Politische Bildung heute: Ein Streitgespräch

Braucht die politische Bildung nur längere Arme, um mehr Breitenwirkung zu erzielen oder geht es um neue Formen und Wege? Martina Weyrauch und Siegfried Schiele diskutieren über Herausforderungen für die politische Bildung im 21. Jahrhundert und die Rolle der Landeszentralen.

Martina Weyrauch und Siegfried Schiele diskutieren
Dr. Martina Weyrauch, seit 2000 Leiterin der Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung und Dr. h.c. Siegfried Schiele, von 1976 bis 2004 Leiter der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg.

Steckt die politische Bildung in einer Sackgasse? Sie soll Menschen dazu anregen, sich an politischen Prozessen zu beteiligen. Das politische Interesse hat doch aber eher ab- als zugenommen.

Schiele: Das stimmt. Ich beobachte ein abnehmendes politisches Interesse und das beunruhigt mich. Generell wird die Demokratie aus meiner Sicht zu wenig gelebt, sie wird hingenommen, aber nicht akzeptiert von einem Großteil der Bevölkerung. Bei vielen Menschen fehlen die innere Einstellung und die Beziehung zur Demokratie. Ich will keine Katastrophenstimmung schaffen, aber ich sehe dadurch eine Gefährdung der Demokratie und der Grundrechte. Als Überparteilicher bin ich darum zum Beispiel froh, wenn jemand in eine demokratische Partei eintritt. Ich wünsche mir Freude und Teilnahme an der Demokratie.

Man kann die Leute nicht in Parteien treiben." Martina Weyrauch

Weyrauch: Ich habe da ein anderes Bild. Die Aussichten für unsere Demokratie finde ich nicht bedrohlich. Es gibt viel ehrenamtliches und punktuelles Engagement. Die Menschen leben politisches Interesse nicht unbedingt dadurch aus, dass sie dieses an eine Partei knüpfen. Man kann die Leute nicht in Parteien treiben. Das sind objektive Entwicklungen und Veränderungen in unserer Gesellschaft und da müssen wir ansetzen. Was machen wir, wenn die Leute nicht in Parteien wollen, um sich politisch zu engagieren? Es müssen neue Formen gefunden werden, um das politische Interesse zu fördern. Es gibt beispielsweise viel Interesse, sich für unmittelbare Belange vor Ort, im persönlichen Umfeld zu engagieren. Das ist nicht unpolitisch.

Es geht bei den Veränderungen, die Sie ansprechen, auch um die Zukunft der repräsentativen Demokratie. Ist diese Form politischer Willens- und Entscheidungsbildung aber noch zeitgemäß, wenn sich viele Menschen nicht für Parteien interessieren?

Schiele: Man sollte das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Die Demokratie, die wir haben, ist großartig, auch wenn sie nicht fehlerfrei ist. Dieses Fundament sollte nicht verändert werden. Für mich ist die Entwicklung der Demokratie und der Gesellschaft nach dem Krieg wie ein Märchen abgelaufen. Ich konnte an der Demokratie teilhaben. Ich wünsche mir, dass meine Enkel das später auch sagen können. Aus meiner Sicht nehmen zu viele Menschen das Wahlrecht, für das ja sehr gekämpft werden musste, als zu selbstverständlich hin. Das empört mich. Demokratie gibt Freiheit, aber jeder sollte unbedingt Gebrauch von seinem Wahlrecht machen. Nicht wählen gehen, das schädigt unser demokratisches System.

Parteien haben vielleicht ein schlechtes Image, aber es geht nicht ohne Parteien." Siegfried Schiele

Weyrauch: Das mit dem Wahlrecht sehe ich genau so. Ich fand die öffentlichen Statements von prominenten Nichtwählern zur letzten Bundestagswahl teilweise unerträglich überheblich. Aber Politik und Gesellschaft haben sich verändert und wir müssen diese Veränderungen begleiten und kommunizieren. Es muss nicht alles so bleiben wie früher. Ich denke, dass es möglich ist, dass es irgendwann keine Parteien mehr geben wird.

Schiele: Entschuldigung, dass ich da unterbreche. Wie soll denn eine demokratische Gesellschaft ohne Parteien in der Realität funktionieren? Da würde meiner Meinung nach ein wichtiger Pfeiler einstürzen. Parteien haben vielleicht ein schlechtes Image, aber es geht nicht ohne Parteien. Jeder muss Verantwortung übernehmen. Ich denke, dass Parteien auf Veränderungen eingehen und es kann auch nicht alles schnell verändert werden. Jedenfalls muss es eine organisierte Willensbildung geben.

Politische Bildung als Feuerwehr?

Mitschnitt einer Diskussion zwischen Martina Weyrauch und Siegfried Schiele im Theodor Heuß Haus in Stuttgart am 14.05.2013

Wie sollte die Landeszentrale auftreten, um die Menschen zu erreichen? Schreiben Sie uns!

Weyrauch: Da stimme ich zu. Aber die Frage, wie Willensbildung organisiert werden soll, die muss ergebnisoffen sein. Es geht auch gar nicht darum, die repräsentative Demokratie „abzuschaffen“. Aber ja, ich rechne damit, dass Parteien in Zukunft eine eher marginale Rolle spielen werden.

Mich freut das keinesfalls, aber ich möchte darauf vorbereitet sein, indem ich heute diese Frage aufwerfe und diskutiere. Wir müssen uns darüber verständigen, was wir bewahren wollen und wie.  Demokratie und Grundrechte können wir sichern, indem wir wahrnehmen, dass sich die Bedürfnisse der Gesellschaft ändern. Partizipation ist meiner Ansicht nach der Knotenpunkt in der politischen Bildung und nicht die paternalistische Belehrung von oben. Das gilt vor allem im Osten Deutschlands, wo die Menschen auf belehrende Erklärungen eher ablehnend reagieren.

Schiele: Da muss ich nun wieder ganz entschieden widersprechen. Von paternalistischer Belehrung  kann doch gar keine Rede sein, weder im Osten noch im Westen. Die Menschen kommen selbst mit Fragen, die Einrichtungen der politischen Bildung greifen diese auf, werfen eigene auf, geben Antworten und verwerfen diese wieder. Dialog nenne ich das, aber nicht Paternalismus. Diesen habe ich nie vertreten. Wenn man den Gedanken zu Ende denkt, müssten auch die Landeszentralen abgeschafft werden, weil sie ja im Kern eine paternalistische Einrichtung sind. Aber, wenn diese Einrichtung nach dem Beutelsbacher Konsens arbeitet, den ich ein Leben lang vertreten habe, dann steckt da nicht einmal eine Prise Paternalismus drin.

Weyrauch: Da sind wir gar nicht so weit auseinander. Der Beutelsbacher Konsens ist Grundlage unserer gesamten Arbeit in Brandenburg. Ich denke aber, wir befinden uns in einem wahnsinnigen Aufbruch. Die Demokratie ist für mich so quicklebendig wie noch nie. Politische Bildung muss darauf reagieren und dazu gehört es, nach den Methoden und Formen zu fragen, mit denen sie auf die Menschen zugeht. Belehrungen von oben sind kontraproduktiv, so meine Erfahrung. In Brandenburg haben wir hingegen gute Erfahrungen gemacht in gemeinsamen Projekten mit freien Trägern, die oft anders denken als wir. Besonders bei jungen Leuten bin ich immer wieder überrascht, wie gekonnt sie Unterhaltung und Ernsthaftigkeit in der politischen Bildung verbinden.

Wie macht politische Bildung in Zukunft Sinn?

Schiele: Die Arme der politischen Bildung sollten länger sein. Ich wünsche mir eine größere Reichweite. Es gab einen großen Anlauf bei der Einrichtung der politischen Landeszentralen, aber dann trat eine Verkümmerung ein. Die praktische Umsetzung erfordert viel Rüstzeug und ich würde gerne mehr auf das Gas treten. Ich finde zum Beispiel, das Schulfach Gemeinschaftskunde sollte in der Schule früher und insgesamt viel mehr genutzt werden, um schon die Schüler besser zu erreichen. Man muss etwas tun, um die Menschen zur Wahlbeteiligung zu mobilisieren. Was könnte man in der politischen Bildung alles machen, wenn der Rucksack stärker gepackt wäre. Das heißt wir brauchen mehr finanzielle und personelle Ressourcen.

Belehrungen von oben sind kontraproduktiv." Martina Weyrauch

Weyrauch: Also ich vertrete da einen ganz anderen Ansatz. Vielleicht, weil ich erlebt habe, wie sich alles, vor allem im Osten, entwickelt hat. Nach der friedlichen Revolution hat die Hälfte der Menschen im Osten ihre Arbeit verloren und der gesellschaftliche Rahmen hat sich völlig und quasi über Nacht verändert. Für die Bevölkerung stellte sich die grundsätzliche Frage, mit welcher Gesellschaft sie es überhaupt zu tun hatte? Viele Menschen im Osten haben zwei Diktaturen erlebt. Die Landeszentrale musste erst einmal Vertrauen in die neue Form der Demokratie schaffen, denn alles was politisch war, wurde mit großer Skepsis betrachtet. Diese Skepsis kann nur langfristig überwunden werden, indem man da anknüpft, was die Menschen bewegt und wo. Für junge Menschen ist es zum Beispiel wichtig, dass sie nicht nur in der Schule angesprochen werden, sondern ganz bewusst auch außerhalb, weil das der Ort ist, an dem sie sich freiwillig mit einer Sache beschäftigen.

Worin sehen Sie die wichtigste Aufgabe der Landeszentralen für politische Bildung?

Schiele: Ich finde, Bundespräsident Theodor Heuss hat etwas sehr Einprägendes dazu gesagt: „Demokratie ist keine Glücksversicherung, sondern sie ist das Ergebnis von politischer Bildung.“ Damit muss man überparteilich nach außen und in die Breite gehen. Und vor allem muss weiterhin kontrovers diskutiert werden. Der Beutelsbacher Konsens sollte nicht leichtfertig aufgegeben werden, wie es in machen Diskussionen anklingt. Es darf natürlich keine verwaltende politische Bildung sein.

Weyrauch: Die Landeszentralen sichern, dass politische Bildung für alle offen ist, jeder kann teilnehmen, es gibt keinen Ausschluss. Gerade für den Osten ist nach 40 Jahren DDR der Beutelsbacher Konsens einer der wichtigsten, den kennen alle. Er bewahrt vor der Vorgabe des Richtigen, er ist Ausdruck von Freiheit.

Wenn es eine Institution wie die Landeszentralen gibt, kann man auf Entwicklungen sofort reagieren und das begleiten. In der Zeit des Internets kommen sogar Reaktionen aus anderen Ländern, in denen es eine solche Institution nicht gibt, die sich das aber sehr wünschen würden.
 

BLPB, Januar 2014

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