Mit nicht nachlassender Begeisterung schwärmt Ilsa-Marie davon, dass der Himmel über der Uckermark höher und klarer ist als anderswo, das Licht intensiver und die Flächen offener. „Hier ist auch nicht jeder Misthaufen geharkt“, sagt sie und dass sie es ein wenig unkultivierter mag, was nicht mit chaotischer Unaufgeräumtheit zu verwechseln ist.
Wann ihre Liebe zur Uckermark begann, weiß sie nicht mehr genau. Jedenfalls nicht beim einzigen Besuch in Wilsickow noch zu DDR-Zeiten. Die Gelegenheit kommt bei einem Treffen der evangelischen Kirche im vorpommerschen Greifswald, bei dem sie mit ihrem Lebensgefährten teilnimmt. „Es war im August 1989, und die Welt war schon ein wenig anders. Wir waren neugierig und so haben wir uns heimlich auf den Weg gemacht. Und dann standen wir vor dem Herrenhaus. Die Leute waren nett und haben uns alles gezeigt. Und wir dachten immer nur, ogottogott, was ist das hier! Wir sagten uns, wie gut, dass wir es gesehen haben, aber welch ein Glück, dass wir da nichts machen müssen. Dann kam die Wende und alles war anders.“
Nach dem Mauerfall ist sie 33 Jahre alt, geschieden, hat drei kleine Kinder und einen neuen Partner. Eigentlich verläuft ihr Leben in geordneten Bahnen. Für ihren Geschmack vielleicht ein wenig zu geordnet, manchmal auch eng und spießig. „Das Lehrerkollegium war nett, die Jüngsten aber schon 50 – was sollte da noch kommen?“
In den folgenden zwei Jahren fährt sie mit ihrem Lebensgefährten hin und wieder in die Uckermark. Sie sehen die Veränderungen in Wilsickow, sprechen mit den Menschen und überlegen, ob sie den radikalen Wechsel wagen sollen. Ab 1992 steht das ehemalige Herrenhaus leer.
Aus einer Idee wird ein Konzept: Im Haus ihrer Vorfahren sollen Kinder aus schwierigen Verhältnissen für einige Zeit einen neuen Familien-Ort finden. Wichtig ist, dass das Paar mit den Zöglingen zusammen unter einem Dach wohnt, feste Regeln den Tagesablauf bestimmen und die Kinder bei Schulproblemen und Hausaufgaben betreut werden.
Sowohl die Kollegen als auch die Geschwister erklären beide für verrückt. „Mein Mann war dann viel mutiger als ich, der war in einer richtigen Aufbruchstimmung“, erinnert sich Ilsa-Marie von Holtzendorff. „Vielleicht lag es auch daran, dass sein Berufswunsch zunächst Landwirt war, bevor er dann doch Lehrer wurde.“ Sie lässt sich anstecken von seiner Begeisterung, vorausgesetzt, sie können das alte Herrenhaus kaufen und umbauen. Der Kaufpreis ist ein erster Dämpfer für die Umsetzung ihrer Ideen. Die Gemeinde lässt den Marktwert von einem Institut schätzen und will 200.000 DM haben. Ilsa-Marie behält die Nerven und sagt ab. Nach vier Wochen meldet sich die Gemeinde wieder bei ihr und sie einigen sich doch. Haus und etwas Grünland drum herum wechseln für 70.000 DM den Eigentümer. Das Geld für den Kaufpreis leiht ihnen Verena Gräfin zu Stolberg, geborene von Holtzendorff, jüngste Schwester des Vaters und Ilsa-Maries Tante. ...
Das Geld, das sie ihr leiht, ist das Geld, das Ilsa-Marie später erben soll. Alle anderen Ausgaben müssen über Kredite finanziert werden. Doch der Traum von einem Leben in Wilsickow scheint zu platzen, bevor er richtig begonnen hat. Das Paar hat den Schuldienst verlassen und sich von seinem bisherigen Leben verabschiedet. Der Umzugswagen ist bestellt. In dieser Situation erfahren sie, dass die ursprüngliche Kalkulation für den Umbau nicht reicht. Das Haus ist in einem schlechteren Zustand als abzusehen war und deshalb werden sich die Baukosten verdoppeln. Der Kreditrahmen ist ausgeschöpft. Doch sie geben nicht auf, sie haben auch keine andere Wahl. Ilsa-Marie sagt:
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es immer einen Weg gibt. Man muss nur allen von seinem Leid erzählen.“
Der Vater hilft mit Geld und einem Vorschuss an Vertrauen. Ilsa-Marie zieht mit ihrem Mann und den Kindern in eine kleine Wohnung im Dorf, managt von hier aus den Umbau und die Renovierung. Schließlich startet das Paar im Januar 1995 mit viel Optimismus und zwölf Pflegekindern in die neue Berufstätigkeit.
Die Wilsickower nehmen Anteil an der Rückkehr der „ehemaligen Herrschaft“. Alte Frauen kommen zu Besuch und erzählen, dass sie als Stubenmädchen beim letzten Gutsbesitzer Dietrich von Holtzendorff in Stellung waren. Die Alten sind es, die aussprechen, was manche denken. Sie fragen, wieso die Enkel das zurückkaufen müssen, was der Familie einmal gehörte. Es sind berührende und informative Gespräche, die Ilsa-Marie mit den alten Frauen führt. Rückblickend bedauert sie, nicht ausführlicher mit ihnen gesprochen und die Erinnerungen aufgenommen zu haben; doch das neue Leben beansprucht ihre gesamte Zeit und Kraft.
Auszug aus dem Begleitbuch zur Ausstellung: Heimat verpflichtet
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