Niemand wird als „Extremist“ oder als religiöse Fanatikerin geboren. Das Erlernen von Demokratie beginnt jedoch schon im Kindesalter – dort kann es bereits scheitern. Mehr denn je spielen vor allem für junge Menschen heute soziale Medien eine entscheidende Rolle bei der Politisierung.
Niemand wird als „Extremist“ oder auch nur als „rechts“, „links“ oder als religiöse Fanatikerin geboren. Politische und religiöse Prägungen und Orientierungen werden in Prozessen der Sozialisation gelernt: zunächst in der Familie, dann im Austausch mit Gleichaltrigen und in Institutionen wie der Schule sowie durch kulturelle Einflüsse.
Dabei spielen nicht nur offensichtliche Einflüsse wie Parteineigungen, explizite politische Äußerungen oder gesellschaftliches Engagement von Bezugspersonen eine Rolle. Bedeutsam sind auch hintergründige Prägungen – etwa die Frage, welche Zeitungen und Bücher zu Hause gelesen werden, die Intensität von Autorität und Vertrauen, die wahrgenommene Normalität gesellschaftlicher Vielfalt und vor allem die Bedeutung von Geschlechterrollen.
Das Erlernen von Demokratie beginnt schon im Kindesalter – dort kann es bereits scheitern. Konflikthafte Biografien und eigene Gewalterfahrungen können später dazu beitragen, dass Menschen eher dazu tendieren, Gewalt zur Lösung von Konflikten anzuwenden. Mehr denn je spielen vor allem für junge Menschen heute soziale Medien eine entscheidende Rolle bei der Politisierung.
Einstellungen führen nicht automatisch zu Handlungen
Politische Einstellungen und Orientierungen verändern sich relativ langsam. Zugleich sind Einstellungen bei den allermeisten Menschen nicht eindeutig und zusammenhängend, sondern ambivalent und widersprüchlich. Einstellungen führen nicht automatisch zu Handlungsweisen und nicht alle politischen Handlungen sind durch die entsprechenden Grundhaltungen einer Person gedeckt. Darum führen beispielsweise linke Orientierungen nicht automatisch dazu, auch linke Parteien zu wählen; zu vielfältig sind die Gründe für oder gegen bestimmte Handlungsweisen.
Ausschlaggebend sind häufig die entsprechenden politischen Gelegenheitsstrukturen. Wenn zum Beispiel eine Person A eigentlich links denkt, aber einen besonders guten Eindruck von einer konservativen Politikerin aus der Region hat, ist die Chance hoch, dass die Person A die konservative Kandidatin wählen wird.
Über viele Jahre hinweg haben wissenschaftliche Einstellungsstudien einen relativ hohen Anteil rechtsextremer Einstellungen in der bundesdeutschen Bevölkerung gemessen, ohne dass sich dies in vergleichbarem Ausmaß bei Wahlen in den Stimmenanteilen für eine rechtsextreme Partei geäußert hätte. Personen, die rechtsextrem eingestellt sind, haben oft gleichzeitig auch andere politische Einstellungen oder halten sich selbst für die „Mitte“ oder gar für links. Dementsprechend haben sie gewählt oder ihre Stimme bei Wahlen gar nicht abgegeben.
Die extreme Rechte umfasst diverse Szenen mit unterschiedlichen ideologischen und lebensweltlichen Schwerpunkten. Verbindend sind gemeinsame ideologische Glaubenssätze.
Viele Rechtsextreme wählen AfD
Mit der Entstehung der AfD und der großen gesellschaftlichen Bedeutung von Einwanderung und Flucht vor allem in den Jahren 2015 und 2016 hat sich dies etwas verändert. Studien zeigen, dass sich in der Wählerschaft der AfD besonders viele Rechtsextreme finden. Allerdings ist der Gesamtanteil von Rechtsextremen in der Bevölkerung im Zeitverlauf nicht angestiegen. Mehr Menschen handeln jetzt so, wie sie insgeheim schon gedacht haben, bevor es die Partei überhaupt gab. Auch andersrum gilt natürlich: Ein statistisch großer Teil, aber nicht jeder Wähler der AfD hat ein geschlossen rechtsextremes Weltbild.
Rechtsextremismus geht häufig einher mit autoritären Prägungen, mit der Enttäuschung von Erwartungen und der subjektiven Wahrnehmung, im Vergleich zu anderen benachteiligt zu werden. Rechte Radikalisierung betrifft in der Regel gesellschaftliche Gruppen, die kulturell vorherrschend waren und sind, die aber durch gesellschaftliche Entwicklungen um die Aufrechterhaltung ihrer Privilegien fürchten. Beispielsweise radikalisieren sich rechte Männer unter anderem, weil sie ihre immer noch privilegierte gesellschaftliche Stellung durch Erfolge bei der Gleichberechtigung bedroht sehen.
Erfolgs- und Nutzenaussichten von Gewalt
Für alle politischen und religiösen Richtungen gilt in Friedenszeiten, dass nur ein relativ kleiner Teil derjenigen, die bestimmte radikalisierte Überzeugungen teilen, auch gewalttätig wird. Gewaltförmige Radikalisierung ist von einer Vielzahl von Einflüssen abhängig. Dazu zählt etwa die soziale Einbindung beziehungsweise der Grad der Isolation von der Gesellschaft – ebenso Aspekte wie der Zugang zu Waffen und Kosten-Nutzen-Kalkulationen.
Darin wird abgewogen, wie hoch die Erfolgs- und Nutzenaussichten von Gewaltstrategien im Vergleich zu den erwarteten Folgen sind. Welche Mittel radikalisierte Menschen wählen, um ihre Ziele zu erreichen, ist also nicht nur eine Frage des dahinterstehenden Menschen- und Gesellschaftsbildes, sondern auch von eigennützigen Abwägungen. Und nicht zuletzt vom Kalkül, ob zum Beispiel Strategien in der Demokratie oder gegen die Demokratie erfolgversprechender erscheinen.
Beispielsweise erreichte die Polarisierung und Radikalisierung der amerikanischen Gesellschaft unter Donald Trump ein Ausmaß, unter dem es für den rechten Präsidenten und sein Netzwerk erfolgversprechend war, das demokratische Wahlsystem als solches infrage zu stellen und seine Anhängerschaft dazu zu mobilisieren, das Wahlergebnis nicht anzuerkennen und mit dem Sturm auf das amerikanische Kapitol die Machtübergabe zu verhindern.
Der offene Ausbruch von Gewalt durch Bewegungen der extremen Rechten ruft durch den Staat und Gesellschaft repressive Sanktionen hervor. Damit es gar nicht erst dazu kommt, muss Gleichwertigkeit gesamtgesellschaftlich praktiziert und gelernt werden.
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Politische Orientierungen werden sozial gelernt, das heißt sozialisiert. Dabei wirken eine Vielzahl von Faktoren und Einflüssen schon ab dem Kleinkindalter.
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Es gibt nicht den einen Pfad zu extremistischen Orientierungen. Mehr denn je spielen dafür heute soziale Medien eine wichtige Rolle.
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Politische Einstellungen sind meist ambivalent, das heißt, auch die meisten Rechtsextremen sind nicht nur Rechtsextreme, sondern teilen abweichende Vorstellungen und handeln nicht immer so, wie es ihre Überzeugungen nahelegen.
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Nur ein kleiner Teil der ideologisch Radikalisierten wird gewalttätig.
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Die Entscheidung für oder gegen politische beziehungsweise religiöse Gewalt ist unter anderem von Kosten-Nutzen-Einschätzungen abhängig.
Parteien sind für die Demokratie in Deutschland elementar und verfügen daher über Privilegien. Das führt zum Paradox, dass die Demokratie auch mit legalen Mitteln des demokratischen Parteienwettbewerbs beschädigt werden kann.
Radikalisierung erkennen
Prof. Matthias Quent erklärt das Gewaltpotential von Radikalisierungsprozessen. Wir geben Linktipps zu Unterstützungsangeboten für Betroffene.
Prof. Dr. Matthias Quent, April 2022. Der Autor ist Professor für Soziologie an der Hochschule Magdeburg-Stendal.
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