Die Ursachen und der Nährboden von Extremismus liegen in der Gesellschaft. Darum sollte niemand so tun, als hätte die „Mitte“ nichts damit zu tun.
„Jeder Extremist ist Mist“
Dieser Slogan tauchte in den vergangenen Jahren immer wieder als politische Reaktion auf politisch motivierte Gewalt auf. Nach dieser Auffassung macht es keinen Unterschied, mit welchen übersteigerten Ideen und Ideologien man es zu tun: alle gleich, alle Mist. Für eine sachliche Diskussion sind solche Gleichsetzungen ungeeignet. Als politische Kampfbegriffe eingesetzt, überwältigen sie Menschen, anstatt notwendige Unterscheidungen deutlich zu machen und damit eine kritische Auseinandersetzung zu ermöglichen. Die Vereinfachung komplexer Sachverhalte mit simplen Losungen hilft weder dabei, soziale Probleme zu verstehen, noch sie zu bearbeiten.
Prinzipiell zu unterscheiden ist ein gleichsetzendes Extremismusverständnis von einem Verständnis kritischer sozialwissenschaftlicher Extremismusforschung. Ersteres findet sich in staatlichen und politischen Institutionen sowie in Teilen der ihnen nahestehenden politikwissenschaftlichen Extremismustheorie. Letzteres ist für eine Bildung, die darauf zielt, die eigenständige Urteilsfähigkeit zu stärken besonders wichtig. Dem folgend lassen sich unterschiedliche Extremismen nicht gleichsetzen. Statt dessen sollten die jeweils konkreten und voneinander verschiedenen Formen – wie im Islamismus, in der radikalen Linken und Rechten, von Querdenkerinnen und Querdenkern, Reichsbürgern oder des christlichen Fundamentalismus, gesondert betrachtet werden.
Personen, die als extremistisch gelten, können dem Verständnis staatlicher Institutionen nach vor allem rechts, links, religiös, durch ausländische Interessen motiviert sein oder sich neuerdings auch durch die radikale Ablehnung staatlicher Maßnahmen in der Coronapolitik ausweisen. Dieser Begriff des Extremismus ist in Deutschland vor allem geprägt durch Nachrichtendienste und Polizei. Extremismus ist demnach die Ablehnung oder Bekämpfung der freiheitlich demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes durch extremistische Akteurinnen und Akteure.
Unterschiedliche Qualität der Gefahr
Extremismus ist als solcher kein Straftatbestand, jedoch werden politisch motivierte Gewalttaten in der Regel in der Öffentlichkeitsarbeit als Extremismus bezeichnet. Gesetze zum Beispiel gegen Volksverhetzung beziehen sich in der Regel auf Aspekte des politischen Extremismus. Das sogenannte normative, das heißt das staatliche, Extremismuskonzept bezieht sich dabei in erster Linie auf den Schutz des Staates und wird von dessen Institutionen angewandt und vertreten. Die dahinterstehende Idee der „wehrhaften Demokratie“ zur Verteidigung gegen antidemokratische Bestrebungen geht zurück auf die Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus. Das staatliche Konzept des Extremismus bezieht sich auf politische Bewegungen und Akteure, die in Abgrenzung zur „Mitte“ als extremistische Ränder konstruiert werden.
In weiten Teilen der wissenschaftlichen Forschung und in der politischen Bildung wird dieses Extremismusverständnis jedoch als der gesellschaftlichen Komplexität nicht angemessen betrachtet. Denn es besteht die Gefahr, dass soziale Probleme in der Gesellschaft auf vermeintliche Extremisten auslagert werden. Es bleibt bei der Markierung von Symptomen, anstatt die Ursachen in den Blick zu nehmen. Gleichzeitig übernimmt der Staat die Deutungshoheit darüber, was extremistisch ist und was nicht. Damit greift er in den Wettbewerb politischer Ideen ein. Und: Die unterschiedliche Qualität der Gefahr, die von unterschiedlichen Erscheinungen ausgeht, kann damit leicht verschwimmen. Grundsätzliche Wesensunterschiede zwischen Extremismen werden verwischt: Im Ergebnis werden selbst erbitterte Gegner, wie Neonazis, islamistische Extremisten, autonome Antifaschistinnen, in einen Topf geworfen.
Extremismus erkennen
Oft bekennen sich Personen, die als extremistisch gelten, zumindest formal zur Demokratie und weisen jeden Extremismus weit von sich. Im Alltag ist es daher hilfreich, konkrete Verhaltensweisen und Haltungen zu benennen.
Geht die Gefahr für die Demokratie von den Rändern aus?
Das Extremismuskonzept des Staates ist immer auch ein Herrschaftskonzept. Demnach geht die Gefahr für die Demokratie von politischen Rändern aus, die das System bekämpfen würden, während die politische Mitte zum Maßstab erhoben wird. Das bedeutet aber auch, dass Entwicklungen innerhalb des Systems und Handlungen des Staates generell als demokratisch korrekt erscheinen – immerhin können sie laut Begriff kein Extremismus sein.
Damit werden Menschenrechtsverletzungen durch private oder staatliche Akteure in der Mitte unsichtbar gemacht, beispielsweise in Form von Gewalt gegen Frauen und soziale Minderheiten, rassistische Polizeigewalt oder Diskriminierung durch Behörden. All dies widerspricht den Prinzipien der Verfassung, ist aber bisher kein Gegenstand für Berichte und Beobachtungen der Verfassungsschutzbehörden. Undemokratische Einstellungen, Praktiken und Privilegien, institutioneller Rassismus, strukturelle Gewalt, soziale Ungleichheit, verfassungswidrige Gesetze, Armut und die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen innerhalb und durch das bestehende System werden vernebelt, wenn angenommen wird, dass in der Mitte alles demokratisch korrekt ist.
Deshalb greift das staatsorientierte Extremismusverständnis zu kurz. Denn die Nationalsozialisten kamen durch die Unterstützung breiter Teile der Mittelschicht an die Macht („Extremismus der Mitte“). Die Radikalisierung großer Teile der amerikanischen Bevölkerung unter Donald Trump ging nicht vor allem von einigen extremistischen Gruppen am Rand der Gesellschaft aus, sondern von Menschen, die radikal soziale Ungleichheit befürworten und von populistischen Strömungen in der republikanischen Partei. Die in weiten Teilen rechtsextreme AfD wird vorrangig von denen gewählt, die nicht extremistischen Gruppen oder Subkulturen zugerechnet werden.
Die Wurzeln der Radikalisierung liegen immer auch in der Gesellschaft und ihren Widersprüchen und nicht nur im finsteren Handeln einer in Zahlen berichtbaren Menge von Personen mit extremistischen Einstellungen und Verhaltensmustern.
Radikalisierung erkennen
Radikalisierung ist ein Prozess, der nicht generell schlecht oder gut ist. Aber je radikalisierter ein Milieu, eine Gruppe, eine Gesellschaft oder eine Person ist, desto wahrscheinlicher wird die Anwendung von Gewalt.
Verbindungslinien in die Gesellschaft
Es gilt also zu hinterfragen, wo Verbindungslinien, Andockpunkte und Ursachen extremistischer Radikalisierung in der Gesellschaft und in deren Strukturen liegen. Wo stehen die Menschen im Alltag und wo liegen dort Ursachen? Zentraler Bezugspunkt sollte nicht bloß der Schutz des Staates, sondern auch der Schutz der Menschenrechte und der demokratischen Kultur sein. Damit sind vor allem Werte wie Gleichwertigkeit, Pluralismus, Vielfalt und Solidarität gemeint. An extremistischen Akteuren lässt sich zeigen, wie und welche gesellschaftlichen Konflikte soziale Sprengkraft besitzen und wie diese Konflikte ausgebeutet und radikalisiert werden können.
Beispielsweise nutzt der islamistische Extremismus reale Diskriminierungserfahrungen von Menschen muslimischen Glaubens, um daran die Notwendigkeit eines gewaltsamen Kampfes zur Verteidigung der eigenen Gruppe gegen „die Ungläubigen“ zu behaupten. Demgegenüber sehen sich viele Rechtsextreme in einem Kampf gegen „Islamisierung“. Und linke Gewalt findet häufig im Zusammenhang mit Protesten gegen Rechtsextremismus oder mit sozialen Problemen statt, etwa dem Mangel an bezahlbaren Wohnungen in Großstädten. So können sich unterschiedliche Lager gegenseitig hochschaukeln, haben aber immer auch einen Bezug zu Entwicklungen der gesamten Gesellschaft.
Faktenbox
- Behörden, Wissenschaft, Politik und Medien können ganz unterschiedliche Dinge meinen, wenn von Extremismus die Rede ist.
- Auch Politik und staatliche Institutionen können gegen die Verfassung und gegen die Menschenrechte handeln, aber dies gilt nicht als extremistisch.
- Die Ursachen und der Nährboden von Extremismus liegen in der Gesellschaft. Darum sollte niemand so tun, als hätte die „Mitte“ nichts damit zu tun. Die Grenzen sind fließend.
- Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen: Vor allem rechtsextreme Einstellungen finden sich in allen gesellschaftlichen Milieus und Schichten der Gesellschaft.
Gemeinsamkeiten in den verschiedenen Strömungen
Obwohl die Extremismen sich bisweilen sogar gewalttätig bekämpfen, kann es innerhalb verschiedener Strömungen Gemeinsamkeiten geben. Insbesondere Antisemitismus und die Ablehnung der liberalen Demokratie können Gemeinsamkeiten zwischen ansonsten verfeindeten politischen oder religiösen Lagern darstellen. Soziale Prozesse verlaufen in allen gesellschaftlichen Bereichen nach bestimmten psychologischen und soziologischen Mustern.
Bedürfnisse wie Anerkennung und Gemeinschaft werden in Fußballvereinen und Kirchenchören ebenso erfüllt wie in extremistischen Gruppen. Darum gibt es in unterschiedlichen Milieus auch wiederkehrende Gemeinsamkeiten in politischen Sozialisationsprozessen. Der Weg in den Extremismus ist also weniger von allgemeinen formalen sozialen Prozessen abhängig, sondern vielmehr davon, welche ideologischen Inhalte verfügbar sind – zum Beispiel davon, welche politische Musik im Jugendtreff gehört wird oder was für Einstellungen in der Familie weitergegeben werden. Mit der zunehmenden Digitalisierung von Lebenswelten ist es folgerichtig, dass auch extremistische Radikalisierungsprozesse zunehmend von sozialen Medien beeinflusst werden.
Während sich für die Sicherheitspolitik vor allem die Frage nach extremistischen Gewaltpotenzialen stellt, ist es der Anspruch von Bildung, kritisch zu hinterfragen, wo Ursachen und Verstärker für Demokratie- und Menschenfeindlichkeit in der Gesellschaft, in ihrer Geschichte und ihren Strukturen sowie im alltäglichen Denken und Handeln bei uns allen liegen.
Prof. Dr. Matthias Quent, April 2022. Der Autor ist Professor für Soziologie an der Hochschule Magdeburg-Stendal.
Die extreme Rechte
Rechtsextremismus ist vielschichtig und vielgestaltig. Wofür steht die Ideologie und warum ist Rechtsextremismus eine Gefahr für die Demokratie und das Zusammenleben der Bürger?
Gefahr von links?
Linksextremismus ist ein Oberbegriff für politische Strömungen, die eine klassenlose Gesellschaft anstreben. Die Idee von der absoluten Gleichheit ist dabei ein wesentliches Merkmal, die zur Gefahr für die demokratische Gesellschaft werden kann.
Islamismus-Gefahr für die Demokratie?
Islamistinnen und Islamisten erheben den Anspruch, das einzig richtige Verständnis des Islam zu haben. Das persönliche Recht, sich eine eigene Meinung zu bilden, gibt es nicht. Ihre Ziele versuchen die Anhänger des Islamismus auf verschiedene Weise zu erreichen.
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Kommentare
KommentierenHerzlichen Dank!
Endlich mal ein Beitrag zum Thema, der der Komplexität der Materie gerecht wird! Ich hab oft den Eindruck, dass viele Menschen Extremismus als Ausrede willkommen heißen um politische Gewalt und Hass, der durchaus aus der Mitte der Gesellschaft kommt auf andere, den Extremisten, auszulagern, mit denen sie nichts zu tun haben udn die nicht zu ihnen gehören.
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