Lokale Gewalt: Oberhavel und Ostprignitz-Ruppin

Wie sieht rechte Gewalt vor Ort aus? Was bedeutet sie für die Menschen, die dort leben und was bleibt zu tun? Ein Bericht aus den Landkreisen Oberhavel und Ostprignitz-Ruppin.

KZ Sachsenhausen
Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen. Am 26.09.1992 setzten Neonazis die Baracke 38 in der Gedenkstätte des ehemaligen KZ in Brand. Foto: Janos Balazs, CC BY-NC 2.0

Zu Beginn der 1990er Jahren durchrollte eine Welle rechtsextremistischer Gewalt die neuen Bundesländer - die Neonaziszene schien wie entfesselt. Doch bildeten sich auf lokaler Ebene schon in der DDR Strukturen, die nach der Wiedervereinigung zur Basis für ein weitverzweigtes Stützpunktsystem neonazistischer Aktivitäten in den neuen Ländern wurde.

Die Entwicklung in den Landkreisen Oberhavel und Ostprignitz-Ruppin steht dabei stellvertretend für die Erfahrungen zahlreicher Städte, Dörfer und Kommunen in Brandenburg seit 1989/90 und soll daher hier ausführlicher dokumentiert werden. Wie sehen gewalttätige Übergriffe vor Ort aus? Was bedeutet sie für die Menschen, die zu Opfern werden und was für die, die dort leben? Was bleibt zu tun im Umgang mit Rechtsextremismus?



Skinheads und Faschos: Neonazis in der DDR

Eine öffentlich wahrnehmbare Neonaziszene gab es in der DDR seit Anfang der achtziger Jahre. Innerhalb dieser Szene waren zwei Strömungen besonders stark: die rechten Skinheads, die schlagend durch das Land zogen und besonders zum Ende der DDR sehr gut organisiert waren und die sogenannten Faschos, ideologisch gefestigte und konsequent neonazistische Positionen vertretende Neonazis. Beide Szenen waren in der Regel straff organisiert und verfügten über gut funktionierende, DDR-weite Netzwerke. Man kannte sich!

Im damaligen Kreis Oranienburg waren vor allem die rechten Skinheads aktiv. Schwerpunktregionen waren die Städte Hennigsdorf, Velten und Kremmen. In Orten wie Borgsdorf, Birkenwerder, Potsdam, Hennigsdorf, Velten und Lehnitz diente Gewalt als beliebte Einschüchterung von Menschen, die anders aussahen – Punks, Langhaarige, Grufties, vermeintliche Schwule, Vertragsarbeiter. Alle, die durch ihr äußeres  Erscheinungsbild auffielen, liefen Gefahr, in öffentlichen Verkehrsmitteln, bei Dorffesten oder in Diskotheken bedroht oder angegriffen zu werden. Durch ihr martialisches Auftreten schüchterten die Nazi-Skinheads auch „ganz normale“ Menschen ein. Mit ihnen wollte sich niemand anlegen.

Eine der Aufsehen erregendsten rechten Gewalttaten ereignete sich am 1. November 1987 in Velten. Als Klassentreffen getarnt, hatte der sogenannte Gesamtsturm Velten-Oranienburg ein überregionales Nazi-Skin-Treffen für rund 100 Anhänger organisiert. In einer Gaststätte wurden Parolen wie „Sieg Heil“ skandiert und Nazilieder abgesungen. Nach einem Streit mit dem Wirt wurde dieser zusammengeschlagen und anschließend die Einrichtung demoliert. Die gerufene Volkspolizei wurde mit Fußtritten traktiert, ein Polizist entwaffnet und Polizeiautos mit Betonplatten zerstört. Die Täter wurden zu hohen Haftstrafen verurteilt. Erstmals wurde auch Neofaschismus in der DDR von staatlichen Stellen als Problem thematisiert.


Ausbau eines rechtsextremen Stützpunktsystems: Nationalistische Front & Co.

Die Strukturen, die sich in der DDR gebildet hatten, waren nach der Wende die Basis für eine eigene rechtsextreme Organisationsform in den Altkreisen Oranienburg, Gransee und Neuruppin. Oranienburg, Velten, Hennigsdorf, Kremmen und Neuruppin wurden zur Hochburg der Nationalistischen Front und ihrer Nachfolgeorganisationen. Von hier aus wurden im gesamten Land Brandenburg Stützpunkte aufgebaut, Wehrsportlager abgehalten, Sonnenwendfeiern und Kaderschulungen organisiert und eben auch immer wieder Menschen angegriffen und zusammengeschlagen.

Die Kameradschaft Hennigsdorf-Kremmen gab ab 1992 ihre eigene Zeitschrift heraus – den Kremmener Beobachter. Dieser wurde flächendeckend an Haushalte und in Schulen verteilt. In ihm wurde u.a. gegen Flüchtlinge des örtlichen Flüchtlingsheims gehetzt.

Neben diesen straff organisierten Strukturen gab es gewaltbereite rechte Jugendcliquen, die schnell ein wesentlicher Bestandteil der Jugendkultur wurden. Rechts sein war „in“, rechts sein war normal. Man ging gewalttätig gegen vermeintliche Linke, Punks, sozial Randständige, insbesondere Wohnungslose, Soldaten der GUS-Staaten und Migrant*innen vor. Im Schatten der rassistisch-nationalistischen Pogrome in Rostock und Hoyerswerda fand auch im Altkreis Oranienburg eine Welle rechtsextrem motivierter Anschläge statt.

Fast täglich wurden Flüchtlingsunterkünfte attackiert und Migrant*innen verprügelt. Seitens der Behörden wurden diese Angriffe fast nie unterbunden. In Kremmen wurde die dortige Flüchtlingsunterkunft mit Steinen angegriffen, so dass die Bewohner*innen das Heim in Todesangst verließen. Es folgten Brandanschläge u.a. auf die Flüchtlingsunterkünfte in Schildow, Neuholland, Zedenick und das Aussiedlerheim in Gildenhall bei Neuruppin. In diese Zeit ordnet sich auch der Brandanschlag auf die jüdischen Baracken 38 und 39 ein.

Im Kremmener Beobachter wurden die Täter*innen von Rostock-Lichtenhagen  unter der Überschrift „Spätsommer 1992 – oder - Kanake gib Fersengeld“ gefeiert. Sie hätten die „zweite ausländerfreie Stadt“ erkämpft. Die hetzerische Begleitmusik zu derartigen Taten lieferten Neonazibands wie Landser, die im September 1992 ein völlig legales Konzert in einem städtischen Jugendclub Hennigsdorf gaben. Rund 150 Zuhörer tanzten zu Liedern wie „Das Asylheim brennt“, „Schlagt sie tot“ oder „Kanake verrecke“.

Laut BKA stand Brandenburg im Jahre 1992 bundesweit an zweiter Stelle bei rassistischen Gewalttaten. Diese Position hat das Land über viele Jahre behalten. Informationen über die rassistischen Attacken gelangten meist nur in Kurzform an die  Öffentlichkeit. Bemerkenswerterweise bricht die Berichterstattung der „Märkischen Allgemeinen Zeitung“ über rassistische und andere rechte Gewalttaten Ende 1992 abrupt ab. Dies ist vor allem deshalb brisant, weil das massive Problem des gewaltförmigen Rechtsextremismus von Politik und Gesellschaft verdrängt oder durch Nichtwahrnehmung heruntergespielt wurde – mit fatalen Auswirkungen für die Opfer, die sich zu Recht von der Gesellschaft allein gelassen fühlten.

Tatmuster rechter Gewalt: Brandanschläge und „unpolitische“ Überfälle.
Die erste Hälfte der 1990iger Jahre


Prägend für rechte Gewaltübergriffe in der ersten Hälfte der 1990iger Jahren waren zum einen Brandanschläge auf Flüchtlingsheime – laut Verfassungsschutzbericht wurden in Brandenburg 1991 neunzehn verübt - und zum anderen Überfälle, die auf den ersten Blick keinen rechtsextremen Hintergrund hatten. In der Regel wurden Angriffe wurden aus größeren Tätergruppen von mindestens zehn, meist zwanzig bis dreißig Beteiligten, heraus begangen. Auch wenn viele Überfälle weder straff organisiert noch gut geplant waren, erfolgt doch eine gezielte Suche nach geeigneten Opfern. Als Gruppe, bewaffnet mit Baseballschlägern, Messern und Schreckschusspistolen, überfielen sie beinahe jedes Wochenende Gaststätten, Jugendtreffpunkte, Diskotheken, drangen in Privatwohnungen ein. Überfielen öffentliche Orte wie Zeltplätze oder Badeseen. Diese Überfälle wirken auf den ersten Blick völlig unpolitisch. Eine genauere Betrachtung zeigt aber, dass die Opferauswahl sehr häufig gezielt erfolgte und sich an den Feinbildern der Szene orientierte. 

Eine damalige Betroffene berichtete, dass Jugendliche, die etwas anders aussahen, also Langhaarige, Punks, Metaller und Grufties, lieber in die Dorfdiskos gingen, weil die Jugendclubs und Diskotheken in den Städten spätestens ab 1991 von rechten Gruppen dominiert wurden. DJs legten dann völlig verängstigt die mitgebrachte Rechtsrockmusik auf. Beim Pogen, dem Tanzstil der Skinheads, wählten diese sich einzelne Menschen aus, die entweder direkt auf der Tanzfläche oder draußen zusammengeschlagen wurden. Die anderen Gäste verhielten sich absolut passiv, weil jeder Angst hatte, selbst angegriffen zu werden. Die Polizei war fast immer zu spät vor Ort. Dies erzeugte bei den Opfern ein Gefühl des Alleingelassenseins und der Ohnmacht.

In Einzelfällen gelang es jedoch, sich durch Selbsthilfe vor rechten Angriffen zu schützen: Als in Groß Woltersdorf ein Tanzabend in einer örtlichen Kneipe stattfand und die Dorfbewohner vom Schankraum aus dem Treiben der jungen Leute zusahen, fuhr eine Gruppe rechter Skinheads vor. Die Dorfbewohner wollte es sich nicht länger bieten lassen, dass die jungen Leute geschlagen und  die Einrichtung des Lokals demoliert wird. Sie holten ihre Mistforken und vertrieben die Rechten kurzerhand.

Auch in Wittstock und Neuruppin eskalierte die Gewalt spätestens ab 1993. Das in diesem Jahr gegründete linksalternative Jugendwohnprojekt Mittendrin wurde zu ständigen Zielscheibe der rechten Szene – dazu gehören bis heute nächtliche Belagerungen des Hauses, eingeschlagene Fensterscheiben, Angriffe mit Schusswaffen und körperliche Attacken auf Einzelpersonen. 1992 wurden allein in Wittstock fünf Mal Wohnungen von Mitgliedern von Antifa-Gruppen überfallen. Einige Angegriffene wurden derart schwer verletzt, dass sie mehrere Tage im Krankenhaus verbringen mussten. Manchmal warnte die Polizei die Betroffenen sogar vor solchen Angriffen, verbunden mit dem Eingeständnis, dass man keinen Schutz bieten könne. Der Generalstaatsanwalt von Brandenburg Erardo Rautenberg merkt zu dieser Zeit an, dass eine effektive Strafverfolgung und eine zügige Aburteilung der rechtsextremen Straftäter nicht stattgefunden hat.

Die aktuelle Berichterstattung in den Medien scheint die Einschätzung aus den 1990iger Jahren zu bestätigen. Schaut man sich zum Beispiel die Situation in Hoyerswerda an, dann kapituliert die Polizei dort offenbar häufig vor den Neonazis.


Neue Zielgruppen, gleiches Muster: Anstieg rassistischer Gewalttaten.
Die zweite Hälfte der 1990iger Jahre


Ab 1996/1997 war in der rechten Szene ein starker Anstieg rassistischer Gewalttaten zu beobachten. Die brandenburgische Landesregierung sprach von einer „unabsehbaren Problemspitze“. Rassistische Einstellungen würden als normal empfunden und offen geäußert werden.

Fast kein Tag vergeht, ohne dass es zu Überfällen auf Ausländer kommt.“
Almut Berger, ehemalige Ausländerbeauftragte des Landes Brandenburg, 1997.

Im Vergleich zur ersten Hälfte der 1990er Jahre richteten sich die Attacken vor allem gegen Menschen, die als „fremd“ konstruiert oder als politische Feinde ausgemacht wurden. Betroffen waren insbesondere Arbeitnehmer aus der EU, Westdeutsche oder Berliner Schulklassen mit Kindern mit Migrationshintergrund und Menschen, die für Jüdinnen oder Juden gehalten wurden, aber auch gegen vermeintliche Linke, kirchliche Jugendgruppen und gegen Rechts engagierte Einzelpersonen.

Im Sommer 1998 überfielen rechte Gewalttäter in Rheinsberg mehrmals schwarze Schüler aus Berlin – sie wurden rassistisch angepöbelt und geschlagen. Der städtische Kulturdezernent und Leiter der Kurt-Tucholsky-Gedenkstätte Dr. Böhling wurde zusammengeschlagen und schwer verletzt. Der Haupttäter wurde im Schnellverfahren zu vier Wochen Dauerarrest verurteilt.

Beispielhaft für die Angriffe auf EU-Arbeitnehmer ist an die Angriffe auf Noël Martin und Oratio Gamblanco zu erinnern, auch wenn diese nicht in den Landkreisen Oberhavel und Ostprignitz-Ruppin stattfanden. Die brutalen und zielgerichteten Attacken wurden fast immer als „Auseinandersetzungen zwischen Ausländern und Deutschen“ abgetan und unter dem Stichwort Ausländerfeindlichkeit diskutiert. Dies suggerierte unter anderem eine Art gleichberechtigte Tatbeteiligung. Das war nie der Fall, denn die Täter waren in der Regel schon zahlenmäßig überlegen.

Der gängige offizielle Erklärungsansatz für die oft schweren Gewalttaten lautete: Frustrierte, arbeitslose Jugendliche, die sich im eigenen Land als Bürger zweiter Klasse fühlen. Eine solch verkürzte Argumentation geht jedoch an der Realität vorbei. Schließlich waren die Täter von Mahlow und Trebbin alle in Lohn und Brot. Das es sich ganz eindeutig um rassistische Gewalttaten handelte, belegt die Tatsache, dass durchweg Menschen mit einer dunkleren Hautfarbe angriffen wurden und gerade nicht weiße schwedische Ärzte oder französische Manager.

Rechte Gewalt im Alltag: Gewöhnungseffekte seit der Jahrtausendwende

Seit ihrer Gründung 1998 hat der Verein Opferperspektive in den Landkreisen Oberhavel und Ostprignitz-Ruppin über 200 rechte Gewalttaten mit mehreren hundert Betroffenen registriert. Nicht alle wurden angezeigt, da die Betroffenen Angst vor Rache der rechten Schläger hatten oder kein Vertrauen in die Polizei setzten. Einige Überfälle wurden von der Öffentlichkeit mit Interesse verfolgt, wie der Brandanschlag auf ein türkisches Bistro 2003 in Hennigsdorf. Der ehemalige Vorsitzende der Kameradschaft Oberhavel Karsten Giese hatte einen Molotowcocktail auf das noch geöffnete Bistro geworfen und dabei seinen Hass auf Türken lauthals verkündet:

Eine Stadt deckt einen Mörder
Viele standen dabei, als Kajrat zu Tode geprügelt wurde - aber keiner will etwas gesehen haben (Berliner Zeitung vom 3. März 2003)

Ich hasse Türken. Ich werde euch das zeigen. Ich werde euch töten.“

Oder der Überfall von Neonazis 2001 auf die Wohnung eines Jugendlichen in Wittstock. Die Täter vermuteten seinen schwarzen Freund in der Wohnung. Der 18-jährige Manuel kletterte vom Balkon, rutschte ab und stürzte drei Stockwerke in die Tiefe. Verletzt konnte er sich in einem Feld verstecken und stand dort Todesängste aus. Derweil wurde sein Kumpel als „Negerfreund“ in seiner Wohnung von den Angreifern zusammengeschlagen. Ein Jahr später eskalierte die Gewalt gegen Ausländer in Wittstock. Schrecklicher Höhepunkt war der Mord an Kairat Batesov im Mai 2002.

Die meisten rechten Gewalttaten sind jedoch nie öffentlich geworden. Scheinbar hat sich eine Art Gewöhnungseffekt eingestellt. Rechte Angriffe wirken auf potenziell Betroffene aber vor allem dann demütigend und bedrohlich, wenn sie keine Empörung hervorrufen, wenn sich Meinungsführer oder andere Bürgerinnen und Bürger in den Kommunen nicht eindeutig auf die Seite der Opfer stellen.

Brandenburg 2012: spontane Überfälle und gezielte Opferauswahl

Anschläge auf migrantische Imbisse gehören auch heute noch ebenso zur Brandenburger Realität wie gewaltförmige Attacken auf linke und alternative Jugendliche. Schwarze werden weiterhin mit Autos durch die Stadt gejagt, linksalternative Jugendliche als „Zecken“ oder „linke Schweine“ beschimpft, mit Pfefferspray handlungsunfähig gemacht, um sie anschließend zu verprügeln.

Gezielte Opferauswahl: Nach dem Aufmarsch von Neonazis in Neuruppin am 1. Mai 2012 fuhr ein Teil der frustrierten und aggressiven Demonstrationsteilnehmer aus dem Spektrum der Freien Nationalisten und der NPD nach dem Abbruch der Demonstration nach Neuruppin und griff das alternative Jugendwohnprojekt Mittendrin mit Steinen bewaffnet an.

Die Tatmuster hingegen haben sich gegenüber dem ersten Jahrzehnt der jüngeren Brandenburger Geschichte gewandelt. Viele Angriffe können als 'Vorsatz bei Gelegenheit' bezeichnet werden. Sie erfolgen spontan von ein bis zwei Personen unter Alkoholeinfluss.

Auslöser für die Gewalttat ist kein interpersoneller Konflikt zwischen Täter und Opfer. Sie kennen sich nicht, begegnen sich eher zufällig im öffentlichen Raum wie z.B. in Parks, am Bahnhof oder vor einer Kneipe. Dabei sind die Opfer den AngreiferInnen meist nicht nur zahlenmäßig unterlegen. Verbale herabwürdigende Attacken gehen häufig voraus. Jede Reaktion der Betroffenen wird als Provokation gewertet und dient als Rechtfertigung bzw. Anlass für den folgenden physischen Angriff.

Strategisch geplante Gewalttaten werden hingegen meist von organisierten Tätern begangen und richten sich vor allem gegen politische Gegner wie Antifas, Linke, PolitikerInnen und gegen Rechtsextremismus Engagierte. Die Opferauswahl erfolgt gezielt nach Kriterien der Ungleichwertigkeit und nach ideologischen Kriterien der extremen Rechten. Die Angriffe erfolgen zwar in wellenförmigen Abschwächungen, aber trotzdem kontinuierlich.

Den Opfern ein Gesicht geben: Die Anerkennung von Todesopfern rechter Gewalt als Zeichen des Respekts und kritischer Aufarbeitung

Opfer rechter Gewalt seit 1990


Die Wanderausstellung ruft diese Menschen in Erinnerung.

Selbst die tödliche Dimension rechter Gewalt wird bis heute nicht angemessen wahrgenommen. Auch in Brandenburg. Zu den Opfern gehören sozial an den Rand Gedrängte wie Wohnungslose, Punks, Flüchtlinge, aber auch Menschen, die es wagten, den Rechten zu widersprechen. Die Brutalität der Taten ist unfassbar! Sie sind geprägt von tiefem Hass auf alles, was anders ist, was nicht in das Weltbild der Rechten passt, auf Menschen die als „unnütz“ und  „unwert“ eingestuft werden.

Nach umfangreichen Recherchen von engagierten Einzelpersonen, Journalistinnen und Journalisten, Opferberatungsstellen und anderen Gruppen, starben seit 3. Oktober 1990 allein in Brandenburg mindestens 27 Menschen durch Gewaltexzesse von Neonazis und rechten Skinheads. Das ist die schockierende Spitzenposition in der bundesdeutschen Statistik.

In Oberhavel und Ostprignitz-Ruppin gibt es mindestens vier Tote zu beklagen.
Es sind:

  • Emil Wendland, 50 Jahre, obdachlos: Er wurde am 01. Juli 1992 von drei rechten Jugendlichen, die sich zum „Penner klatschen“ verabredet hatten, im Rosengarten von Neuruppin zusammengeschlagen und anschließend erstochen.
     
  • Hans-Jochen Lommatsch, 51 Jahre, Baumaschinist: Er wollte am 18. Dezember 1992 in Oranienburg nach seinem neuen Auto sehen, als er von zwei rechten Skinheads scheinbar „grundlos“ angegriffen wurde. Die Täter bezichtigten ihn, ein „Autoknacker“ zu sein und legitimierten so ihren Gewaltausbrauch. Einer der Angreifer tötete Lommatsch durch Tritte und Faustschläge.
     
  • Gunter Marx, 42 Jahre: Am 06. August 1994 wurde er in Velten von vier rechten Skinheads, die ihn ausrauben wollten, vom Fahrrad getreten. Als er ihnen sagte, dass er kein Geld bei sich habe, wurde er von einem der Angreifer mit einem schweren Schraubenschlüssel erschlagen. Bei einer Hausdurchsuchung fand die Polizei beim Haupttäter einen Baseballschläger mit eingeritztem Hakenkreuz und der Aufschrift „Sieg Heil“. Er war bereits wegen rassistischer Gewalttaten bekannt.
     
  • Kajarat Batesov, 24 Jahre: Am 04. Mai 2002 wurde der Aussiedler zusammen mit einem Freund in Wittstock von mehreren jungen Männern getreten und verprügelt. Anschließend wurde ihm ein 18 Kilogramm schwerer Feldstein auf die Brust geworfen. Am 23. Mai 2002 erlag er seinen schweren Verletzungen.

Die Landesregierung erkennt kein einziges dieser Tötungsverbrechen als politisch rechts motivierte Tat an. Sie kommt, im Gegensatz zu den zivilgesellschaftlichen Chroniken, zu einem ganz anderen Ergebnis. Nur neun der Ermordeten finden bisher in der offiziellen Polizeistatistik für politisch motivierte Kriminalität. Angesichts der evidenten Differenz eine beschämende Bilanz. Zu fragen ist: Warum tun sich Politik und Gesellschaft so schwer mit diesem dunklen Kapitel der jüngeren Brandenburger Geschichte? Warum wurde bei so vielen Tötungsverbrechen der politische Hintergrund der Taten völlig unzureichend beleuchtet?

Die meisten dieser Taten wurden in der ersten Hälfte der 1990er Jahre verübt. Also genau in der Zeit, als in vielen Regionen schwere Versäumnisse bei Polizei und Justiz gang und gäbe waren. Glücklicherweise ist dies inzwischen unbestritten. Vor allem auf den unteren Ebenen der Polizei gab es gravierende Schwierigkeiten, rechtsextrem motivierte Taten von anderen Gewalttaten zu unterscheiden. Gerichte blendeten mögliche politische Hintergründe aus.

Es gab beachtliche Hinweise auf die Verbreitung fremden- bzw. minderheitenfeindlicher Einstellungen.“ und „'Opportunitätsüberlegungen' bei den aufnehmenden Beamten, mit dem Bestreben das eigene Bundesland bzw. den Dienstbezirk ja nicht wegen rechtsextremer Straftaten 'in Verruf geraten' zu lassen.“
Bernhard Falk, ehemaliger Vizepräsident des Bundeskriminalamtes

Dabei könnte Brandenburg in dieser Frage Vorbildfunktion für andere Bundesländer einnehmen. Genau wie mit der Verabschiedung des bundesweit ersten Landesprogramms gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit. Sachsen und Sachsen-Anhalt sind uns in diesem Punkt jedoch voraus. Nach Bekanntwerden der NSU-Mordserie wurden in den beiden Bundesländern alle fraglichen Altfälle einer Neubewertung unterzogen und in Sachsen zwei sowie in Sachsen-Anhalt drei Tötungsdelikte nachträglich als politisch rechts motivierte Straftaten bewertet.

In allen Fällen hatten Freunde, Angehörige, engagierte JournalistInnen und Menschenrechtsorganisationen seit Jahren auf die rechte Dimension der Taten hingewiesen. Hier wird deutlich, dass der hauptsächliche Fehler nicht im polizeilichen Erfassungssystem, sondern in der Anwendung und Bewertung der Tötungsverbrechen liegt.

Den Opfern ein Gesicht zu geben, anzuerkennen, dass sie einem rechts motiviertem Gewaltverbrechen zum Opfer fielen, ist nicht nur eine Frage des Respekts für jeden einzelnen Menschen, sondern auch eine Frage der Bereitschaft, die Fehler der 1990iger Jahre endlich aufzuarbeiten.


Judith Porath und Marcus Reinert, Opferperspektive e.V.

Überarbeitete und leicht gekürzte Fassung eines Vortrages auf der Tagung „Rechtsextremismus in Brandenburg – Rückblicke, Bestandsaufnahme und Perspektiven“ am 12. und 13. Oktober 2012 in Sachsenhausen.

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Kommentare

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Vielen Dank für diesen Beitrag! Formal sehr gut zu lesen, inhaltlich schwer zu ertragen... Manchmal hätte ich mir noch einen Hinweis auf weiterführende Literatur oder auch Quellen gewünscht (ein paar Zeitungsartikel habt ihr ja verlinkt! Danke dafür!). Beim ersten Teil schwirrte mir auch ein wenig der Kopf vor lauter ähnlichen und irgendwie doch unterschiedlichen Begriffen (Fascho, rechter Skinhead, Neonazi - was sind da eigentlich die Unterschiede...) Und noch diese Randnotiz: Ich fänd es ganz gut, wenn Autor und Autorin in Zukunft auf den Begriff "Wende" verzichten könnten (ist mir zu soft für die crassen Umbrüche 1989, zu sehr mit Krenz verbunden und wertet die Leistungen all Jener, die die Mauer zu Fall brachten, zu sehr ab)...

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