Das individuelle Bedürfnis nach Gemeinschaft und Anerkennung, Geborgenheit und Besonderheit spielt eine wichtige Rolle bei der Frage, ob sich jemand radikalisiert. Es ist aber nicht der einzige Faktor.
Eine Radikalisierung ist ein komplexer und individueller Prozess, dessen Verlauf je nach Einzelfall bewertet werden muss. Eine Vielzahl von sozialen, psychologischen, religiösen und weiteren Faktoren können dafür ausschlaggebend sein:
- Sinnsuche im Jugendalter (Wer bin ich, weshalb bin ich hier, hat das Leben einen Sinn?)
- Gefühl der Überforderung durch Freiheit in demokratischen Gesellschaften (individuell: was will ich werden, Beziehungen, Freunde) sowie Komplexität des Lebens und Weltgeschehens
- Isolationsgefühl bei einem gleichzeitigen Bedürfnis nach Gemeinschaftlichkeit, Geborgenheit, Loyalität, einem Freundes- oder Bekanntenkreis
- Einfluss von Moscheen und Interneträumen
- Ausgrenzung und Diskriminierung im Alltag
- Einfluss von islamistischer Propaganda und Wahrnehmung realer Krisenherde (Darstellung von Muslimen als Opfer in einer feindlichen Umwelt/ Opfererzählung; Beschwörung von Heldenhaftigkeit (Heroisierung); Glauben an Falschinformationen
- Entführung und Beeinflussung (zum Beispiel Kindersoldaten)
- konservatives Religionsverständnis (Wahhabismus, Patriarchat, Totalitarismus)
- Aufwachsen in einer salafistischen Familie oder totalitären Herrschaftsordnung
- Gewalterfahrung, Nähe zur Gewalt beziehungsweise kriminelle Energie/Vergangenheit
All diese Stichworte berühren vielschichtige Zusammenhänge.
Geborgenheit und Anerkennung
Das individuelle Bedürfnis nach Gemeinschaft und Anerkennung, Geborgenheit und Besonderheit spielt eine wichtige Rolle bei der Frage, ob, wann und wie sich jemand radikalisiert.
Die Isolation und Einsamkeit, die Jugendliche in der modernen Gesellschaft erfahren können, sind ein wesentlicher Faktor von Unzufriedenheit oder sogar Depression, der oftmals dazu führt, Anschluss an eine Gruppe finden zu wollen. Hat diese Gruppe Antworten, die alles in der Welt Existierende scheinbar leicht erklären, fühlt es sich beruhigend an, dieser Gruppe zu folgen oder ihr Glauben zu schenken.
Genau dies haben Islamisten erkannt, die sich in der Jugend- und Sozialarbeit engagieren, um für ihre Sache zu werben. Die Angeworbenen erhalten im Laufe der Zeit Zugang zu einer Ideologie, die sie vom bisherigen Leben und dem Umgang mit Freunden und Familie abgrenzt, indem sie selbst erhöht und zu etwas Besonderem erklärt werden. Die eigene Gruppe zählt zu den Auserwählten, während die anderen unwürdig erscheinen.
Ein Hauptort zur Verbreitung islamistischer Themen und Inhalte sind soziale Medien. Aufklärung ist notwendig, um Menschen miteinander ins Gespräch zu bringen und sich mit den Themen kritisch auseinanderzusetzen.
"Wir sind die besten Menschen"
Es heißt dann zum Beispiel, „Wir sind die besten Menschen“ und sogar „die besten Muslime, weil wir den Islam genau so leben, wie damals der Prophet und seine Gefährten" (die ersten Anhänger, arab. salaf, worauf sich auch die Salafisten berufen). In dieser Erzählung wird vorausgesetzt, dass diese ersten muslimischen Generationen die moralisch besten waren. Darauf folgten die ersten vier Kalifen. Nach ihnen sei der Islam korrumpiert worden, weshalb gläubige Muslime nun zum Ursprung zurückkehren müssten.
Dieser Rückkehr-Gedanke ist dem des Fortschritts diametral entgegengesetzt. In diesem Sinne ist der Islamismus im wahrsten Sinne des Wortes rückwärtsgewandt. Allerdings gibt es kaum oder keine Zeitzeugnisse zum Leben Muhammads und seiner Gefährten, sondern Darstellungen, die frühestens einige Jahrzehnte - eher ein oder einige Jahrhunderte - später entstanden. Mit einer historisch-kritischen Bewertung setzen sich Islamisten jedoch nicht auseinander.
In unseren digitalen und globalen Zeiten sind die Nachrichtenflut und die Kanäle oder Wege zu Informationen kaum noch überschaubar. Wer im Internet auf der Suche nach einer religiösen Erklärung im Bereich des Islam ist, erhält zum Beispiel als erste Ergebnisse salafistische, das heißt islamistische Inhalte angezeigt. Hier lernen die Suchenden ein Islamverständnis kennen, das der seit 1.400 Jahren gewachsenen und seitdem gelebten religiösen Vielfalt der heute nahezu zwei Milliarden Musliminnen und Muslime weltweit ablehnend gegenübersteht. Dieses Islamverständnis zeichnet sich nicht zuletzt durch eine vereinfachte Sicht, was gut und böse, richtig und falsch ist, aus. Diese Darstellungen leiten zu unkritischem, nicht zu hinterfragendem Gehorsam an.
Moscheen und Gebetsräume
Ein ähnliches Bild findet sich auch in einigen Moscheen und Gebetsräumen. Weil sich Deutschland jahrzehntelang kaum um die religiösen Belange der ins Land geflüchteten und zugewanderten muslimischen Gläubigen gesorgt hat, wurde diese Lücke von einigen Herkunftsländern religionspolitisch genutzt. Dieses Versäumnis besteht seit der Ankunft der ersten Gastarbeiterinnen und -arbeiter aus der Türkei in den 1960er und 1970er Jahren.
Die meisten Moscheen, die von Herkunftsländern wie der Türkei oder Saudi-Arabien betrieben wurden, predigten entweder einen ethnonationalistischen oder ultrakonservativen Islam, der mit den Werten der hiesigen demokratischen Gesellschaft wenig gemein hatte. So konnten sich diese Strömungen als Hauptrepräsentanten des Islams in Deutschland und vielen weiteren Ländern Europas festigen.
Ähnlich dem Rechtspopulismus und Rechtsextremismus verschwimmen auch in der „islamischen Welt“ die Grenzen von Konservativismus, Nationalismus, Demokratiefeindlichkeit und autoritär-patriarchalischem Denken. In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass es einen zunehmenden Graben zwischen diesen - aus den jeweiligen Herkunftsländern betriebenen - Moscheen und vielen in Deutschland sozialisierten muslimischen Jugendlichen gibt, da in den Moscheen weder die Lebensrealität der Jugendlichen noch deren sprachliche Zugänge berücksichtigt werden.
Erst in den letzten Jahren wandelt sich in der deutschen Politik das Bewusstsein für die Bedürfnisse muslimischer Bürgerinnen und Bürger. Mit der Einrichtung universitärer Institute für Islamische Theologie sollen Imame auf der Grundlage des demokratischen Rechtsstaates ausgebildet werden.
In Brandenburg leben rund 30.000 bis 35.000 Musliminnen und Muslime. Die islamistische Szene ist mit rund 200 Personen ein winziger Bruchteil davon. Im Fokus islamistischer Anwerbeversuche stehen besonderes hilfsbedürftige Geflüchtete.
Sinnsuche
Die Sinnsuche während des Erwachsenwerdens ist in demokratischen Gesellschaften eine kaum zu unterschätzende Herausforderung, da dem Individuum schier unbegrenzte Möglichkeiten zur Entfaltung zur Verfügung stehen.
Den Weg während der schwierigen Phase des Erwachsenwerdens zu gestalten, ist für die meisten Menschen eine Herausforderung und manchmal eine Überforderung. Familiäre, freundschaftliche und gesellschaftliche Einbettung bieten einen besonderen Stabilitätsanker für Heranwachsende.
Hinzu kommen weitere äußere Faktoren, wie:
- erlebte oder ausbleibende Erfolge (zum Beispiel beim Lernen oder im Sport),
- erfahrene oder mangelnde Wertschätzung,
- Liebes- und Freundesleben und seine Enttäuschungen,
- Ausgrenzung, Diskriminierung, Isolation,
- traumatische Erfahrungen wie familiäre Verluste, Kriegs- und Fluchterfahrung,
- Suchterfahrungen und vieles weitere.
In ihrer Gesamtheit beeinflussen sie die Persönlichkeitsentwicklung, oftmals im Zusammenspiel mit der Unterstützung, der Toleranz oder Intoleranz, die ein Mensch erfährt oder erlernt. Die Frage, weshalb, zu welchem Zweck sie hier sind oder ob es einen höheren Sinn überhaupt gibt, treibt viele junge Menschen um.
Erfährt ein junger Mensch in dieser Lebensphase zusätzlich Niederlagen, Enttäuschung, Diskriminierung und Rassismus, können Abkehr von der Gesellschaft und dem Verlust in das Vertrauen einer positiven Lebensgestaltung die Folge sein (verstärkende/ „push-Faktoren“). Islamistische Werber, die sich genau auf diese Umstände eingestellt haben, haben dann leichtes Spiel mit ihren „Klienten“.
Feindbild „Westen“/“Ungläubige“
Weitere Situationen, die Islamisten als anziehende Faktoren („pull-Faktoren“) nutzen, sind reale Krisenherde sowie erfundene Auseinandersetzungen. Reale sind zum Beispiel die Situation in Kriegsgebieten in Syrien, dem Irak oder Afghanistan, um nur einige zu nennen, in denen die Zivilbevölkerung unermesslich leidet und den Hauptteil der Opfer ausmacht. Gerade weil es nicht leicht ist zu erklären, weshalb es diese Krisen und Kriege gibt, bemühen Islamisten sich erst gar nicht darum, sondern behaupten, dass „der Westen“ Krieg gegen „den Islam“ führen würde.
Vor allem diejenigen, die ein hohes Maß an Gerechtigkeitsempfinden haben und gleichzeitig die Komplexität der Ereignisse nicht vollends erfassen wollen oder ergründen können, erhalten ein Feindbild „Westen“/“Ungläubige“, auf das sie sich konzentrieren.
Zusätzlich werden Videos und Bildmaterial aus den Krisenregionen gezeigt, zum Teil höchst professionell aufgearbeitet, so dass sich das Gefühl der Ungerechtigkeit und Ohnmacht steigert. Paaren sich diese Emotionen mit dem Bedürfnis, „etwas“ dagegen unternehmen zu wollen oder sogar zu müssen, ist es mit einem entsprechenden islamistischen Bekanntenkreis zur Ausreise oder zu Anschlagsplanungen nicht weit.
Dass die Konfliktlinien oftmals innerhalb der Gesellschaften verlaufen und Konfliktursachen oft vielfältig sind, wird von Islamisten ebenfalls verschwiegen, wie auch die durch die Jihadisten verübten Gräueltaten zum Beispiel an gewöhnlichen Musliminnen und Muslimen, Jesiden und christlichen Minderheiten im Irak und in Syrien.
Gezeigt werden Videos, die Hollywood-Filme oder Computerspiele nachahmen und angeblich heldenhafte Kämpfer für die Gerechtigkeit und für die Sache des Islams zeigen.
Es ist also eine Kombination aus negativer und positiver Propaganda, die einerseits die Ungerechtigkeit in der Welt und andererseits den Zusammenhalt der Gemeinschaft betont, die gewöhnliche Gläubige – die oftmals genauso wenig über ihre Religion wissen, wie Gläubige anderer Religionen – radikalisieren kann.
Soziales Umfeld
Erschwerend kann hinzukommen, dass jemand entweder in einer streng konservativen Familie aufwächst, in der viele der erwähnten Darstellungen unkritisch gesehen werden oder Gewalterfahrungen und Traumata ausgesetzt war.
Neben Enttäuschungen im Leben spielt das soziale Umfeld eine zentrale Rolle, wie zum Beispiel die Nähe zu kriminellen Milieus. Es gibt etliche Beispiele von heroisch-stilisierten Konversionsgeschichten, in denen Personen, die vor ihrem Glaubensübertritt kriminell waren, durch den Islam angeblich geläuterte Gläubige geworden sind. Was dabei oft nicht erwähnt wird, ist, dass diese ihre kriminelle Energie und auch den Hang zur Gewalt später als Jihadisten für den IS in Form von Verbrechen gegen die Menschlichkeit ausgelebt haben. Dennis Cuspert alias Deso Dogg ist wohl das bekannteste Beispiel für diese Art von Konversionsbiographie in Deutschland.
Radikalisierung verhindern
Die erwähnten Faktoren stellen einige Aspekte und Einfallstore für eine mögliche Radikalisierung dar, erschöpfen sich jedoch nicht darin. Die Komplexität menschlicher Erfahrungen, ihre psychische Verarbeitung und weitere Einflüsse sind schwer überschaubar und gestalten Lebensentwürfe und Lebensrealitäten äußerst individuell. Zentral für das Verhindern einer Radikalisierung sind Bildung, die Schaffung eines sozialen und demokratischen Umfelds und das, was man als Ambiguitätstoleranz bezeichnet. Es bedeutet, dass man andere Meinungen und Arten zu leben, denken und glauben, tolerieren lernt.
Je mehr Vielfalt ein Mensch so ausgesetzt ist, dass er sie im Blick auf seine Person gut verarbeiten kann, desto weiter wird seine Wahrnehmung einer komplexen Realität. Findet er Begleitung und Erläuterungen dazu, wird die Möglichkeit einer Radikalisierung geringer. Neben der Aufgabe von Spezialistinnen und Spezialisten, sich den radikalisierten Personen in der Deradikalisierungsarbeit zu widmen, bleibt es auch eine Aufgabe der gesamten Gesellschaft Radikalisierung zu verhindern.
Faktenbox
- Eine Radikalisierung ist ein komplexer und individueller Prozess, dessen Verlauf je nach Einzelfall bewertet werden muss.
- Eine Vielzahl von sozialen, psychologischen, religiösen, politischen und weiteren Faktoren befördern Radikalisierungsprozesse, ebenso wie sie ihnen entgegenwirken können.
- Islamisten werben in der Jugend- und Sozialarbeit sowie in Moscheen und Gebetsräumen gezielt junge Menschen an.
- Deradikalisierung ist die Aufgabe von Expertinnen und Experten, Radikalisierung zu verhindern ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Radikalisierung erkennen
Prof. Matthias Quent erklärt das Gewaltpotential von Radikalisierungsprozessen. Wir geben Linktipps zu Unterstützungsangeboten für Betroffene.
Caspar Schliephack, Dr. Yunus Yaldiz, Fachstelle Islam im Land Brandenburg, Juli 2022
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