Ulrike Liedtke ist die Präsidentin des Brandenburger Landtags und damit Chefin eines Parlaments und einer Verwaltung zugleich. Seit der Wahl im September 2019 ist die Rheinsbergerin die Herrin im Potsdamer „Stadtschloss“, das sie höchstens privat so nennt.
Ulrike Liedtke ist seit der letzten Wahl die Präsidentin des Brandenburger Landtags und damit Chefin eines Parlaments und einer Verwaltung zugleich.
Potsdam. Die rote Stuhllehne im Rücken, einen weißen Tisch mit ebenso weißen Mikrofonen vor sich – im Plenarsaal ist die Präsidentin des Landtags von den brandenburgischen Landesfarben eingerahmt. In ihrem Büro im Potsdamer Stadtschloss hat Ulrike Liedtke sich für ein breiteres Farbspektrum entschieden. Die Bilder an den Wänden schimmern je nach Blickwinkel in anderen Farben. „Es gefällt mir, die Dinge von verschiedenen Seiten zu betrachten“, sagt die Landtagspräsidentin über diese Bilder.
Seit der Wahl im September 2019 ist die Rheinsbergerin die Herrin im Potsdamer „Stadtschloss“, das sie höchstens privat so nennt. „Der Landtag ist nicht mehr das Schloss. Aber er passt wunderbar nach Potsdam“, sagt sie mit Blick auf das Äußere und hebt sogleich sein modernes, helles Innere hervor, das nicht rokokogolden schimmert, sondern in rot-weißen Kontrasten.
Für die SPD ist Ulrike Liedtke in das Parlament gewählt worden, für alle Abgeordneten von den Linken bis zur AfD übt sie nun das Amt der Präsidentin aus. „Ich bin neutral, weil ich die Rechte und Pflichten aller Abgeordneten zu wahren habe. Das ist meine Aufgabe. Ich trete erst einmal jedem mit Achtung entgegen, und das bekomme ich auch gespiegelt“, sagt sie.
Die rote Lehne ihres Platzes im Plenarsaal macht deutlich, dass die Präsidentin eine besondere Rolle wahrnimmt: Sie ragt höher als die Rückenlehnen aller anderen Abgeordneten. Die Präsidentin beruft die Sitzungen des Parlaments ein und leitet diese, sorgt für den Ablauf nach den umfangreichen Regeln der Geschäftsordnung. Wer vom Thema abschweift, bekommt einen Sachruf von ihr. Wer gegenüber dem politischen Gegner ausfallend wird oder sonst die parlamentarische Ordnung oder Würde verletzt, einen Ordnungsruf. Nicht nur auf Rederechte, auch auf die Einhaltung der Redezeit achtet sie. Im Landtag berühmt geworden ist ein Kommentar eines ihrer Vorgänger, des Landtagspräsidenten Gunter Fritsch, der nach zu langer Rede dem Ministerpräsidenten das Mikrofon abdrehte. Gilt die Begrenzung auch für den Regierungschef? „Vor dem Rednerpult sind alle Menschen gleich“, brummte der Landtagspräsident.
Die Sitzverteilung im Landtag, die Wahlbeteiligung in Brandenburg und die Entwicklung der Zweitstimmen seit 1990 im Vergleich.
Beschlossene Sache
Wenn die Plenarsitzung, die sich auf mehrere Tage einer Sitzungswoche erstrecken kann, vorüber ist, muss Ulrike Liedtke eine Aufgabe wahrnehmen, die ihr niemand abnehmen kann. Alle beschlossenen Gesetze müssen von ihr unterzeichnet werden - „ausgefertigt“, wie es im Parlamentsdeutsch heißt. Dabei kommt längst keine feine Feder mehr zum Einsatz, die über festes Papier kratzt. Stattdessen benötigt die Präsidentin eine Chipkarte, die in einem Umschlag in ihrem Büro im Schrank verschlossen bereitliegt. Die Karte ist geradezu schmucklos, nicht einmal das Wort Brandenburg steht darauf - nur der Name eines Kommunikationsunternehmens. Das dazugehörige Gerät steht an anderer Stelle im Landtag verschlossen und wird nach jeder Plenarsitzung in ihr Büro geschafft. Sobald Ulrike Liedtke ihre PIN eingetippt hat, erscheint ihre Unterschrift unter allen beschlossenen Gesetzen der jüngsten Sitzung.
Für ihre wichtigste Aufgabe hält sie allerdings nicht die Unterzeichnung von Gesetzen. Sie will, dass aus all den Debatten und Anträgen auch Ergebnisse werden, Beschlüsse gefasst werden. Das Parlament müsse für die Bürger da sein – dieses Ziel verliert sie nicht aus den Augen. Dafür begrüßt sie Schülergruppen und andere Gäste, öffnet das Haus mit Ausstellungen und Kunstaktionen, trifft sich mit Menschen, die ihr die verschiedensten Probleme und Ideen schildern, die es im Land Brandenburg zu bewältigen gibt. „Ich komme vom Theater. Da waren wir für das Publikum da“, sagt sie.
Kaum ein Tag, an dem sie nicht von sieben Uhr morgens bis zehn Uhr abends als Präsidentin unterwegs ist – oder für ihren Wahlkreis in Ostprignitz-Ruppin oder die Rheinsberger Stadtverordnetenversammlung. Diese Mandate nimmt Ulrike Liedtke trotz des Amtes als Landtagspräsidentin weiterhin sehr ernst. „Ich bin doch gewählt worden. Ich gehe nicht weg. In Rheinsberg diskutieren wir über Schulen, Denkmalschutz, Tourismus. Das sind Themen, die wir auch auf Landesebene haben.“ Hinzu kommen Aufgaben außerhalb der Politik, die sie trotz ihres hohen Amtes weiter ausübt: Seit 2017 lehrt sie als Honorarprofessorin an der Universität Potsdam und mag den Austausch mit jungen Menschen. Überdies hat sie Ehrenämter im Deutschen Kulturrat, im Musikrat und als Präsidentin des Landesmusikrates Brandenburg inne.
"Mich beeindruckt jeder, der mehr tut als seine acht Stunden Arbeit"
Gibt es nicht wenigstens ein Privileg, dass sie genießt oder etwas entschädigt? „Es gibt oft so schöne Büffets“, scherzt Liedtke, „aber immer, bevor sie eröffnet werden, muss ich zum nächsten Termin.“ Was sie tatsächlich an ihrer Rolle schätzt, sind die Begegnungen mit den zahlreichen Menschen, die sie sonst nie getroffen hätte. Sie ist die höchste Repräsentantin des Landes Brandenburg – die Landesverfassung räumt ihr diesen Platz noch vor Ministerpräsident Dietmar Woidke ein – doch wenn man sie fragt, welche Begegnungen ihr in besonderer Erinnerung geblieben sind, fallen ihr keine Staatsgäste oder Prominenten ein. Dann erzählt sie von Menschen, die sich um Blinde kümmern, um Obdachlose oder um Kinder, denen es zuhause nicht gut geht. „Da wird einem klar, welches Engagement es in unserem Land gibt. Da sind so viele Menschen, die mit ihrem Einsatz gar nicht in die Öffentlichkeit drängen. Mich beeindruckt jeder, der mehr tut als seine acht Stunden Arbeit“, sagt sie. Stellvertretend für viele andere wird diesen Menschen aus ihren Händen die Medaille des Landtages für Verdienste um das Gemeinwesen verliehen.
Die neue Landtagspräsidentin war erst wenige Monate im Amt, als sie und ihre 140 Mitarbeiter zählende Verwaltung mit der Corona-Pandemie die bislang größte Herausforderung zu bewältigen hatten – das Parlament in Gang zu halten. „Die Wirtschaft ist abgeschaltet worden. In so einer Phase muss das oberste Verfassungsorgan weiterarbeiten. Das war mir ganz wichtig und das haben wir auch geschafft.“ Kaum eine Sitzung ist ausgefallen; vielmehr gab es einige Sondertermine, weil schnelles Handeln und Entscheiden nötig war. Video- und Telefonkonferenzen sowie Live-Übertragungen von Gremiensitzungen im Internet haben die Arbeit aus dem Parlament herausgetragen, in alle brandenburgischen Wahlkreise und Wohnorte der Abgeordneten.
Für Ulrike Liedtke liegt dieser Wahlkreis rund um Rheinsberg im Landkreis Ostprignitz-Ruppin. Dort wurde sie vor dreißig Jahren schon einmal Herrin eines Schlosses – auch wenn sie das nie so sagen würde. 1990 führte sie das plötzlich leerstehende Gebäudeensemble des Rheinsberger Schlosses nach einem Leben in Weimar, Erfurt, Stralsund, Leipzig und Berlin ins Brandenburgische. Sie baute damals als Gründungsdirektorin die Musikakademie Rheinsberg auf dem Schlossareal auf. Denn von Hause aus ist die 61-Jährige promovierte Musikwissenschaftlerin, hatte in der DDR eine kulturwissenschaftliche Karriere fernab der Politik gemacht. „Ich habe im Osten ein Nischenleben geführt. Ich war in der Musik zuhause.“ Sie hatte Aufgaben an der Akademie der Künste in Berlin und am Gewandhaus in Leipzig, einen Sohn im berühmten Thomaner-Chor. Den politischen Stimmungswandel im Sommer 1989 nahm sie aber deutlich wahr – und wollte sich fortan selbst politisch engagieren. Im Wendeherbst wurde sie noch vor dem Mauerfall Mitglied der neuen Sozialdemokratischen Partei in der DDR, in ihrem Berliner Wohnzimmer wurde der Ortsverein Hohenschönhausen gegründet.
Wenige Monate später wurde sie in die Bezirksverordnetenversammlung von Berlin-Hohenschönhausen gewählt und mit nur 31 Jahren plötzlich auch zur Vorsitzenden dieses Bezirksparlaments. „Ich hatte Parteien von ganz links bis ganz rechts“, erinnert sie sich. Einerseits Mandatsträger der Sozialisten, die noch hinter dem alten DDR-System und selbst dem Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen standen; andererseits waren im gleichen Plenum auch Menschen, die in diesem Gefängnis gelitten hatten. Dazu waren Vertreter der rechtsextremen NPD ins Parlament gewählt worden.
Zuhören und Gelegenheit geben, zu sprechen
In dieser Zeit hat Ulrike Liedtke eine Erfahrung gemacht, die ihr noch drei Jahrzehnte später dabei hilft, ein Parlament zu leiten, das so zersplittert ist wie keines zuvor in der Geschichte des Landes Brandenburg. „Damals habe ich gelernt, dass man zuhören muss und jeder die Gelegenheit bekommen sollte zu sprechen. Jeder. Dann kann man auch einen Beschluss fassen oder sagen, von welcher Meinung man sich abgrenzt.“ Über einen Antrag ohne Debatte abzustimmen – das hält sie für unangemessen. Ihr sehr gutes Ergebnis bei der Wahl zur Präsidentin – 77 von 88 Stimmen in der konstituierenden Sitzung des neuen Landtags am 25. September 2019 – spricht für Ulrike Liedtke und ihre Auffassung des Amtes.
Warum man ihr damals in Berlin-Hohenschönhausen und nun in Potsdam erneut das Amt anvertraute, kann sie selbst gar nicht genau sagen. „Ich habe nicht darum gekämpft, ich bin kein Machtmensch. Aber ich habe mich gefreut“, sagt sie. Als Landtagsabgeordnete hatte sie Hochachtung vor dem Amt. „Jetzt mache ich einfach meine Arbeit.“ Denn die Brandenburger sollen im Landtag kein Theater erleben. Nicht nur die Präsidentin, auch das Publikum des Parlaments erwartet Ergebnisse.
Peter Degener
Aus: Das Brandenbuch. Ein Land in Stichworten. Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung, 3. Auflage, Potsdam 2020
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