Leidenschaft - das klingt nach Lachen und Weinen, nach Emotionen. Wer denkt dabei aber an politische Bildung? Anselm Sellen tut es und fordert mehr Leidenschaft von allen: Lernenden und Lehrenden. So könnte es gelingen, den Spaß am Mitgestalten der Gesellschaft zu wecken.
Anselm Sellen ist selbst in der politischen Bildung aktiv. In diesem Beitrag macht er sich Gedanken über den Zustand der Bildungsarbeit in Deutschland. Ist politische Bildung in Zeiten des digitalen Wandels von zu viel Starrheit und dem Beharren auf traditionellen Themen und Methoden geprägt? Der Autor fordert mehr Leidenschaft - von den Teilnehmenden, aber auch von den politischen Bildnern. Und er lädt zum Mitdiskutieren ein.
Ausgangslage
Ein stets wiederkehrendes Phänomen in der politischen Bildung: Im Seminarraum sitzen (junge) Menschen, die angesichts der inhaltlichen Ausrichtung der Veranstaltung nicht unbedingt euphorisch wirken. Seminarleiter stimmen häufig das Klagelied auf ausbleibende Begeisterung und Leidenschaft unter Teilnehmenden an. Häufig mündet diese Klage in der Erkenntnis, dass das Thema „ja auch wirklich schwierig und sperrig ist“. Ist diese Rechtfertigung wirklich angebracht oder machen wir es uns damit zu einfach?
Ist die Feststellung, dass auch die Politik selbst massiv zu Politik- und Politikerverdrossenheit beiträgt, ein (mehr oder weniger unbewusster) Versuch, sich aus der pädagogischen und didaktischen Verantwortung zu stehlen? Sollten wir uns nicht vielmehr die Frage stellen, wie Motivation und Leidenschaft für politische Themen generiert werden können? Die folgenden Gedanken und Fragestellungen sind alles andere als neu. Sie müssen jedoch im Lichte des digitalen Wandels erneut bearbeitet werden, um aktuelle Antworten auf die Frage zu bekommen: „Wie kann politische Bildung nicht nur Wissen vermitteln, sondern Leidenschaft für politische und damit auch für kulturelle und soziale Teilhabe entfachen?“. Die Frage nach der Leidenschaft betrifft sowohl Lernende als auch Lehrende.
(Alt-) Lasten politischer Bildung
Die politische Bildung erfindet ihre Themen nicht grundlegend neu. Wir haben es grundsätzlich mit immer wiederkehrenden Inhalten zu tun, die zwar durch aktuelle Krisen und Situation an Gewicht und Brisanz zunehmen, im Kern aber immer die Auseinandersetzung mit ein und demselben Phänomen notwendig machen – Politik. Klassische politische Bildung hat sich deshalb seit Jahrzehnten immer wieder mit Themen wie zum Beispiel Rechtsextremismus, politische Systeme, Demokratie, EU, Geschichte etc. befasst und das mit Fug und Recht – ein Blick in die Medien reicht, um uns klar vor Augen zu führen, dass diese Themen zeitloser nicht sein könnten.
Dennoch muss sich die politische Bildungslandschaft die Frage gefallen lassen, ob auf der Kehrseite unserer thematischen Kontinuität steht, dass wir Methodik und Didaktik „verstetigt“ bzw. vernachlässigt haben. Verwaltet politische Bildung zu häufig den Status Quo, anstatt sich neu auszurichten, um Lehr- und Lernprozesse neu zu denken?
„Der Politische Mensch“
(Oskar Negt, 2010)
Negt geht davon aus, dass Menschen nicht als politische Wesen geboren werden, aber immer in politisch bestimmten Räumen leben, mit denen sie sich kritisch auseinandersetzen.
Mehrere Essays sind auf bpb.de zu finden, unter anderem “Demokratie als Lebensform”
"Idioten" und politische Bildner
Um Leidenschaft für eine Sache zu entwickeln, müssen wir das Ziel vor Augen haben bzw. uns auf das Wesentliche der politischen Bildung zurück besinnen. In seinem Werk “Der Politische Mensch” formuliert der Sozialphilosoph Oskar Negt gleich zu Beginn den Grund für unsere politischen Bildungsbemühungen. Dieser ergibt sich aus der Tatsache, dass kein Mensch als politisches Lebewesen geboren wird; „deshalb ist politische Bildung eine Existenzvoraussetzung jeder friedensfähigen Gesellschaft“.
Wir suchen die Auseinandersetzung mit den „Idioten“ unserer Gesellschaft, um ihnen Lebensperspektiven zu eröffnen, die über bloßes Mitläufertum hinausgehen. Der Terminus „Idiot“ wird an dieser Stelle nicht als Schimpfwort gebraucht, sondern im Sinne der Polis-Griechen, die solche Menschen als „Idioten“ bezeichneten, die als reine Privatmenschen „keinerlei Bezüge zum Gemeinwesen herstellen und an den staatlichen Angelegenheiten unbeteiligt sind: ιδιωτεία hat den Doppelsinn von Privatleben und Torheit“ (Negt).
Insofern ist es die Aufgabe politischer Bildner, der Idiotie die Stirn zu bieten. Das Ziel ist es, Menschen in eine Lebensweise zu begleiten, „die auf der freien Selbstbestimmung autonomiefähiger Bürger begründet ist“ (Negt).
Leidenschaft unter Teilnehmenden
Wie kann Leidenschaft im Kontext politischer Bildung unter Jugendlichen entstehen? Oder andersherum gefragt: „Wieso entsteht Leidenschaft für Politik und Teilhabe nur sehr zögerlich, mitunter gar nicht?“ Die Faktoren dafür sind vielfältig. Schauen wir uns aber in der Landschaft um und betrachten erfolgreiche Best Practice Projekte, dann wird deutlich, dass Leidenschaft immer dann entsteht, wenn Teilnehmende sich unmittelbar betroffen fühlen und erkennen, dass der politische Gegenstand ihren Alltag durchdringt. An diesem Punkt geschieht Bildung, weil das Wissen des Teilnehmenden zu einem Teil seines Bewusstseins wird.
Vielleicht haben politische Bildner zu lange in formalen Kategorien gedacht und immer wieder Projekte „für“ Teilnehmende und zu selten „mit“ Teilnehmenden realisiert. Dieser Vorwurf – sollte er denn richtig sein – ist gleichermaßen an Fördergeber und politische Bildner bzw. deren Projektkonzeptionen gerichtet.
Innerhalb von engen Definitionen und formalen Denkstrukturen wird die Entwicklung neuer Lernkulturen zu existentiellen Mutprobe. „Schuster bleib bei deinen Leisten“ wird sich der eine oder andere (zu Recht) gedacht haben, weil das Bildungssystem mit finanziellen und strukturellen Sanktionen gedroht hat. An dieser Stelle unterstellt niemand Böswilligkeit, vielmehr soll auf strukturelle Defizite hingewiesen werden.
Letzten Endes jedoch muss politische Bildung sich an die eigenen Nase fassen. Wir waren es, die gesagt haben: „Ihr solltet wählen gehen, weil das wichtig ist!“ Wir haben Teilnehmenden das Gefühl gegeben, dass Partizipation mit der Teilnahme an Wahlen beginnt – und endet. Damit haben wir bei Teilnehmenden ein Gefühl verstärkt, dass nach David McClellands Motivationstheorie jedwede Motivation und Leidenschaft im Keim erstickt: Das Gefühl der Ohnmacht. Wir haben Teilnehmende zu kleinen Rädern im Getriebe gemacht, indem wir ihnen gezeigt haben, dass sie vom politischen Geschehen betroffen sind, nur um ihnen im nächsten Satz zu sagen, dass sie weder Stimme noch Einfluss auf das haben, was mit ihnen geschieht.
Vorsicht: Das soll nicht heißen, dass die Teilnahme an einer Wahl nicht wichtig wäre – im Gegenteil. Nur sollte damit nicht Schluss sein. Partizipation erschöpft sich nicht im Delegieren von Verantwortung an Politiker/innen.
Die Entdeckung der (digitalen) Stimme
Was also machen wir mit Teilnehmenden, denen klar geworden ist, dass eine politische Thematik sie berührt? Mit den digitalen Medien steht uns eine Welt zur Verfügung, die Menschen Beteiligung und das Erheben der Stimmen auf vielfältigste Art und Weise ermöglicht. Menschen sind fasziniert, wenn sie die politische Auseinandersetzung mit Entscheidungsträgern und Meinungsmachern suchen und über die sozialen Netzwerke auch finden können. Wir sprechen hier nicht von einer Bildung, die sich in „Nerdsphären“ abspielt, wir reden von der Entdeckung neuer Möglichkeiten innerhalb einer Welt, die längst zur Lebenswirklichkeit der meisten Menschen geworden ist. Das Internet ist kein Cyberspace fernab von physischen Realitäten. Das Netz hat die digitalen Grenzen längst überschritten, das zeigen Medien- und Jugendstudien nur allzu deutlich. Es muss Aufgabe der politischen Bildung sein, den digitalen Kommunikationswandel als Paradigmenwechsel zu begreifen und entsprechend zu reagieren.
Wenn Teilnehmende in politischen Seminaren und Veranstaltungsformaten erfahren, dass ihre Stimmen, Meinungen und kreativen Energien wahrgenommen werden. Dann kann aus Betroffenheit Leidenschaft werden, weil sie nicht länger in der Einbahnstraße „Ohnmacht“ endet, sondern einen echten Unterschied macht.
Dabei geht es gar nicht um das Erreichen der Weltöffentlichkeit und das Produzieren von viralen Ergebnissen, die Millionen von Menschen in Sozialen Netzwerken sehen, sondern um die Erfahrung, dass ein Austausch zu persönlichen politischen Themen grundsätzlich möglich ist.
CC-by-Lizenz, Autor: Anselm Maria, Sellen @amsellen für pb21.de (geändert und bearbeitet von: Landeszentrale, Juni 2013)
Teilen auf
Neuen Kommentar hinzufügen