Das Wichtigste steht ja bekanntlich immer im Kleingedruckten. „Alle handelnden Personen sind frei erfunden“, heißt es nach 60 Minuten im Abspann. Wie hoch mag der Anteil der Fernsehzuschauer sein, die diesen Hinweis noch mitbekommen? Eigentlich ist es kaum möglich, den Satz zu entziffern, denn die Einblendung dauert nur knappe zwei Sekunden und die Schrift ist so klein gehalten wie der Sehtest beim Augenarzt.
„Mitten im Leben!“, „Verdachtsfälle“, „Familien im Brennpunkt“, „Die Schulermittler“. So lauten die Titel der Doku-Soaps, die bei RTL tagtäglich zwischen 14.00 und 17.30 Uhr gezeigt werden. Es geht um Beziehungskonflikte, Erziehungs- und Schulprobleme, Kriminalgeschichten und nicht zuletzt um den Alltag von Hartz-IV-Empfängern.
„Großen Raum nimmt … der tägliche Kampf um eine bessere finanzielle Zukunft ein: ‚Mitten im Leben!‘ blickt in winzige Wohnungen, in denen zum Teil sogar Großfamilien leben und nach Auswegen aus der Misere suchen. Es zeigt, welche Anstrengungen Menschen auf sich nehmen, um nach vielen Jahren der Arbeitslosigkeit endlich wieder einen Arbeitsvertrag und etwas mehr Geld auf dem Bankkonto zu haben“ (RTL-Homepage).
Gedreht wird nicht im perfekt ausgeleuchteten Studio, sondern in einer Mietwohnung, die scheinbar dem Hauptakteur gehört. Mit einer zuweilen etwas holprigen Kamera wird der Protagonist in seinem (simulierten) Alltag begleitet. Eine Stimme aus dem Off kommentiert das Geschehen. Durch Interview-Clips und Einblendungen wird suggeriert, es handele sich um eine reale Person: „Dana Bohl (22) war seit 11 Jahren nicht mehr beim Zahnarzt“.
Wer nicht genau aufpasst, bekommt unweigerlich den Eindruck, er sehe gerade eine Dokumentation. Doch tatsächlich ist alles inszeniert. Scripted Reality heißt das Format. Es handelt sich um Laienschauspieler, die nach einem Drehbuch agieren. Einen festen Sprechtext gibt es nicht. Die Darsteller sollen improvisieren, weil dies nach Auffassung der Produzenten authentischer wirkt. Dilettantismus ist dabei durchaus erwünscht: „Wer sich vor der Kamera so ungelenk gibt, kann nur echt sein“, beschreibt DIE ZEIT das Prinzip.
Die Doku-Soaps erreichen bei RTL hohe Einschaltquoten. Die Produktionskosten sind niedrig. In einem Interview mit der Berliner Zeitung schätzt der renommierte Dokumentarfilmer Andres Veiel die Kosten einer halbstündigen Doku-Soap auf etwa 30 000 Euro. Ein abendfüllender Dokumentarfilm kostet nach seinen Angaben das Zwanzigfache. Veiel kritisiert die Machart der Serien:
„Es wird gepöbelt, geweint, geschrien und gehauen. Darsteller funktionieren wie Durchlauferhitzer. Das Innerste wird nach außen gekehrt, jede Szene steuert auf einen Ausbruch hin. Es gibt keinen Platz für Zwischentöne. Dieses Format bedeutet die Hinrichtung der Grauzone. Das nenne ich einen Sozialporno.“
DIE ZEIT fragt nach dem Menschenbild, das den Pseudo-Dokus zugrunde liegt:
„Doch welche Botschaft und welche Folgenhaftigkeit steckt in einer Normalität, in der Menschen nur noch Problemfälle darstellen, in der Kommunikation nur noch als Kriegshandlung betrieben wird, in der Aggressivität, körperliche Gewalt, Betrug, Lethargie und Respektlosigkeit als Standards des zwischenmenschlichen Kontakts inszeniert werden?“
Nun könnte man einwenden: Wer von einem kommerziellen Fernsehsender sauber recherchierte Dokumentationen erwartet, dem ist ohnehin nicht zu helfen. Doch leider wird auch innerhalb des öffentlich-rechtlichen Fernsehens über geskriptete Doku-Soaps nachgedacht. Ein internes Papier des NDR, das Ende Oktober vom Verband der Dokumentarfilmer (AG DOK) an die Öffentlichkeit gebracht wurde, trägt den Titel „Scripted Reality – eine Chance für den NDR?“ Autor des Textes ist der NDR-Redakteur Christian Stichler. Zwar distanziert sich Stichler von den Doku-Soaps des Kölner Privatsenders: „Ein Kopieren der Reality-Formate für das öffentlich-rechtliche Fernsehen scheidet aus unserer Sicht aus. Dafür sind Sehgewohnheiten und Erwartungshaltung unserer Zuschauer andere als die des RTL-Publikums.“ Die Distanzierung wirkt allerdings etwas halbherzig, denn der nächste Satz lautet: „Dennoch ist die fiktionale Erzählweise im Doku-Stil ein dramaturgisches Mittel, das in Zukunft an Bedeutung gewinnen könnte, da es spannende Geschichten zu einem relativ kleinen Budget liefert.“
Die AG DOK reagierte auf diese sparpolitischen Erwägungen mit beißender Kritik:
„Bezeichnend ist … der Hinweis auf die niedrigen Produktionskosten dieses pseudo-dokumentarischen Laienspiels. Seriöses dokumentarisches Fernsehen verursacht zwar schon seit Jahren die niedrigsten Produktionskosten aller Programmsparten, die Wirklichkeit ist den gebührenfinanzierten Sendern aber offenbar immer noch zu teuer.
Die AG Dokumentarfilm fordert die Intendanten der ARD daher auf, solchen Plänen eine Absage zu erteilen und sich deutlich zum Erhalt des Dokumentarfilms und der dokumentarischen Formate in den von ihnen verantworteten Programmen zu bekennen. Auch Überlegungen, die Montags-Dokumentation im ARD-Hauptprogramm einer weiteren Talkshow zu opfern, weisen in die falsche Richtung. Der mit der anstehenden Programmstrukturreform im Ersten verbundene ‚overkill‘ an Talk-Formaten führt zur weiteren Verarmung der Programmvielfalt, weil er gründliche Recherche, präzise Umsetzung und dokumentarische Sorgfalt auf dem Altar der Eitelkeiten von Talk-Mastern und ihrer ewig gleichen Gästen opfert. Tägliche Talkrunden können die intensive Beschäftigung eines Dokumentarfilmautors mit wichtigen gesellschaftlichen Themen nicht ersetzen. Auch dann nicht, wenn der Moderator für eine einzige Sendung ein Vielfaches dessen bekommt, was ein Dokumentarfilmer für die monatelange Arbeit an seinem Film erwarten kann.“
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