Seit 2002 gibt es an der Uni Bielefeld ein Forschungsprojekt, das sich mit gruppenbezogenen menschenfeindlichen Einstellungen in der bundesdeutschen Bevölkerung befasst. Ziel ist es, die relevanten Entwicklungen über einen längeren Zeitraum (zunächst bis 2012) zu beobachten und zu analysieren. Die Forschungsergebnisse werden jährlich in der Suhrkamp-Reihe „Deutsche Zustände“ publiziert und darüber hinaus in der Presse vorgestellt. So veröffentlichte z. B. der Projektleiter Prof. Dr. Wilhelm Heitmeyer Anfang Dezember einen Artikel in der ZEIT.
Die Daten und Analysen aus diesem Projekt sind nicht nur von theoretischer Bedeutung, sondern können in sinnvoller Weise auch für die Präventionsarbeit nutzbar gemacht werden. „Ey, du Opfer...?“ heißt eine kürzlich erschienene Broschüre der Amadeu Antonio Stiftung (PDF, 49 S.). In ihr wird ein Verfahren vorgestellt, das an zentrale Erklärungsansätze des Bielefelder Projekts anknüpft.
Rassismus, Sexismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Islamophobie, Homophobie, Abwertung von Obdachlosen, Herabsetzung von Behinderten. Dies sind nur einige Dimensionen des Konzepts „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“, das am Bielefelder Institut entwickelt wurde. Die große Spannweite des Begriffs ist angebracht, denn die Forschungsergebnisse zeigen, dass Menschen ihre Feindseligkeit oftmals nicht nur gegen eine Gruppe richten, sondern gleich gegen mehrere.
Wie kommt es zu dieser abwertenden Haltung? Die Bielefelder Sozialwissenschaftler (und nicht nur sie) vertreten die These, dass die Abwertung häufig der eigenen Aufwertung dient. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ist demnach auf ein schwaches Selbstwertgefühl zurückzuführen. Genau hier kann die Prävention ansetzen. Anetta Kahane schreibt im Vorwort zur Broschüre: „Wer Anerkennung erleben konnte, wer bereits gehört, gesehen und bei Vorschlägen und Entscheidungsprozessen respektiert wurde, ist weniger anfällig dafür, sich Beifall von der falschen Seite zu suchen und/oder andere abzuwerten, um sich selbst aufzuwerten.“ Es kommt mithin darauf an, den Menschen die Erfahrung von Wertschätzung zu ermöglichen, um ihre „Anerkennungsbilanz“ zu verbessern.
Jugendliche und Pädagogen aus verschiedenen Regionen haben im Rahmen eines einjährigen Projekts eine Methodik entwickelt, die darauf gerichtet ist, die „Anerkennungskultur“ in Bildungsinstitutionen zu verbessern. Das Verfahren heißt „Anerkennungsaudit“ (lateinisch „audire“ = „hören“). Im ersten Schritt wird eine gemeinsame Bestandsaufnahme zum Zustand der Anerkennungskultur in der jeweiligen Institution vorgenommen. Ein ausführlicher Fragenkatalog zur Bewertung ist in der Broschüre abgedruckt. Auf der Basis des Ist-Zustandes werden anschließend Ziele zur Weiterentwicklung der Institution vereinbart. Im dritten Schritt sollen dann konkrete Maßnahmen in vereinbarten Zeiträumen umgesetzt werden. Abschließend werden die erzielten Wirkungen gemeinsam bewertet. Der Entwicklungsprozess kann danach weitergeführt werden, indem der Ablauf wiederholt wird.
Die Broschüre enthält einen Leitfaden, in dem die Methodik und der Ablauf des Anerkennungsaudits erklärt werden. Das Verfahren eignet sich nach Angaben der Autoren für ältere Kinder und Jugendliche. Über die praktischen Erfahrungen vor Ort kann man sich in vier Berichten der regionalen Projektgruppen (u. a. aus Bernau und Schwedt) informieren.
Fazit: Eine empfehlenswerte Lektüre für Lehrer, Jugendarbeiter und Eltern!
Links:
Informationen der Universität Bielefeld zum Forschungsprojekt und zum Konzept Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit
Kurzinfos der Amadeu Antonio Stiftung zum Anerkennungsaudit; Erfahrungsberichte aus der Dreiklang-Oberschüle in Schwedt und aus dem Stadtteilzentrum Bernau-Süd Bestellmöglichkeit für die Printausgabe der Broschüre „Ey, du Opfer…?“
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