„Michael Kohlhaas“ und die reale Gewalt

Ein Bericht aus Frankfurt (Oder)

Dokumentation der Geschehnisse

"Große Freiheit? oder: Alle Menschen werden rüder." Uwe Müller-Fabian

"Große Freiheit? oder: Alle Menschen werden rüder." Uwe Müller-Fabian

Mai 2001
Schülerinnen und Schüler der damaligen 9. Klasse der 8. Gesamtschule nehmen eine kreative Arbeit zum Thema Illustration zu Kleists „Michael Kohlhaas“ zum Anlass, um über „Spirale der Gewalt“, Ursachen von Aggression, verbale und tätliche Gewalt und Lösungsmöglichkeiten zu sprechen.

Anfang Juni 2001
Mitten in die praktische Arbeit an der Illustration platzt die Nachricht: Die Schülerin K. aus unserer Klasse wurde von ihrer Klassenkameradin N. und deren Freundin M. aus einer anderen Klasse am Nachmittag außerhalb der Schule im Neubauviertel brutalst zusammengeschlagen.

Anlass war eine Äußerung der K. gegenüber der N., die unwahr sein sollte. N. nahm sich M. zur Verstärkung mit, denn diese „kann gut zuhauen“. Erst nach dem sich „Schaulustige“ einmischten bzw. die Mutter der K. anriefen und Hilfe schnell kam, ließen die beiden von K. ab, sie wurde sofort zum Arzt gebracht.

Am nächsten Tag erschien die Mutter von K. bei der Schulleitung der 8. Gesamtschule und bat um Hilfe, obwohl sich das Geschehnis außerhalb der Schule abspielte.

Die Schulleitung nahm sich umgehend des Problems an, schaltete die Sozialarbeiterin Frau Rangelov ein, diese lud die Eltern der beteiligten Kinder ein, die Klassenleiterin, die drei Schülerinnen und die Polizistin Frau Bandun vom Regionalkommissariat Jugendkriminalität wünschte ebenfalls die Teilnahme am Gespräch.

Oktober 2001
Nach einer Information der Mutter von K. laufen die Ermittlungen noch.
 

Eindrücke

Simone Rangelov, Sozialarbeiterin an der 8. Gesamtschule:

Im Juni dieses Jahres klopfte es an meiner Tür. K. stand mit ihrer Mutter vor meinem Büro. Was ich sah konnte ich nicht fassen! Ich kannte K. ein wenig vom Sehen. War sie das wirklich? Ihr Gesicht war vollständig zugeschwollen und entstellt, das Sprechen fiel ihr sehr schwer, weil der gesamte Mundbereich angeschwollen war. So etwas hatte ich noch nicht gesehen! Ich war tief erschüttert und entsetzt, konnte nicht begreifen, wie jemand einen anderen so zurichten kann.

K.s Mutter war wütend, voller Zorn, entsetzt darüber, wie Mitschüler ihrer Tochter dies antun könnten. Immer wieder sagte sie: „Ich kenne meine Tochter gut, sie ist nicht einfach, macht auch viele Probleme. Aber was K. je getan hat, es rechtfertigt nicht dieses Ausmaß an Brutalität. Das hat niemand verdient.

Der Wunsch der Mutter von K. war es, dass die beiden Mädchen, die ihre Tochter so verprügelt und entstellt hatten, sehen sollten, was sie angerichtet haben.

Diesen Wunsch der Mutter respektierten wir und organisierten eine Gesprächsrunde mit den beteiligten Mädchen, den betroffenen Eltern, der Klassenleiterin von K. und mir. Als sehr positiv empfand ich die Anwesenheit einer Polizistin, die die Anzeige, die K.s Mutter gemacht hatte, bearbeitete.

Wir saßen in einem Stuhlkreis. Ich eröffnete die Gesprächsrunde. Mir war sehr mulmig zumute. Die Luft knisterte vor Anspannung und Entsetzen. Ich hatte Sorge vor einer Eskalation. Es gab einen Wechsel von ruhigen Phasen des Sprechens und Zuhörens sowie auch Phasen, die von Wut und Zorn sowie Vorwürfen geprägt waren. Die Mutter von K. war wie erwartet sehr aufgebracht, K. konnte schon etwas besser sprechen als am Tage zuvor, wirkte aber verstört. Wir rekonstruierten den Tathergang. Alle kamen zu Wort. Eine Frage beherrschte den Raum. Warum diese Brutalität? Eine der beiden Täterinnen zeigte kleine Zeichen von Reue, die andere schien von der gesamten Situation unberührt.

Mich bewegte diese Tat und die Gesprächsrunde noch sehr lange. Einerseits entsetzt über die Brutalität und die Reaktionen darauf und andererseits zufrieden über den relativ ruhigen Verlauf der Gesprächsrunde.

Kerstin Filep, eine der beiden Klassenlehrerinnen der 10c und Kunsterzieherin an der 8. Gesamtschule:

Illustration war angesagt. Mein Credo: Jeder meiner Frankfurter Schüler sollte mit Heinrich von Kleist, dem sprachgewaltigen Erzähler und Dramatiker, der immer den Finger an der Wunde seiner Zeit hatte, in Berührung gekommen sein, auch wenn er es mit seiner Art des Schreibens dem Leser von heute nicht leicht macht.

Welches seiner Werke kommt für meine 10c in Frage, in einer Zeit, in der uns Gewalt, ob verbal oder tätlich, Aggression und Brutalität fast täglich tangieren? Kleists Erzählung „Michael Kohlhaas“ war sofort in meinem Kopf.

Ich besprach diese Gedanken mit der Klasse, deutete den Schülern an, dass wir anhand dieser Geschichte nicht nur etwas über Kleist und seine Zeit, sondern viel über uns erfahren könnten. Sie stimmten zu, eine Kulturredakteurin der „Märkischen Oderzeitung“ hatte Interesse an diesem Projekt angemeldet.

Die Schüler waren gerade mit dem Inhalt der Erzählung vertraut, hatten lebhaft und offen diskutiert. Sie spürten, wie beklemmend aktuell und allgegenwärtig das Schicksal des Michael Kohlhaas auch ihnen war, wir schöpfen erste Ideenskizzen und Entwürfe zu unserer Schabkarton – Illustration - da holte uns die Realität ein. Zwei Schülerinnen unserer Klasse und eine aus der 8. Klasse setzten sich am Nachmittag außerhalb der Schule tätlich auseinander mit einer Brutalität, wie ich sie in meiner gesamten Berufstätigkeit noch nie erlebt hatte.

Erst einmal war nicht an Weiterarbeiten zu denken, es musste gesprochen werden. Jeder sollte den anderen ungestört zu Wort kommen lassen, was sich natürlich nicht einfach gestaltete. Ein weites Spektrum von sehr erwachsenen, einfühlsamen, emotionsgeladenen über erschreckend kaltschnäuzigen Meinungen zu dieser Tat gab es, z.B. „Die hat’s schon lange verdient mit ihrem Schandmaul“ über „So ist nun mal die heutige Zeit, nur der Stärkere siegt“ über „ist mir doch egal, so was passiert nun mal täglich“.

Als wichtig empfand ich, dass die Klasse meine Meinung dazu klar und deutlich erfuhr und dass Schüler, die Probleme haben, von mir ernst genommen werden und diese artikulieren können, dass es für jedes Problem eine Lösung gibt.

Die Illustrationen zu „Michael Kohlhaas“, entstanden also unter diesem Eindruck der Geschehnisse. Den Schülern wurde bewusst, wo eine Spirale von Gewalt enden kann, sowohl literarisch überhöht in der Novelle von Kleist, als auch ganz real in ihrem Leben.

Die Kulturredakteurin der „MOZ“ übrigens bekam kalte Füße angesichts der Situation und berichtete lieber aus einer privaten Malschule, wie Kinder aus meist wohlbehüteten Elternhäusern Kleist illustrierten.
 

Gesprächskreis
Aussagen und Gefühle

Schülerin K., die Betroffene:

Ich habe zwar etwas Angst vor dem Gespräch gehabt, weil ich ja den Mädchen gegenüber saß, trotzdem fühlte ich mich geborgen und sicher, weil sich viele Menschen um mein Problem kümmerten.

Ich war enttäuscht, dass die Mutter der Schülerin M., die mich geschlagen hatte, nicht erschien und das M. keinerlei Regung zeigte, nur starr und trotzig auf die Erde starrte. Die Mutter von N., die mich festgehalten hatte, wirkte auf mich traurig, sprachlos und schockiert über das, was ihre Tochter fertiggebracht hatte. N. fing an zu weinen, ich dachte, es tut ihr leid, später erfuhr ich, dass sie nur aus Angst vor Strafen (Geld) heulte.

Ich fand gut, wie Frau Rangelov das Gespräch führte, ruhig und sachlich. Ich hatte das Gefühl, meine Klassenlehrerin Frau Filep stand auf meiner Seite, spürte aber auch Schuld meinerseits, da ich schon so oft durch meine große Klappe und meine Lügereien, durch die ich mich wichtig machen will, Probleme hatte und habe. Sehr gut gefielen mit die Worte von der Polizeibeamtin Frau Bandun, die uns ganz leise aber eindringlich die Folgen dieser Taten deutlich machte.

Mir ist klar, dass ich an meinem Verhalten arbeiten muss. Daher nahm ich den Vorschlag der Schule an, in der Konfliktlotsengruppe zu arbeiten. Die Ausbildung läuft mit Unterstützung von Studenten der Universität „Viadrina“, mit Frau Rangelov, mit der Lehrerin Frau Redlich, die LER unterrichtet und einer Gruppe von Mitschülern. Ich glaube, dass ich in den letzten Wochen schon ein Stück voran gekommen bin, obwohl es noch immer kleine Rückschläge gibt. Bald werde ich Mitschülern helfen können, Konflikte friedlich zu lösen.

Mutter von K., Frau W.:

Auf die Frage, warum sich Frau W. an die Schule wandte: „Was bleibt mir übrig, wie sollte ich reagieren, da ich ahnte, wie sich die Mutter der Schlägerin verhielt? Da war nichts zu klären. Ich brauchte dringend Hilfe, mein erster Gedanke war, mich an die Schule zu wenden.“ Ich empfang die Atmosphäre des Gesprächs gut, musste mich natürlich bremsen, als ich die beiden Mädchen vor mir sitzen sah, konnte mich aber immer wieder fangen.

Die Mutter von N., die meine Tochter festhielt, während M. auf K. einprügelte, zeigte meiner Meinung nach eine vernünftige Reaktion, entschuldigte sich für die Tat ihrer Tochter, wirkte jedoch schwach und hilflos. Nach dem Gespräch fühlte ich mich freier und ruhiger. Ich würde immer wieder Hilfe suchen in der Schule und hoffe sehr, dass das Verfahren gegen die beiden Schülerinnen, das noch läuft, Konsequenzen hat und nicht im Sande verläuft.

Klassenlehrerin von K. und N., Kerstin Filep:

Ich war beeindruckt von der Ruhe und Sachlichkeit des Kreisgesprächs trotz großer Emotionen einiger der Beteiligten. Die Sozialarbeiterin, Frau Rangelov war gut vorbereitet, ruhig und mitfühlend. Sehr gut brachte sich die Polizeibeamtin Frau Bandun ein, indem sie leise aber sehr eindringlich die Folgen solcher Taten deutlich machte und auch persönlich ihre Betroffenheit über das Geschehne äußerte.

Mich erschütterte am meisten, wie verantwortungslos einige Eltern mit ihren Kindern umgehen, wie hilflos und überfordert sie wirken. Dann sollen die Lehrer ran, sie haben jedoch kaum eine Chance, denn die Saat ihrer „Erziehung“ ist bereits aufgegangen.

Schülerin N., eine der Täterinnen, die K. festhielt bei der Prügelei:

Ich war unheimlich sauer auf K., da sie ganz schlimme und unwahre Dinge über mich verbreitete. Reden half nichts, ich hab’s einfach nicht mehr ausgehalten. Ich erzählte alles meiner Freundin M. und diese war bereit, „K. eins aufs Maul“ zu geben. Als wir K. zur Rede stellten, sagte diese auch noch „schlagt doch zu, macht doch“ und das hat uns noch mehr gereizt. Ich hielt K. fest und M. schlug und schlug, sie geriet in einen Rausch. Es tut mir alles leid aber verdient hat sie es, denn mit anderen Menschen macht sie’s genauso, nur um Aufmerksamkeit zu bekommen. Meine Qual war einfach zu groß.

Kommissarin Silvia Banduhn, Dez. Kriminalitätsbekämpfung, Jugendkommissariat Frankfurt (Oder):

Mir bot sich im eigentlichen Sinn des Wortes ein „Bild des Schreckens“. Die Verletzungen waren schlimmer als erwartet und um so erschreckender war der Gedanke, dass dies eigentlich durch zwei Mädchen verursacht worden war. Jeder der Anwesenden äußerte sich zu diesem Sachverhalt.

Für mich als Polizeibeamter um so schwieriger, da es sich hier um ein Ermittlungsverfahren handelte und mein Gegenüber unter anderem die zwei Beschuldigten waren.

Also teilte ich beiden Beschuldigten mit, dass ich als Vertreter der Polizei anwesend bin und gegen sie mit Erstattung der Anzeige ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde. Ich erklärte ihnen, um ihnen zu verdeutlichen was es heißt, jemanden erheblichen zu schlagen, wie der Ablauf und die Folgen eines Ermittlungsverfahrens sind. Auch was es heißt, Drohungen gegenüber Dritten anzusprechen, um so weitere Übergriffe zu verhindern. Sie sollten nachdenken über ihre Tat, denn es geht im Jugendstrafrecht um Erziehung.

Also dachte ich, erst wenn du ihnen verdeutlicht hast, um was es hier eigentlich geht, fangen sie selbst an darüber nachzudenken, was sie falsch gemacht haben und handeln in einer ähnlichen Situation anders.

Ich wies sie auf den moralischen Aspekt ihrer Tat hin und versuchte an Beispielen zu erläutern, dass man Meinungsverschiedenheiten nicht mit Schlägen austragen kann.

Es war für mich wichtig, die richtigen Worte zu finden und es leicht verständlich zu erörtern, da gerade bei Jugendlichen ein „Polizeideutsch“ nicht gerade auf großes Interesse stößt.

So redete ich vom Umgang miteinander, ging auf Unterrichtsstoff ein – wie diskutieren wir richtig – Toleranz gegenüber anderen, Umgang mit Konfliktsituationen usw. Auch konfrontierte ich sie mit dem Aussehen und den Schmerzen der Geschädigten und fragte sie, ob sie so behandelt werden möchten, nur weil sie anderer Meinung sind oder in ein oder der anderen Situation anders reagiert haben, als von ihnen erwartet. Ich sprach über alltägliche Dinge im Leben, auch über mein Berufsleben, wo es sicherlich auch Meinungsverschiedenheiten gibt, die ich selbst auch nicht mit Fäusten klären kann.

Auch sagte ich Ihnen, dass man im Leben tolerant sein muss, da man sicher nicht mit jedem Menschen gleich gut auskommt. Man muss dies aber einordnen können und sollte einen guten Umgang untereinander haben. Abschließend riet ich den Mädchen, vielleicht einmal darüber nachzudenken, einen Menschen im Leben so zu behandeln, wie man selbst behandelt werden möchte, auch in bestimmten Konfliktsituationen.

Karikatur von Klaus Stuttmann

Karikatur von Klaus Stuttmann

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