Residenzpflicht. Schon der Begriff ist seltsam. In der Wikipedia heißt es:
„Eine Residenz (lat. Residentia / residere, sich setzen, niederlassen, wohnen, englisch: Residence, französisch: Résidence) ist ein fürstlicher oder königlicher Regierungssitz. … Das Residenzgebäude ist als Schloss oder Palast ausgeführt. Daraus folgt die Begrifflichkeit Residenzschloss.“
Die Residenz des Asylbewerbers ist in der Regel eine Sammelunterkunft. Je nach Bundesland 4,5 bis 6 Quadratmeter pro Person. Oft handelt es sich um alte Kasernen. Manchmal auch um Container. Meist liegen die Heime (schon wieder so ein Begriff) an abgelegenen Orten.
Das Asylverfahrensgesetz von 1982 beschränkt das Aufenthaltsrecht des Asylsuchenden auf den Landkreis, in dem die ihm zugewiesene Unterkunft liegt. Ein Geduldeter – also ein Flüchtling, der aus humanitären oder anderen Gründen nicht abgeschoben werden kann – darf sich immerhin im Bundesland frei bewegen. Die Ausländerbehörde hat allerdings auch die Möglichkeit, seine Aufenthaltsgenehmigung räumlich stärker zu begrenzen.
Wer seinen Aufenthaltsbereich verlassen will, muss einen Antrag stellen. Das Verfahren wird von den Ausländerbehörden höchst unterschiedlich gehandhabt. Manchmal wird für eine „Verlassenserlaubnis“ sogar eine Gebühr in Rechnung gestellt. 10 Euro sind viel für einen Asylbewerber, der ohnehin kaum Bargeld bekommt. Auf dem Erlaubnisschein werden Zieladresse und Geltungsdauer vermerkt. Wer ohne diesen Schein erwischt wird, begeht eine Ordnungswidrigkeit und riskiert ein Bußgeld. Mehrfache Verstöße werden als Straftaten behandelt, die oft mit hohen Geldstrafen verbunden sind und auch aufenthaltsrechtliche Folgen (Ausweisung und Abschiebung) haben können.
Beate Selders ist mir als Autorin einer lesenswerten Dokumentation zum Fall Ermyas in Erinnerung geblieben, die 2008 vom Verein Opferperspektive veröffentlicht wurde. Nun hat sie in Kooperation mit dem Flüchtlingsrat Brandenburg und der Humanistischen Union eine Broschüre zur Residenzpflicht von Flüchtlingen vorgelegt. Auf 143 Seiten wird über die gesetzlichen Grundlagen der Residenzpflicht, die Verwaltungspraxis, die relevanten Gerichtsentscheidungen und die Situation der Betroffenen informiert. Der Text ist spannend zu lesen, denn auch die Flüchtlinge selbst werden ausführlich zitiert. Zudem enthält die Broschüre Interviews mit Juristen, Flüchtlingsinitiativen und Wissenschaftlern. Die Fallbeispiele stammen vorwiegend, aber nicht ausschließlich, aus Brandenburg.
Dass es die Residenzpflicht (und ähnliche Einschränkungen) für Asylbewerber gibt, war mir bekannt. Über die konkreten Folgen für die Betroffenen hatte ich allerdings nicht weiter nachgedacht. Und von den bizarren verwaltungstechnischen Ausgestaltungen des Asylverfahrens wusste ich gar nichts. Welche Bedeutung hat die Residenzpflicht z. B. für einen Flüchtling in Hennigsdorf?
„Es grenzt direkt an Berlin. Die S-Bahn fährt alle zwanzig Minuten ins Zentrum der Metropole. Wer nach Berlin möchte, muss aber zunächst zur Ausländerbehörde ins 20 km entfernte Oranienburg und 20 km zurück fahren, um dann die paar Stationen mit der S-Bahn zum eigentlichen Ziel zu gelangen.“
Berlin ist für Flüchtlinge, die in Brandenburg untergebracht sind, selbst dann ein Problem, wenn sie die Stadt gar nicht besuchen wollen. Berlin liegt nämlich dummerweise genau in der Mitte von Brandenburg. „Wer sich zum Beispiel in Brandenburg mit öffentlichen Verkehrsmitteln von Nord nach Süd oder Ost nach West bewegen will, muss durch ein anderes Bundesland, nämlich Berlin, fahren oder dort umsteigen.“ Für die Benutzung der „Transitstrecke“ braucht man eine Genehmigung.
Der Broschüre ist zu entnehmen, dass Deutschland das einzige Land in Europa ist, in dem es die Residenzpflicht in dieser strikten Form gibt. Besonders problematisch ist, dass Flüchtlinge oft viele Jahre mit dieser doch sehr massiven Beschränkung ihrer Freiheit leben müssen.
„Ich habe zwei- oder dreimal einen Urlaubsschein beantragt. Keiner wurde bewilligt. Ich wollte einfach nur raus, mal was anderes sehen und musste eine Anschrift angeben. Ich habe mir eine ausgedacht, und das haben sie gemerkt.“ (Vietnamesischer Flüchtling in Brandenburg)
Die Broschüre kostet 5 Euro (plus Versandkosten). Weitere Informationen zum Inhalt und zu den Bestellmöglichkeiten finden Sie hier. Auf der Homepage des Flüchtlingsrats Brandenburg steht außerdem eine Fallsammlung zur Residenzpflicht (PDF, 9 S.) zum Download bereit.
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