Bisher gleicht der Kampf gegen Antisemitismus einem Flickenteppich, der zwar mit öffentlichen Mitteln gefördert wird, bei dem aber kein in sich geschlossenes Konzept zu erkennen ist. Die politische Idee der "christlich-jüdischen Leitkultur" scheint in die Irre zu führen.
Im Bericht des unabhängigen Expertenkreises zur Erforschung des Antisemitismus im Auftrag des Bundesministeriums des Innern (BMI) wird festgehalten, dass antisemitische Einstellungen nach einem Rückgang gegen Mitte des vergangenen Jahrzehnts jüngst wieder angestiegen sind. Eindringlich warnt die Expertenkommission vor einer tiefen Verwurzelung klischeehafter Judenbilder und antisemitischer Einstellungen in Deutschland.
Man beobachte bis weit in die Mitte der Gesellschaft verbreitete alltägliche judenfeindliche Tiraden und Praktiken. Bis zu 20 Prozent der Bevölkerung in Deutschland seien zumindest latent antisemitisch.
Wir wollen das alles vergessen
Bertelsmann-Studie (2015): 81 Prozent der Deutschen möchten die Geschichte der Judenverfolgung "hinter sich lassen", 58 Prozent definitiv einen "Schlussstrich" ziehen.
So gehöre vielerorts "Du Jude" als Schimpfwort auf den Schulhöfen fast schon zur Normalität. Sätze wie "Juden gehören in die Gaskammer" oder "Auschwitz ist wieder da" seien laut Bericht bei Wettkämpfen in Fußball-Regionalligen keine Seltenheit. Darüber hinaus wird kritisiert, dass keine umfassende Strategie zur Bekämpfung des Antisemitismus in Deutschland existiert.[1]
Die antisemitischen Einstellungen stehen dabei in einem irritierenden Kontrast zu der seit einigen Jahren propagierten "christlich-jüdischen Leitkultur". Hierin wird die jüdische Kultur als zentraler Eckpfeiler einer über Jahrhunderte entwickelten Symbiose mit den christlichen Werten für die deutsche Identität dargestellt. Führende Politikerinnen und Politiker sprachen von "der christlich-jüdischen Tradition",[2] die unsere kulturellen Wurzeln darstellten.
Diese Debatte entwickelte sich vor dem Hintergrund eines zunehmend bipolaren und statisch interpretierten Kultur- und Religionsverständnisses: Spätestens seit der Jahrtausendwende wird intensiv über einen vermeintlichen "Kampf der Kulturen" und der Religionen diskutiert. In diesem Zusammenhang führte der Politikwissenschaftler Bassam Tibi auch den Begriff der "Leitkultur"[3] ein, der in seinem Konzept für die Herausbildung einer europäischen Identität steht. Hiermit meint er die Einforderung "westlicher Wertevorstellungen", die ein Bekenntnis zu Demokratie, Säkularismus, Aufklärung, Menschenrechten und Zivilgesellschaft umfassen.
Scheinbar Bezug nehmend auf Tibi wurde eine öffentliche Debatte über die "deutsche Leitkultur" angestoßen, in der insbesondere Verfassungstreue und Sprachkompetenz von Einwanderern zusammen mit einem Bekenntnis zur "deutschen Leitkultur" sowie "deutschen Identität" eingefordert wurden.[4] Allerdings machte Tibi auf die verzerrte Rezeption seiner Thesen zu Kultur, Identität und Migration in der deutschen Öffentlichkeit aufmerksam. Insbesondere in der Debatte um die "deutsche Leitkultur" seien seine Thesen fälschlicherweise als Gegenbegriff zum "Multikulturalismus" dargestellt worden.[5]
Im Zuge dieser Debatte entwickelte sich eine positive Bezugnahme auf jüdische Kultur und Religion als wesentliche Bestandteile einer "deutschen Leitkultur", oftmals verbunden mit einer scharfen Abgrenzung gegenüber dem Islam.[6] Es mehrten sich die Diskussionen über eine jahrhundertealte christlich-jüdische Symbiose, die durch den Nationalsozialismus unterbrochen worden sei.
Innovative Geschichtsvermittlung
Die Vielfalt an Orten jüdischen Lebens in Berlin wird durch die Smartphone-App im Stadtraum vor Ort erlebbar. Das Web-Portal erlaubt Vor- oder Nachbereitung eines Berlinbesuchs.
Selbst bei einer oberflächlichen Betrachtung der Geschichte jüdischen Lebens in Deutschland wird rasch deutlich, dass es nie eine christlich-jüdische Symbiose gab. Eine jahrhundertelange Tradition der Verfolgung, Diskriminierung und Pogrome in Deutschland und anderen europäischen Staaten gegen Juden bestimmt vielmehr das historische Bild des christlich-jüdischen Verhältnisses. Noch Anfang des 20. Jahrhunderts stand rabbinisches Denken unter Verdacht, sich abzuschotten, grundsätzlich fremd zu sein und die christliche Kultur zu unterminieren. Es dominierte die Vorstellung vom "Juden" als verschlagenen Ausbeuter, der als Antipode zu "den Deutschen" stigmatisiert wurde.
Bereits zum Ende des 19. Jahrhunderts setzte sich vor allem die Identitätsbestimmung der "Deutschen" als Gegenbild zu allem Jüdischen fest. Der deutschen Innerlichkeit und Kultur wurde das "zersetzende und vagabundierende" Jüdische gegenübergestellt, was dann im Nationalsozialismus zur alles bestimmenden Maxime erhoben wurde. Selbst im 19. Jahrhundert, als es zur jüdischen Emanzipation und formalen Gleichstellung kam, waren Juden Außenseiter und nie Teil der europäischen Mehrheitsgesellschaften.[7]
Der Bezug auf eine irgendwie geartete "Leitkultur" ist mit weiteren blinden Flecken verbunden: Sowohl die deutsche Geschichte des Antisemitismus als auch der gegen Migranten gerichtete Rassismus werden hierbei ausgeblendet. Zudem wird für eine säkularisierte Gesellschaft ein omnipräsenter religiöser Identitätsbezug hergestellt, der mit den realen gesellschaftlichen Verhältnissen nicht mehr übereinstimmt.[8] Neben der ausgrenzenden Wirkung gegenüber allen, die nicht dem "Christlich-Jüdischen" zuzuordnen sind, wird aber auch die jüdische Kultur und Religion wieder mit Zuweisungen versehen. So schreibt der Vizepräsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, Salomon Korn, dass in dieser Debatte "den Juden" wieder eine Rolle zugewiesen werde, die er als "Funktionsjude" umreißt:
Die Deutschen brauchen die anderen, um zu sagen, wer sie selbst sind oder sein könnten."[9]
Neuerdings würden die "Funktionsjuden" in die "christlich-jüdische" Kulturdebatte inkorporiert, um gemeinsam "gegen den neuen Fremden",[10] den Islam, anzugehen. Schon einige Jahre zuvor hatte Korn herausgearbeitet, dass es auch in der Gesamtentwicklung jüdischen Lebens in Deutschland keine christlich-jüdische Symbiose gegeben habe. Die unhistorische Einordnung über eine kulturelle Verflechtung christlicher und jüdischer Kultur in Deutschland werde stattdessen instrumentell eingesetzt. Der Mythos der christlich-jüdischen Symbiose sei auch deshalb verwendet worden, um sich selbst nicht einzugestehen, dass ein großer Teil der Bevölkerung die Politik der Nationalsozialisten gegen die Juden befürwortete.
Den Mythos ordnet Korn in einen Zusammenhang mit der "permanente(n) Abwehr des ungeheuerlichen Eingeständnisses" deutscher Schuld ein, denn durch die "Vertreibung und Vernichtung der Juden im kollektiven Bewusstsein der Deutschen"[11] sei nicht wirklich etwas verloren gegangen. Mit dieser Feststellung verweist Korn auch auf die fehlgeleitete historische Einordnung der christlich-jüdischen Beziehungen. Denn dann könnte herausgearbeitet werden, dass im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert auch in unterschiedlichen Literaturgenres "der Jude" negativ konnotiert war, der als Fremder und Gegenbild zum "Deutschen" stigmatisiert wurde. "Die Juden" und ihre Sprache, das Jüdisch-Deutsche, wurden als zersetzendes Element für die Gesellschaft entdeckt und stigmatisiert. Bis in die Gegenwart ist offensichtlich das Thema der Juden als "die Anderen" problematisch und keinesfalls nur in neonazistischen Kreisen verhaftet geblieben.
Gerade an diesem Punkt wird deutlich, dass die Diskussion um die "christlich-jüdische Leitkultur" insbesondere im Kontext einer historischen Bildung gegen Antisemitismus in die falsche Richtung weist. Die bipolare Zuordnung zu "den Deutschen", "den Juden" oder "den Muslimen" stellt jedoch in der Debatte um die "christlich-jüdische Leitkultur" eine zentrale Rolle dar. Zudem übersehen die Verfechter der "christlich-jüdischen Leitkultur", dass Antisemitismus nach wie vor ein zentrales Problem in unserer Gesellschaft darstellt.
Daher bleibt zu fragen: Wie kann eine politische Bildungsarbeit auf starre Vorstellungen von Identität und Kultur reagieren? Wie können Kultur, Geschichte und Zugehörigkeit diskutiert werden, ohne Schubladendenken und einfache Zuweisungen zu forcieren?
Schulische und außerschulische Bildungsarbeit
Bisher gleicht der Kampf der schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit gegen Antisemitismus einem Flickenteppich, der zwar mit Mitteln aus öffentlichen Fördertöpfen bedacht wird, bei dem aber kein in sich geschlossenes Konzept vorzufinden ist. Scharf kritisiert wird daher im erwähnten Bericht der Expertenkommission auch der Umgang der Schulen mit Antisemitismus. Dort werde das Thema fast nur mit Bezug auf den Holocaust behandelt, wodurch Antisemitismus als ein "ausschließlich den Nationalsozialisten zuzuordnendes Phänomen" dargestellt werde, "das 1933 quasi aus dem Nichts erschien und 1945 wieder verschwand".[12] Hinzugefügt werden könnte, dass die Debatten um die "christlich-jüdische Leitkultur" auch zu einem falschen Geschichtsbild führen, indem die deutsche Geschichte des Antisemitismus ausgeblendet wird.
Gegen das Vergessen
Umfrage (2012): Jeder Fünfte unter 30 kennt Auschwitz nicht
Genau an dieser Stelle muss daher eine Auseinandersetzung mit historischem Lernen über Nationalsozialismus und Holocaust einsetzen. Die Schwierigkeiten zeigen sich dabei in der aktuellen Bildungssituation, wenn es darum geht, historisches Lernen zum Thema Antisemitismus mit der Gegenwart zu verbinden. Eine Studie kam Anfang 2012 zu dem Ergebnis, das 21 Prozent der 18- bis 30-Jährigen den Begriff "Auschwitz" nicht einordnen konnten.[13]
Daraus folgt: Pädagogen müssen zunächst das höchst unterschiedliche Wissen des Publikums reflektieren, soll ihre Arbeit erfolgreich sein. Insbesondere für die pädagogische und didaktische Reflexion gilt es, zu berücksichtigen, dass es in modernen Einwanderungsgesellschaften verschiedene Zugänge zur Erinnerung an historische Entwicklungen gibt, die keineswegs in einem eindimensionalen Konzept von "deutscher Geschichte" aufgehen können. In den heutigen Klassenzimmern sitzen häufig junge Menschen, die mit Krieg nicht Stalingrad oder Dresden, mit Völkermord nicht Auschwitz oder Treblinka verbinden und bei Widerstand nicht direkt an die Geschwister Scholl denken.[14]
Aber nicht nur die unterschiedlichen Zugänge zu Geschichte und die hiermit einhergehenden tradierten Bilder sind für die Auseinandersetzung mit dem gegenwärtigen Antisemitismus von Bedeutung. Die Bezeichnung Einwanderungsgesellschaft soll auch herausheben, dass der Prozess der Migration für eine Gesellschaft grundlegend ist, denn die konstruierten und umkämpften Identitätskonzepte und Zugehörigkeitszuweisungen stehen in einem diskursiv umkämpften Feld, wodurch es zunehmend "normal wird (…), dass sich in den individuellen Identitätskonstruktionen unterschiedliche Erinnerungsgemeinschaften überlappen, kreuzen, miteinander verknüpfen".[15]
"Ich kann es nicht mehr hören!"
"Wir haben schon das Tagebuch der Anne Frank gelesen“, so die unwillige Reaktion von Schülern, als der Religionslehrer Texte von Auschwitz-Überlebenden in den Unterricht mitbringt. Repräsentativer Alltag? Prof. Dr. Wilhelm Schwendemann sagt „Nein“. 65 Jahre nach Kriegsende kann Erziehung nach dem Holocaust in Deutschland ganz anders aussehen!
Eine kritische Reflexion von Identitätskonzepten sollte daher religiöse und kulturelle Zuschreibungen in ihren historischen Zusammenhängen diskutieren. Eine historische Bildung und Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus greift daher tradierte Bilder über "die Juden" oder homogene kulturelle Zuweisungen auf und zeigt exemplarisch, wie rigide religiöse Zuordnungen und homogene Kulturzuschreibungen in Rassismus und Antisemitismus umschlagen können.
In diesem Kontext könnte auch geklärt werden, dass Antisemitismus nicht nur als Feindschaft gegen Juden, sondern dieser in all seinen Facetten verstanden werden muss. Um dies herauszuarbeiten, sollte der Antisemitismus definitorisch als eine Erscheinungsform analysiert werden, die vor Jahrhunderten auftauchte und sich im unmittelbaren Zusammenhang mit den sozialen Krisen der bürgerlichen Gesellschaft herausbildete.
Antisemitismus kann somit als übergreifender Terminus für die Feindschaft gegen Juden und als politische und ideologische Erklärung für bestimmte Macht- und Herrschaftsverhältnisse auf der Welt fungieren. Juden werden dabei, ähnlich wie beim Rassismus, bestimmte Wesensmerkmale zugesprochen, die als für sie typisch angesehen werden. Ausgrenzung, Stigmatisierung und sogar Vertreibung und Vernichtung können als Ziel anvisiert werden.[16]
Historisches Lernen hat die Aufgabe, die verschiedenen Facetten des Antisemitismus zu analysieren und in ihrer Zusammensetzung herauszuarbeiten. Richtschnur für die Bekämpfung des Antisemitismus ist, zu vermitteln, wie Strukturen und Mechanismen aufgedeckt werden können, die aufzeigen, wie jahrhundertealter Judenhass sich mit einer modernisierten Form der Ausgrenzung, Diskriminierung und biologistischen Unterscheidungsmerkmalen verbindet. Aus dieser Betrachtungsweise könnte auch gelernt werden, dass es zu bestimmten historischen Zeitpunkten ganz unterschiedliche diskursive Stränge in der Einordnung und Bewertung von Juden gab.
Im 19. Jahrhundert finden wir in Deutschland zum einen die Emanzipation und Gleichberechtigung von Juden vor; gleichzeitig aber auch die Formierung hin zum biologistischen Antisemitismus. Vor diesem Hintergrund können vor allem die historische Entwicklung und die Entwicklung menschlichen Zusammenlebens in den Vordergrund rücken, die dem "So-Sein" und dem scheinbar unabänderlich Gegebenen diametral entgegenstehen.
Pädagogische und didaktische Methoden
Kurzum: Eine politische Bildungsarbeit gegen Antisemitismus sollte im Kontext der Leitkulturdebatte den instrumentellen Charakter der scheinbar positiven Bezugnahme auf jüdische Religion und Kultur offenlegen. Die Homogenisierung, beispielsweise von allem Jüdischen, sollte aufgegriffen werden, um zu zeigen, dass die Vereinnahmung "der Juden" schon eine Differenzkonstruktion in sich birgt. In der politischen Bildungsarbeit müsste die "Differenzannahme ohne offenkundige Feindschaft im Sinne der Vorstellung, Juden seien eine irgendwie besondere Gruppe, die sich von ‚uns‘ unterscheidet",[17] hinterfragt werden.
Weiterführender ist es, den Fokus nicht auf die Wahrung kultureller Eigenschaften zu legen, sondern die universellen Menschenrechte einzufordern.[18] Nicht Kulturen oder Religionen sind in diesem Sinne die Subjekte der Anerkennung, sondern Individuen, die kulturelle Traditionen tragen oder auch ablehnen sowie ihre jeweils eigenen Identitäten ausbilden und verändern. Menschenrechtsverletzungen mit "kulturellen Traditionen" zu rechtfertigen, wäre dann ebenso wenig möglich, wie rassistisch verallgemeinert von "den Juden" zu reden.[19]
Bildungsbausteine gegen Antisemitismus
Seminare, Workshops und Fortbildungen für Schüler, Azubis, Jugendgruppen, Multiplikatoren
Von hieraus die gesellschaftlichen Zusammenhänge in ihrer Historizität in den Mittelpunkt zu rücken und den Fokus auf die Stärkung selbstreflexiver Prozesse mit einer "Wendung aufs Subjekt"[20] zu stellen, spricht Menschen zudem konkreter in ihren Bedürfnissen an und macht sensibel dafür, stereotypisierendes Denken und Handeln zu hinterfragen. Die in der politischen Bildungsarbeit häufig zu wenig thematisierten subjektiven Vergesellschaftungsformen sollten daher einen zentralen Stellenwert erhalten, weil sonst kognitive Lernprozesse äußerlich bleiben.[21] Teilnehmende sind in diesem Sinne Subjekte in ihrem gesellschaftlichen Zusammenhang, die Fragen der Anerkennung und Gerechtigkeit diskutieren und in ihre Alltagserfahrungen einordnen.
Dieses Bildungsverständnis ist auf die Stärkung des Selbstbewusstseins und der Reflexionsfähigkeit in Selbstaufklärungsprozessen ausgerichtet. Die Stärkung subjektiver Bedürfnisse und Bildungsprozesse bedeutet auch, in der politischen Bildungsarbeit einfachen Zuschreibungen, polarisiertem und dichotomem Denken ein vielfältiges Identitätskonzept entgegenzusetzen. Die Auseinandersetzung mit den eigenen biografischen Entwicklungen und deren Einflüsse auf die eigene Identität ist hier zentral, um das von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer als wesentliche Voraussetzung für Rassismus und Antisemitismus stehende stigmatisierende und schablonenhafte "Ticketdenken"[22] aufzugreifen und zu reflektieren.
In den "Elementen des Antisemitismus" beschreiben Horkheimer und Adorno einen Charaktertypus, der aufgrund mangelnder Reflexion seine Mitmenschen kategorisiert und in straffe Schablonen fasst. Rassistische und antisemitische Zuschreibungen dienen ihm als Komplexität reduzierende Orientierungsmuster, mit denen er die Welt um sich einzuordnen versucht. Dem "Ticketdenken" entgegenzutreten, stellt somit für die Pädagogik eine Leitlinie dar, die sich vergegenwärtigt, dass "das Gegenprinzip von Auschwitz, (…) Autonomie, (…) die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen"[23] ist.
Wenn Mokkatassen sprechen
Für subjektorientiertes Arbeiten in der Bildungsarbeit gibt es zahlreiche Methoden, die versuchen, individuelle Erfahrungen der Teilnehmenden aufzugreifen und in den Kontext antisemitischer Einstellungsformen zu stellen. Durch Rollenspiele und Simulationen von exemplarischen Situationen, die im Zusammenhang mit Antisemitismus stehen, können Perspektiven gewonnen werden, die sich dann gemeinsam reflexiv bearbeiten lassen.[24] Ausgangspunkt sollen die eigenen Erfahrungen der Teilnehmenden und des Teams mit dem Thema Antisemitismus in der Bildungsarbeit und dem schwierigen Umgang damit sein.
Durch das Hineinversetzen in andere Charaktere können bestimmte Fragen und Themen angeschnitten und aufgegriffen werden, ohne direkt eigene Verwicklungen und Unsicherheiten zu einer bestimmten Thematik offenzulegen.
Eine Möglichkeit stellt in diesem Kontext das Arbeiten mit Biografien dar. Indem eigene und andere Lebensläufe in Beziehung zueinander gesetzt werden und die Teilnehmenden sich mit anderen Lebensrealitäten beschäftigen, können Selbst- und Fremdwahrnehmungen reflektiert werden. Durch die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Denk- und Handlungsansätzen können pauschale Urteile über eine bestimmte Gruppe thematisiert und infrage gestellt werden. Zudem ist es notwendig herauszuarbeiten, dass die Zuordnung eines Individuums zu bestimmten Verhaltensweisen einer Gruppe immer auch autoritäre Züge trägt, da dies in der Regel ohne die Zustimmung des Einzelnen geschieht.[25]
Die Rassismusforscherin Annita Kalpaka hat ein Theaterseminar entworfen, das gezielt Macht-Ohnmacht-Verhältnisse und pauschale Zuschreibungsprozesse von Verhaltensweisen auf bestimmte Gruppen in den Mittelpunkt rückt. Zwar thematisiert diese Methode vor allem rassistische Ausgrenzungen, sie bietet jedoch die Möglichkeit der Übersetzung für die politische Bildungsarbeit gegen Antisemitismus. Durch die Entwicklung von Alltagssituationen und Alltagserfahrungen können im Rollentausch die unterschiedlichen Erfahrungsebenen verschiedener Teilnehmenden thematisiert werden. So können Ungleichheit, Diskriminierung und Ausgrenzung aufgegriffen und nicht nur als akademisch-theoretische Beschäftigung, sondern als sinnlich-konkrete Alltagserfahrung durchlebt werden.
Die Broschüre der Bildungsstätte Anne Frank gibt Anregungen und Denkanstöße, wie in der pädagogischen Arbeit angemessen auf Antisemitismus reagiert werden kann.
Mit dieser Methode wird ein ganzheitlicher, selbstreflexiver Lernbegriff angestrebt. Im Zentrum steht die Erforschung der eigenen Emotionen, die vis-à-vis der antisemitischen Zuschreibungen aufkommen, denen man je nach eingenommener Rolle ausgesetzt ist.[26]
Auch andere Methoden, die verschiedene Formen der Identitätsentwicklung thematisieren und das Individuum ins Spannungsfeld gesellschaftlicher Anforderungen und kollektiver Zuschreibungen stellen, haben sich in der Praxis bewährt.
Ein bedeutendes Ziel wäre dann erreicht, wenn in gemischt-ethnischen Seminaren die Individualisierung von Beziehungsformen deutlich würde. Eine solche Pädagogik könnte auf die Anforderungen der Einwanderungsgesellschaft insofern reagieren, als dass zwar zum einen auf die Besonderheiten der eigenen kulturellen Geschichten Rücksicht genommen wird, aber auch die einzelnen Personen als Individuen in ihrem historischen und gesellschaftlichen Zusammenhang und eben nicht nur als Angehörige ethnischer Gruppen angesehen werden.[27]
Allerdings hilft die beste Pädagogik nicht, wenn Erkenntnisse keinen strukturellen Eingang in Bildungsinstitutionen finden.
Politische Bildungsarbeit gegen Antisemitismus ist als Querschnittsaufgabe zu verankern, die nicht nur in diesem Themenbereich die klassischen Bildungsangebote für Pädagogen erweitert – die ohnehin meist nur von fachkundigen Interessierten besucht werden. Eine wirksame Auseinandersetzung mit den Facetten des Antisemitismus kann nur vorangetrieben werden, indem, etwa für die Referendarausbildung von Lehrerinnen und Lehrern, didaktische und pädagogische Bausteine zum Thema Antisemitismus in der notwendigen Ausführlichkeit entwickelt werden.
Alle angehenden Pädagogen müssten sich also in der gebotenen Intensität mit den Fragen des Rassismus und Antisemitismus an Schulen auseinandersetzen und sich mit den geeigneten Methoden hierzu vertraut machen. Eine Pädagogik gegen die unterschiedlichen Facetten des Antisemitismus steckt noch in den Kinderschuhen – und sollte in den nächsten Jahren dringend konzeptionell weiterentwickelt werden.
Marcus Meier für bpb.de
18.03.2013
Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht.
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Fußnoten
- Vgl. BMI (Hrsg.), Antisemitismus in Deutschland, Berlin 2012, S. 17ff., http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Themen/Politik_Gesellschaft/EXpertenkreis_Antisemmitismus/bericht.pdf?__blob=publicationFile (26.2.2013).
- Vgl. beispielsweise die Äußerungen des deutschen Außenministers Guido Westerwelle, zit. nach: Adam Soboczynski, Unser Kulturkampf, 14.10.2012, »http://www.zeit.de/2010/42/Christlich-Juedische-Tradition« (12.2.2012). Dieser Aspekt wird weiter ausgeführt in folgendem Artikel, an dem sich auch der vorliegende orientiert: Marcus Meier, "Unsere kulturelle Wurzel ist die christlich-jüdische Tradition", in: Richard Gebhard/Anne Klein/ders. (Hrsg.), Antisemitismus in der Einwanderungsgesellschaft, Weinheim 2012, S. 106–122.
- Vgl. Bassam Tibi, Leitkultur als Wertekonsens, 2001, http://www.bpb.de/publikationen/40QIUX,1,0,Leitkultur_als_Wertekonsens.html#art1 (22.9.2011).
- Vgl. Mark Terkessidis, Interkultur, Berlin 2010, S. 10ff.
- Vgl. B. Tibi (Anm. 3).
- Vgl. Thomas Kröter, Leitkultur light, in: Jüdische Allgemeine vom 28.10.2011; Hans-Peter Heinz, Kein banaler Philosemitismus!, in: Herder Korrespondenz, (2010) 2, S. 65.
- Vgl. Wolfgang Benz, Was ist Antisemitismus, München 2004, S. 65ff.
- Vgl. Astrid Messerschmidt, Bildungsarbeit im Kontext von sekundärem Antisemitismus und antimuslimischen Tendenzen, in: R. Gebhard/A. Klein/M. Meier (Anm. 2), S. 40ff.
- Zit. nach: Georg Diez, in: Süddeutsche Zeitung vom 17.2.2010.
- Ebd.
- Salomon Korn, Die viel beschworene deutsch-jüdische Symbiose ist bloß ein Mythos, in: Frankfurter Rundschau vom 14.6.2000.
- Vgl. BMI (Anm. 1), S. 86.
- Vgl. www.zeit.de/gesellschaft/2012-01/umfrage-auschwitz (7.3.2012).
- Vgl. R. Gebhard/A. Klein/M. Meier (Anm. 2).
- Wolfram Stender, Der Antisemitismusverdacht, Oktober 2008, http://www.agpolpsy.de/wp-content/uploads/2009/02/der-antisemitismusverdacht-gekurzte-fassung2.pdf (17.1.2013).
- Vgl. Wolfgang Benz, Bilder vom Juden, München 2001, S. 129.
- Albert Scherr/Barbara Schäuble, "Ich habe nichts gegen Juden, aber …", Berlin 2007, S. 10.
- Vgl. Imke Leicht, Multikulturalismus auf dem Prüfstand, Berlin 2009, S. 191.
- Vgl. ebd., S. 190.
- Theodor W. Adorno, Erziehung nach Auschwitz, in: ders. (Hrsg.), Stichworte, Frankfurt/M. 1969.
- Vgl. Joachim Beerhorst, "Das Problem haben wir nicht"?, Dokumentation der Tagung zur antirassistischen und nicht-rassistischen Bildungsarbeit, Sprockhövel 2001, S. 31.
- Theodor W. Adorno/Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/M. 1998, S. 215.
- T. W. Adorno (Anm. 20), S. 90.
- Vgl. Christian Brühl, "Ich dachte immer, dass es in Deutschland gar nicht so schlimm wäre", in: R. Gebhard/A. Klein/M. Meier (Anm. 2), S. 75ff.
- Vgl. Christian Brühl/Marcus Meier, Antisemitismus als Problem der schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit, Köln 2010; DGB-Bildungswerk Thüringen (Hrsg.), Baustein zur nicht-rassistischen Bildungsarbeit, Erfurt 2003.
- Vgl. Annita Kalpaka, Theaterworkshops zum Thema "Macht – Ohnmacht – Alltagsrassismus" als selbstreflexive Lernform, in: Siegfried Jäger (Hrsg.), Aus der Werkstatt: Anti-rassistische Praxen, Duisburg 1994.
- Vgl. C. Brühl/M. Meier (Anm. 25), S. 69.
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