Reformation für Ungläubige

Warum soll die Erinnerung an die Reformation von allgemeinem Nutzen sein? Was kann man von den Reformatoren lernen – auch als Bürger ohne Konfession im 21. Jahrhundert?

Zeichnung von Frank Hoppmann für den Jahreskalender der Landeszentrale 2017
© Frank Hoppmann

Ist sie nicht peinlich, die Selbstverständlichkeit, mit der die evangelischen Landeskirchen staatliche Steuermittel für die Erinnerung an ein Ereignis ausgeben, das die einen als Reformation, die anderen als Kirchenspaltung und wieder andere als den Anfang vom Ende des Mittelalters deuten? Und ist es nicht an der Zeit, dass die staatlichen Geldgeber all den Steuerzahlern, die keiner Kirche angehören, erklären, inwiefern die investierten Gelder denn einen allgemeinen Nutzen haben? Kirchliche Selbstbeweihräucherung sollten weder Bund noch Land unterstützen.

Warum ist die Erinnerung an die Reformation von allgemeinem Nutzen? Davon müsste man auch kirchenkritische Bürgerinnen und Bürger überzeugen. Was kann man von den Reformatoren lernen – auch als konfessionsfreier Bürger des 21. Jahrhunderts?

Im Folgenden werden fünf Themen als bewahrenswerte Erbstücke der Reformation zur Diskussion gestellt. Sie können uns dabei helfen, uns selbst darüber zu verständigen, woher wir kommen, in welchem Zustand wir sind und was unsere Bestimmung ist. 


Verständlich sprechen - sich in Fremdes einfühlen

Martin Luther hat die Bibel aus dem Griechischen und dem Hebräischen ins Deutsche übersetzt. Seine kraftvolle, lebensnahe, anschauliche Sprache war Vorbild und Quelle nicht nur für Prediger und Lehrer, sondern auch für Dichter und Denker. Seine Forderung, „dem Volk aufs Maul zu schauen“, wird bis heute gern zitiert, aber selten praktiziert. Technische, ökonomische, kulturelle, politische Eliten pflegen ihre je eigenen Sprachstile und Sprachspiele, mit denen sie sich von anderen abgrenzen. Sprache wird so zu einem Mittel der Exklusion, nicht der Verständigung. 

Wer übersetzen will, muss nicht nur seine Muttersprache beherrschen, er muss sich auch in fremde Sprachen und Vorstellungswelten einfühlen. Nur so gelingt die Übersetzung. Im Zeitalter der Globalisierung und der Pluralisierung sind wir tagtäglich gezwungen, uns einen Reim auf Fremdes zu machen. Luther hat mit seiner Übersetzung antiker Texte mit zum Teil befremdlichen Inhalten den Weg zur Aneignung von Vorstellungswelten geebnet, zu denen bis dahin nur eine kleine Minderheit Zugang hatte. Er erschloss dem deutschen Volk so ein kulturelles Archiv mit phänomenaler Prägekraft.

Seine Psalmenübersetzungen beispielsweise haben vielen Deutschen den Zugang zur jüdischen Frömmigkeit eröffnet. Psalmen begleiteten Millionen von Deutschen von der Wiege bis zur Bahre. Die geistliche Musik eines Johann Sebastian Bach oder eines Felix Mendelsohn-Bartholdy verlässt sich wesentlich auf Luthers Übersetzungen.

Oft genug lag er freilich auch schief. Seine Lesart des Apostels Paulus kann heute nur noch als antijudaistisch angesehen werden. Doch genau darin liegt das Risiko des Übersetzens: Wir müssen uns immer wieder neu um das Verstehen und die Aneignung des Fremden bemühen und immer wieder neu die Balance zwischen Aneignung und Anerkennung des bleibend Fremden suchen. Ob uns das gelingt, ist eine offene Frage. Die Kunst des Übersetzens zu praktizieren, eine Sprache für die gegenseitige Verständigung zu finden, ist heute notwendiger denn je.

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Nachdenken - sich immer wieder neu erfinden

Die erste der 95 Thesen Luthers lautet: “Da unser Herr und Meister Jesus Christus spricht ‚Tut Buße‘ hat er gewollt, dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sein soll.“ Das Wort Buße im Alltag kennen wir nur noch als Strafmaßnahme im Straßenverkehr („Bußgeldkatalog“) oder als Racheankündigung („Das wirst Du mir büßen!“). Weshalb soll die erste der 95 Thesen also etwas Besonderes sein und für uns heute Lebenden noch von Bedeutung?

Im griechischen Urtext, aus dem Luther übersetzte, heißt es: Metanoiete! Das kann man auf zweierlei Weise übersetzen: entweder als Denkt um! oder aber als Denkt nach! Luther hat es mit "Tut Buße" übersetzt und damit gemeint: Unser ganzes Leben lang, Tag für Tag, immer wieder neu sind wir aufgefordert, über unser Leben nachzudenken.

In einer Risikogesellschaft wie der unseren sind wir zwar von den Zwängen traditionaler Gesellschaften befreit: Unsere Herkunft muss nicht unsere Zukunft bestimmen. Wir sind elementar frei. Aber diese Freiheit unterwirft uns dem Zwang zur Wahl – und zwar nicht zur Wahl von diesem und jenem, der Automarke oder der Designermarke, sondern dem Zwang zur Selbstwahl. In allem was wir entscheiden, entscheiden wir auch darüber, wer wir sind.

In einer kurzen Schrift zum Glauben, dem „Kleinen Katechismus“, spricht Luther davon, dass wir „den alten Adam“ täglich „ersäufen“ sollen, damit ein neuer Mensch in uns entstehen kann. Die Idee, an sich zu arbeiten, ein Leben lang zu lernen, sich immer wieder neu zu erfinden, wurde in der Reformationszeit durch den konsequenten Ausbau eines Bildungswesens gefördert, das Bildung für alle vorsah. Konfirmiert durfte nur werden, wer lesen (und schreiben) konnte. Das war und ist eine große Errungenschaft, denn Lesen und Schreiben zu können, eröffnet den Zugang zu gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten.   

Lesetipp


Richtig protestieren - sich irren können

Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ bezeichnete Luther in einer Titelgeschichte als den „ersten deutschen Wutbürger“. Diplomatie war seine Stärke nicht. Wenn es darum ging, politisch etwas auszuhandeln, dem Gegner mit Respekt zu begegnen und auch dessen Interessen ernst zu nehmen, schickte Luther seinen Freund und Kollegen Philipp Melanchthon vor. Dieser war es, der 1530 die sogenannte „Confessio Augustana“, die „Augsburgische Konfession“, verfasste, auf die sich alle protestantischen Fürsten und Städte verständigen konnten und die als theologisches Konsenspapier den katholischen Ländern als Verhandlungsgrundlage angeboten wurden.

Oft lobt man Luther für seine Unbeugsamkeit auf dem Reichstag in Worms von 1521. Dort sollte er seine Ansichten widerrufen. „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“, soll er dagegen ausgerufen haben. In einer Zeit, wo selbstgefällige Autokraten in Russland, der Türkei und in den USA ihre Willkür ausleben, beeindruckt mich dieser Bekennermut nicht besonders. Für weitaus produktiver, gerade mit dem Blick auf die heutige Zeit, halte ich Luthers Bekenntnis zur eigenen Irrtumsfähigkeit. Er sei jederzeit bereit und willens, erklärte er in Worms, einen Irrtum einzugestehen, wenn ihm dieser bei einer sorgfältigen gemeinsamen Lektüre der Heiligen Schrift nachgewiesen werden könne. Mit anderen Worten: Wenn es einen Standard gibt, dann können aus politischen Feinden Konfliktpartner werden, mit denen man über die Interpretation von etwas streitet, das beiden Seiten wichtig ist. Wer diese gemeinsame Grundlage aufkündigt, der will den Bürgerkrieg.   

Protest ist nicht nur erlaubt, Protest ist für eine Demokratie notwendig und lebenswichtig. Guter Protest unterscheidet sich aber vom öffentlich geäußerten Hass dadurch, dass man die gemeinsame Grundlage der Meinungsverschiedenheit benennt und sich selbst für ebenso irrtumsfähig hält wie jeden anderen Menschen auch. Pro-testare heißt: für etwas einstehen. Gute Parteien erkennt man daran, dass sie für etwas eintreten und nicht gegen alles Mögliche hetzen.  

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Frei sein - sich auf Kompromisse einlassen

Mit seiner Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ (1521) hat Martin Luther politische Geschichte geschrieben. Der Satz „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan“ hatte revolutionäre Wirkungen. Nicht nur die Bauern lasen den Satz politisch. Und weil im 16. Jahrhundert fast jeder Untertan ein getaufter Christ war, so kann man diesen Satz durchaus an den Beginn der politischen Freiheitsgeschichte Deutschlands setzen. Jeder besitzt eine Freiheit, die ihm niemand rauben kann. Auf dem Glauben an die Freiheit aller Menschen gründet heute noch unsere Demokratie. Die Freiheitsrechte, wie sie im Grundgesetz niedergeschrieben sind, besitzen Ewigkeitsgarantie (GG Art.79, Abs.3).

Die Freiheit des (Christen)menschen begründet Luther mit der alleinigen Herrschaft über die Seele. Was er "die Seele" oder den "inneren Menschen" nannte, bezeichnen wir heute als "Gewissen" und wir meinen damit alle Überzeugungen, Wertvorstellungen und Weltanschauungen, die ein Individuum im Lauf seines Lebens entwickelt. Auf sie soll der Staat keinen Zugriff haben – auch nicht auf die religiösen Überzeugungen seiner Bürgerinnen und Bürger.

Die Garantie dieser Freiheit heißt nun freilich nicht, dass jeder tun und lassen darf, was ihm gerade in den Sinn kommt. Mit Willkür hat diese Freiheit nichts zu tun. Unsere Freiheit beruht vielmehr auf der Fähigkeit, zwischen der inneren Gedankenfreiheit und der notwendigen Gesetzestreue zu unterscheiden. Das bedeutet, dass der freie Mensch, selbst wenn er mit einem Gesetz nicht einverstanden ist, verpflichtet ist, eine Änderung der herrschenden Geseltzgebung auf geordnete Weise und gesetzeskonform herbeizuführen – wozu immer auch die Fähigkeit gehört, mit Kompromissen zu leben.

In letzter Zeit hört man des Öfteren die Forderung, dass das Grundgesetz eine höhere Geltung beanspruchen müsse als Heilige Schriften. Eine solche Forderung verdankt sich einem Mangel an Differenzierungsvermögen. Denn es ist doch gerade das Grundgesetz, das die Gewissensfreiheit unbedingt verteidigt. Wenn also ein Mensch fest davon überzeugt ist, dass er Gott mehr gehorchen muss als den Menschen (Apg 5, 29), dann ist diese Überzeugung grundgesetzlich – mit Ewigkeitsgarantie – geschützt. Diese Freiheit befreit aber nicht von den herrschenden Gesetzen.

Während Überzeugungen nicht justiziabel sind, sind es Handlungen sehr wohl. Luthers Unterscheidung zwischen jener Sphäre, in der Recht und Gesetz herrschen und jener Sphäre, wo staatliche Eingriffe Übergriffe sind, ist unter den Bedingungen religiöser Pluralität höchst aktuell – und das präzise Ziehen dieser Unterscheidungslinie nicht immer einfach.


Das Gemeinwohl im Blick - sich berufen fühlen

Heute sucht man sich gelegentlich Jobs, früher entschied man sich lebenslang für einen Beruf. Dass etwas so Alltägliches wie ein Beruf religiöse Wurzeln haben soll, will einem nicht gleich einleuchten. Und doch stößt man bei der Suche nach den Wurzeln des Begriffs Beruf auf den der Berufung. Wer einen Beruf wählte, verspürte einen Ruf, etwas sagte ihm, dass dies die richtige Entscheidung sei. Im Beruf verwirklichte man sich selbst. Im Beruf galt es, sich zu bewähren. Der Beruf war aber auch der Ort, dem Staat, dem Gemeinwesen, seinem Nächsten zu dienen.

Fragt man heute, welche Berufe besonderes gesellschaftliches Ansehen genießen, so sind es jene, in denen Menschen bereit sind, ein Opfer für andere zu bringen. Diese Auffassung von Arbeit und Beruf kann man durchaus als Erbe der Reformation sehen, denn es war Martin Luther, der der Geringschätzung der Arbeit ein Ende bereitete.

Man hats erfunden, dass Papst, Bischöfe, Priester und Klostervolk der geistliche Stand genannt wird, Fürsten, Herrn, Handwerks- und Ackerleute der weltliche Stand. Das ist eine sehr feine Erdichtung und Trug.“ Martin Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation (1520)

Die bis zur Reformation gängige Unterscheidung zwischen einem irgendwie höheren geistlichen und einem niedrigeren weltlichen Stand löst Luther mit den schlichten Hinweis auf, dass alle, die am Werk der Schöpfung Gottes mitarbeiten, „wahrhaftig geistlichen Standes“ sind. Damit emanzipierten sich die „weltlichen Berufe“ vom kirchlichen Segen. In unserer Gesellschaft sind der Müllmann, der Papst, die Politikerin, Lehrerin und der Bundespräsident gleich: beurteilt werden sie danach, ob sie ihren Beruf oder ihre Berufung zum Wohl anderer ausüben.

Freilich war Luther fest davon überzeugt, dass nur solche Berufe vor Gott und vor dem Gewissen Bestand haben können, die dem Nächsten – also möglichst allen -  nützen.

Vorstellungen wie die des schottischen Aufklärers und Ökonomen Adam Smith, wonach ein Gemeinwesen dann am meisten aufblüht, wenn jeder so egoistisch wie möglich agiert, hätte er für einen höllischen Zustand gehalten. Eben dies ist aber das Glaubensbekenntnis des Kapitalismus – eine der größten Utopien der Menschheitsgeschichte mit sehr ungewissem Ausgang.
 

Professor Dr. Rolf Schieder, Humboldt-Universität zu Berlin, Theologische Fakultät, Lehrstuhl für Theologie und Religionspädagogik. Februar 2017
 

Linktipps

  • Unsere Steuern für ein Kirchending?

    Rolf Schieder kritisiert die Selbstverständlichkeit, mit der staatliche Steuermittel für das Reformationsjahr ausgegeben werden. Der Berliner Religionsprofessor findet, alle Steuerzahler, auch die Nicht-Gläubigen, haben das Recht auf eine Erklärung.

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Kommentare

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Ich verstehe nicht, warum Herr Schieder es „peinlich“ findet, mit welcher Selbstverständlichkeit die evangelischen Landeskirchen staatliche Steuermittel für die Erinnerung an die Reformation ausgeben. Wie Schieder im Interview selber sagt, hat Martin Luther mit seinen Schriften „unsere politische Geschichte mitgeschrieben“. Er hält es sogar für legitim, dessen Aussage zur Freiheit eines Christenmenschen an den Anfang der politischen Freiheitsgeschichte Deutschlands zu setzen.

Warum sollte man also der Reformation anlässlich des 500-jährigen Jubiläums des Thesenanschlags nicht gebührend gedenken? Schließlich hatte die Reformation nicht nur für die christliche Religion, sondern gesamtgesellschaftlich weitreichende Folgen und wird in Europa völlig unabhängig von der jeweiligen Religions- oder Konfessionszugehörigkeit als bedeutender und einschneidender Prozess in der Geschichte betrachtet.

Warum sollte ihr anlässlich des Jubiläums also nicht die gleiche Aufmerksamkeit zustehen, wie anderen historischen Ereignissen? Gerade angesichts dessen, dass der Reformationstag hierzulande zunehmend von „Halloween“ überschattet und als solcher mitunter gar nicht mehr wahrgenommen wird.   

Auch Schieders Aussage, dass Luthers Standhaftigkeit vor dem Reichstag in Worms ihn angesichts heutiger Autokraten nicht beeindrucke, ist mir unverständlich. Inwiefern relativiert denn die heutige politische Situation einiger Länder den Mut und die Charakterstärke, die es braucht, um in einer Zeit, in der Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden, auf seiner die vorherrschenden kirchlichen Praktiken und sogar den Papst kritisierenden Überzeugung zu beharren? Eine ähnliche Situation war 100 Jahre zuvor für den böhmischen Jan Hus schließlich tödlich ausgegangen, als er im Gegensatz zu Luther trotz der Zusicherung sicheren Geleits seinen Anhörungsort nicht mehr hatte verlassen können, sondern an Ort und Stelle verbrannt wurde! Trotz dieser möglichen Konsequenzen seiner Überzeugung treu zu bleiben, halte ich keinesfalls für selbstverständlich. Schließlich hätte es des von Schieder gelobten Bekenntnisses zur Irrtumsfähigkeit Luthers gar nicht erst bedurft, wenn er einfach wiederrufen hätte.

Doch er stand zu dem, was er für richtig hielt, räumte seinem Gewissen einen höheren Stellenwert ein als seinem Leben. Ohne Frage ist es wichtig, sich gerade bei umstrittenen Fragen der Möglichkeit bewusst zu sein, dass man falsch liegt, doch es scheint mir nicht weniger wichtig und notwendig, dafür aber noch viel schwieriger, auch angesichts möglicher negativer Konsequenzen für das einzustehen, von dessen Richtigkeit man überzeugt ist.
 

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