Je radikalisierter ein Milieu, eine Gruppe, eine Gesellschaft oder eine Person ist, desto wahrscheinlicher wird die Anwendung von Gewalt, sagt Extremismusexperte Prof. Dr. Matthias Quent. Wir geben Linktipps, wohin sich Betroffene wenden können.
Radikalisierung ist ein sozialer Prozess. In diesem Prozess steigern sich Überzeugungen für oder gegen eine Sache immer stärker bis hinein in ein ideologisches Denken, welches – zum Beispiel nach der politischen Theoretikerin Hannah Arendt – als extremistisch gelten kann. Damit geht eine zunehmende Isolation gegenüber anderen Einflüssen einher. Im ideologischen Denken werden vermeintlich zwingende Schlussfolgerungen bis zur Zustimmung oder Anwendung von Gewalt gesteigert. Informationen, Erfahrungen oder Meinungen, die eigenen Grundannahmen widersprechen, werden allumfassend abgelehnt.
Dabei ist der Prozess der Radikalisierung als solcher inhaltlich ungerichtet, das heißt, er steht für alle Anlässe, Ideen, Überzeugungen, Ideologien oder Gefühle offen. Im politischen Spektrum bedeutet das: Es ist zum Beispiel möglich, sich für Demokratie und Gleichberechtigung zu radikalisieren, für die Abschaffung des Kapitalismus, für die Abschaffung der Demokratie oder für rassistische Unterdrückung, für die eigene Freiheit ohne Verantwortung für andere oder für vollständige staatliche Kontrolle ohne individuelle Freiheit.
Viele Prozesse emotionaler Steigerung und mentaler Verarbeitung von Informationen sind für die Gesellschaft relativ harmlos, zum Beispiel wenn jemand extremen Sport betreibt und dabei mögliche Gesundheitsrisiken ignoriert. Der Geisteszustand von Spielsüchtigen oder Workaholics kann dem eines politischen oder religiösen Fanatikers ähneln, ist aber auf einen anderen Lebensbereich bezogen und umfasst keine Erlösungsfantasien für ein gesamtes Kollektiv (beispielsweise Volk, religiöse Gruppe, soziale Klasse, die ‚Erwachten‘ und ähnliches).
Radikalisierung kann einzelne Individuen betreffen, Gruppen, Milieus oder ganze Gesellschaften. Radikalisierung ist ein unspezifischer Prozess, der nicht generell schlecht oder gut ist. Radikalisierung muss nicht zu physischer Gewalt oder gar Terrorismus führen, aber je radikalisierter ein Milieu, eine Gruppe, eine Gesellschaft oder eine Person ist, desto wahrscheinlicher wird die Anwendung von Gewalt.
Niemand radikalisiert sich allein
Niemand radikalisiert sich allein. Als sozialer Prozess wird Radikalisierung vom Zusammenwirken verschiedener Faktoren beeinflusst: von persönlichen Erfahrungen, Prägungen und der individuellen Situation sowie durch Bezugsgruppen und -medien, durch Netzwerke, Organisationen und Gemeinschaften und nicht zuletzt durch gesellschaftliche Debatten, Entwicklungen und Zwänge.
Nicht selten sind Menschen, die religiös oder politisch motivierte Gewalttaten begehen, schon in gewisser Weise radikalisiert und gewaltbereit, bevor sie eine Ideologie finden. Diese Ideologie bietet einen Weg, Probleme psychologisch auf andere zu übertragen und Aggressionen einen höheren Sinn zu geben. Das heißt, abweichendes Verhalten, wie beispielsweise gelernte Gewalttätigkeit, wird politisch oder religiös aufgeladen.
"Am radikalsten denken die Entwurzelten."
(Heimito Nollé (*1970), Medienanalyst)
Demgegenüber stehen Radikalisierungsverläufe, in denen Personen oder Gruppen sich erst zu einem politischen oder religiösen Zweck radikalisieren und für dieses Ziel Gewalt anwenden. Oft geht es bei der Rechtfertigung von Radikalisierungsprozessen darum, eine behauptete Gefahr für die Eigengruppe durch eine andere Gruppe (historisch beispielsweise durch sogenannte Hexen, Ungläubige, durch Muslime und Muslimas, durch Jüdinnen und Juden, durch Kapitalisten und so weiter) abzuwehren.
Dabei beziehen sich verschiedene radikalisierte Milieus aufeinander und können sich in der Interaktion miteinander noch weiter radikalisieren. Es können Eskalationsspiralen entstehen, die Polarisierung und Konfrontationsgewalt begünstigen.
Dieses extremismusbezogene Verständnis über den Prozess der Radikalisierung hat jedoch nichts mit dem ursprünglichen Wortsinn von Radikalität zu tun. Denn eigentlich heißt radikal zu sein, den Dingen an die Wurzel (radix) zu gehen.
Faktenbox
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Radikalisierung ist ein sozialer Prozess der Steigerung von Emotionen und/oder Überzeugungen für oder gegen eine Sache oder gegen eine oder mehrere Gruppen von Menschen.
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Einzelne Personen können sich ebenso radikalisieren wie Gruppen, Gemeinschaften oder ganze Gesellschaften.
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Politische und religiöse Radikalisierung muss nicht zu Gewalt führen, macht sie aber wahrscheinlicher.
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Als sozialer Prozess wird Radikalisierung von verschiedenen Einflüssen geprägt – niemand radikalisiert sich allein.
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Radikalisierung kann daran zu erkennen sein, dass Erfahrungen oder Fakten, die von der eigenen Meinung abweichen, generell nicht anerkannt werden.
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Echte Radikalität ist es, den Dingen an die Wurzel (radix) zu gehen und dabei die Möglichkeit des eigenen Irrtums anzuerkennen. Radikalisierung in den Extremismus bedeutet dagegen, sich gegen Argumente, Erfahrungen, Fakten und Widersprüche abzuschotten.
Der Philosophin und Extremismusforscherin Hannah Arendt folgend ist echte Radikalität das Gegenteil von ideologischem bzw. extremistischem Denken. Denn radikales Denken, das den Dingen tatsächlich an ihre Wurzeln gehen will, muss immer die Möglichkeit des Irrtums einschließen. Extremistisches Denken dagegen steigert die eigenen Überzeugungen bis zum Äußersten – bis zur Vernichtung von Menschen.
Prof. Dr. Matthias Quent, April 2022. Der Autor ist Professor für Soziologie an der Hochschule Magdeburg-Stendal.
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