Die "Reichsbürger" und das Frühwarnsystem

Anders Breivik, Horst Mahler oder die "Reichsbürger" - politischer Fanatismus hat oft auch mit der Persönlichkeitsstruktur zu tun.

Nach den Schüssen eines „Reichbürgers“ auf Polizisten in Bayern haben Politiker gefordert, diese politische Sekte sollte nicht nur in einigen Bundesländern wie beispielsweise Brandenburg, sondern auch auf Bundesebene vom Verfassungsschutz beobachtet werden.

Doch das Bundesamt für Verfassungsschutz wird nach Informationen des "Kölner Stadt-Anzeigers" die „Reichsbürger“ voraussichtlich nicht überwachen. Wie das Blatt berichtete, wird in Sicherheitskreisen deutschlandweit von einigen Hundert Reichsbürgern ausgegangen. Sie seien nicht ungefährlich, aber auch nicht alle tatsächlich rechtsextremistisch. Zudem seien die Reichsbürger nicht bundesweit vernetzt. Dies seien aber Voraussetzungen für eine Überwachung durch das Bundesamt, so dass es nicht dazu kommen werde. Vielmehr sei es besser, wenn sich die Landesämter für Verfassungsschutz und die Polizei um diese Gruppe kümmerten.

Bundesinnenminister Thomas de Maizière kündigte hingegen eine Neubewertung an. De Maizière sagte der "Rheinischen Post", bislang habe der Verfassungsschutz die "Reichsbürger" als sehr zersplitterte und heterogene Bewegung gesehen. Unabhängig davon, zu welcher abschließenden Entscheidung das Bundesamt für Verfassungsschutz kommen mag, stellen sich die Fragen, warum eine zersplitterte Bewegung kein Beobachtungsgegenstand sein kann – und was eigentlich gewonnen wäre, wenn der Geheimdienst die „Reichsbürger“ auch auf Bundesebene ins Visier nimmt?

Radikale Auslegung des Geschichtsrevisionismus

Kompakt erklärt

Reichsbürger

Die „Reichsbürger“ sind weniger eine feste Organisation, sondern vielmehr ein loses Netzwerk von Akteuren und kleinen Gruppen, die eine besonders radikale Auslegung des Geschichtsrevisionismus vereint. Neben rechtsextremen Ideologiefragmenten, die Basis dieses Weltbilds, finden sich bei vielen „Reichsbürgern“ persönliche Eigenschaften, die mit dieser Einstellung korrespondieren bzw. sie noch verstärken.

Die „Reichsbürger“ seien ein Sammelbecken für Verschwörungstheoretiker, Rechtsextreme, Holocaust-Leugner und Querulanten, sagte der Innenminister von NRW, Ralf Jäger. Sie sollten aber nicht als Verrückte verharmlost werden.

Umgangssprachlich „Verrückte“ oder Rechtsextremisten? Muss das tatsächlich ein Widerspruch sein? Die Erkenntnis, dass es oft Zusammenhänge zwischen politischem Fanatismus und bestimmten Persönlichkeitsstruktur gibt, ist nicht neu. Sie bedingen sich oft und können sich gegenseitig verstärken.

"Verfestigte kriminelle Persönlichkeitsstruktur"

Einer der bekanntesten Akteure, die sich Ideen der „Reichsbürger“ zuordnen lassen, ist Horst Mahler. Der ehemalige RAF-Terrorist, Publizist und Rechtsextremist sitzt derzeit in Brandenburg eine Haftstrafe ab. Das Oberlandesgericht Brandenburg hob Anfang des Jahres die Aussetzung seiner Haftstrafe aus gesundheitlichen Gründen auf.

Damit folgen die Richter der Auffassung der Justizvollzugsanstalt und der Staatsanwaltschaft. Diese hatten sich gegen die vorzeitige Entlassung ausgesprochen und auf eine Haft bis 2018 gedrängt. Weitere Straftaten seien zu erwarten, Mahler weise eine "verfestigte kriminelle Persönlichkeitsstruktur" auf.

Nun werden solche Persönlichkeitsstrukturen nicht einfach angeboren, sondern sind Resultat von den Umständen, in denen die jeweilige Person lebt. Der Historiker Marin Jander betont, Mahlers Leben sei geprägt gewesen von dem Selbstmord seines Vaters, ein überzeugter Nationalsozialist, im Jahr 1949:

An einem Sonntag ging der Vater nach dem Frühstück in den Garten und erschoss sich. Mahler hat diesen Selbstmord seines Vaters öffentlich nur indirekt thematisiert. In seinem Gespräch mit Franz Schönhuber äußerte er z. B.: „Ich hatte immer das Problem mit dieser Geschichte in dieser Familie, die schließlich dieses Verhältnis der Trauer und Gebrochenheit zur Geschichte unseres Volkes hatte. Mein Vater ist daran zugrunde gegangen – und ich liebte und achtete meinen Vater über alles.“

Mahler war also bereits im Geist einer radikalen Ideologie erzogen worden und erlebte dann noch einen entscheidenden Bruch im Leben. Sein Werdegang zunächst in die radikale Linke und danach in die extreme Rechte legt den Schluss nahe, dass die ideologischen Inhalte für bestimmte Charaktere austauschbar sind. Hauptsache radikal. Der Historiker Jander stellt allerdings fest, dass Mahlers Denken stets von völkischen Vorstellungen geprägt und damit anschlussfähig an die extreme Rechte war.

Antisoziale Persönlichkeitsstörung

Politischer Fanatismus hat bei Mahler also viel mit der Persönlichkeitsstruktur zu tun. Dies gilt auch für andere prominente Fälle: So beschrieben Gutachter den norwegischen Rechtsterroristen Anders Breivik als zurechnungsfähigen Menschen, der geistig gesund sei und für die Anschläge von Oslo und Utøya belangt werden könne. Breivik leide allerdings an einer narzisstischen und antisozialen Persönlichkeitsstörung, Symptome einer Psychose gebe es jedoch nicht.

Breivik war vor seinen Terroranschlägen 2011 bereits jahrelang in einem oft als „islamkritisch“ verharmlosten Milieu aktiv, das in Deutschland und Europa ein Vorbote des derzeitigen massiven Rechtsrucks in Gesellschaft, Sprache und Politik war. Auch dieses Milieu, das sich zunächst vor allem rund um Hetz-Blogs im Netz scharte und von der Öffentlichkeit unterschätzt wurde, war kein Thema für den Verfassungsschutz.

Der Geheimdienst arbeitet nämlich nach einer recht formellen Definition von politischen Entwicklungen. Erst wenn feste Gruppen und bundesweite Organisationen mit klarer Ideologie aufgebaut wurden, nimmt der Verfassungsschutz diese ins Visier und verzeichnet die jeweiligen Aktivitäten in jährlichen Berichten für die Öffentlichkeit.

Der eigene Anspruch des Verfassungsschutzes, „im Sinne eines Frühwarnsystems Gefahren für unsere Demokratie“ aufzuzeigen, kann der Geheimdienst daher gar nicht erfüllen (und dafür ist ein Geheimdienst in einer Demokratie auch gar nicht zuständig). Der Dienst kann qua Definition nur den Kern, das feste Zentrum der rechtsextremen Bewegung im Auge haben – und nicht die Kreise darum, die Basisaktivisten, Unterstützer und Sympathisanten. (Siehe dazu auch: Rechtsextremismus als soziale Bewegung)

Entscheidend ist daher die Arbeit von Wissenschaftlern, Journalisten, unabhängigen Initiativen, die rechtsextreme Einstellungen und Entwicklungen nicht erst thematisieren, wenn sie in festen Organisationen oder sogar handfester Gewalt münden, sondern die verschiedenen Akteure und Strömungen der heterogenen rechtsextremen Bewegung im Auge behalten und darüber berichten.

Es reicht nicht, nach dem Staat zu rufen

Der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgård fragte sich, wie es möglich sei, dass Anders Behring Breivik in einem „friedlichen, reichen Land wie Norwegen“ 77 Menschen töten konnte. Ausschlaggebend für ihn war „ein beinahe selbsthypnotisches Motivationsprogramm“ und ein Prozess der „jahrelangen, systematischen Desensibilisierung und Dehumanisierung“, dem sich Breivik unterzogen habe.

Damit künftig ähnliche Taten unmöglich werden, müsse es soziale Sicherheitssysteme geben, die Knausgård weniger mit Jugendämtern, Schulen oder der Polizei identifiziert, sondern mit der „Gegenwart des anderen in uns selbst, [dem] Einfühlungsvermögen für die anderen Menschen.“

Das heißt: Wenn sich jemand in politischen Fanatismus verrennt, sind auch die Leute im persönlichen Umfeld gefragt, um zu verhindern, dass sich die jeweilige Person in dem Irrgarten aus Verschwörungstheorien, simplen Antworten und Parolen verliert. Der Kampf gegen den Hass ist also keine Aufgabe, bei der man einfach nach dem starken Staat rufen kann, er geht jede und jeden an.

Wer sich dabei auf den Verfassungsschutz als „Frühwarnsystem“ verlässt und die Einschätzungen von nicht-staatlichen Experten einfach als Alarmismus abtut, wiederholt Fehler der Vergangenheit. So haben Fachleute seit Jahren vor der Gefahr durch „Reichsbürger“ gewarnt; erst nach dem Tod eines Polizisten nimmt die große Öffentlichkeit diese Warnungen ernst. Einmal mehr zu spät.

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Patrick Gensing ist Blogger, Journalist und Nachrichtenredakteur. Für die Netzinitiative publikative.org – eine Seite, die zunächst als NPD-Watchblog bekannt wurde, wurde er mehrfach ausgezeichnet. Er schreibt zu Fachthemen wie Antisemitismus, Medien, Rechtspopulismus und -extremismus.

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Andersdenkende wie Reichsbürger sind Verrückte, die Gefahr geht von ihnen aus, behaupten Leute, die keine Zusammenhänge kennen (wollen). Mal was anderes: Bürger entwickeln Hass auf unsere Gesellschaftsordnung und deren Repräsentanten, wenn sie durch das Mobbing der Amtsträger merken, dass der gepriesene Rechtsstaat nicht existiert... [von Admin gelöscht. Bitte beachten Sie unsere Kommentarregeln.] Fraglich ist, ob das Grundgesetz überhaupt eine Verfassung ist. Rechtswirksam ist es kaum.
 

Machen wir uns doch nichts vor: Querulanten bleiben Querlunanten. Und Reichsbürger sind wie die sich gegensetig hoch schaukelnden Pegida-Apostel ebenfalls unbelehrbare Querulanten. Bald werden diese Leuchten auf Karl den Großen und sein Frankenreich zurück greifen, wenn das von Adolf oder Wilhelm nicht mehr als ausreichend erscheint.

Die Ansicht, dass bei der erkennbaren Radikalisierung einer Person in erster Linie nicht der Staat, sondern "die Leute des persönlichen Umfeldes gefragt" wären, ist grundsätzlich nicht von der Hand zu weisen. Allerdings widerspricht eine solche Haltung doch sehr der verbreiteten gesellschaftlichen Praxis, die in erster LInie nicht auf den Versuch der Kommunikation mit sich möglicherweise Radikalisierenden, sondern vielmehr bereits im Vorfeld auf Abgrenzung, Ausgrenzung und gesellschaftliche Ächtung setzt - oft auch noch mit recht offenkundigen politischen Präferenzen.

Woher sollen aber dann die Kontakte zu einem nicht radikalen Umfeld überhaupt noch kommen und woher der Widerspruch und die Aufforderung zum Nachdenken, wenn nicht aus Vereinen, Verbänden und natürlich auch von persönlichen Bezugspersonen? Doch Vereine werden dazu aufgefordert, sich von Mitgliedern mit als problematischen Ansichten und Bezügen zu trennen; was inzwischen selbst von Kirchgemeinden übernommen wurde; auch wenn es oft nur darum geht, positive Schlagzeilen in der Presse zu erzeugen oder als PR-Maßnahme im eigenen Sinne. So bleibt in der Regel nur das Umfeld übrig, dass die Radikalisierung eher unterstützt, als sie verhindert. Ob das ein gewünschtes Resultat des Distanzierungswahns ist, kann sich jeder selbst ausrechnen.

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