für mich besteht Lebenskunst im richtigen Umgang mit Chancen, denen wir begegnen oder begegnen werden.
geboren an 11. Juni 1939 in Alt Jauer/Niederschlesien, war ab 1990 Abgeordneter der SPD im Landtag Brandenburg. In seinem Potsdamer Wahlkreis wurde er zweimal als Direktkandidat wiedergewählt.
Bis 2004 amtierte er durchgängig als Landtagspräsident, danach schied er aus der Politik aus. Im Dezember 2021 ist er im Alter von 82 Jahren verstorben.
Auszug aus Andrea von Gersdorff / Astrid Lorenz, "Neuanfang in Brandenburg", Potsdam 2010
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