Die Anti-Sarrazin-Studie

„Ich bin ein zahlenorientierter Mensch“, äußerte Thilo Sarrazin anlässlich der Veröffentlichung seines Buches gegenüber der WELT. „Meine Meinung über Türken in Kreuzberg habe ich mir nicht dadurch gebildet, dass ich hier durchgegangen bin und gesagt habe: schon wieder ein Kopftuch oder schon wieder ein Kinderwagen.“ Vielmehr habe er sich die Statistiken angeschaut. Es sei „erstaunlich, wie viele Menschen über das Buch reden, ohne es gelesen zu haben“.

 Die Mitarbeiter des Forschungsprojekts Hybride europäisch-muslimische Identitätsmodelle an der Berliner Humboldt-Uni haben das Buch gelesen und dabei insbesondere Sarrazins Statistiken einer genauen Prüfung unterzogen. „Auch nach intensiver Lektüre“ blieben Sarrazins Thesen „tendenziös und pauschal abwertend“, lautet das Urteil des Forschungsteams (S. 55).

 Dass es Probleme gibt, wird auch von den Autorinnen der „Anti-Sarrazin-Studie“ nicht in Abrede gestellt. Das Datenmaterial, das Sarrazin verwende, sei aber keineswegs neu, sondern bereits seit Jahren bekannt. Über Integrationsprobleme werde bereits seit geraumer Zeit „intensiv und konstruktiv“ diskutiert (S. 10). Sarrazin verschweige die positiven Entwicklungen auf vielen Feldern: „Für die letzten fünf Jahre sind relevante Fortschritte in der Integration statistisch messbar und nachweisbar“ (S. 8).

Das knapp 70 Seiten umfassende Dossier soll ein „empirisch-analytischer Gegenentwurf“ (S. 5) zu Sarrazins Thesen sein. In der Tat wird hier ein deutlich anderes Bild von der deutschen Einwanderungsgesellschaft gezeichnet. Nur einige (von mir etwas vereinfacht dargestellte) Beispiele:

Sarrazins Behauptung, es gebe bei muslimischen Migranten keine positive Bildungsentwicklung, kann durch zahlreiche Statistiken widerlegt werden. Z. B. verlassen die Angehörigen der zweiten Zuwanderergeneration das Schulsystem deutlich häufiger mit einem Schulabschluss als die Elterngeneration. Bei Personen mit türkischem Migrationshintergrund ist die Dynamik besonders bemerkenswert: Während nur 3 Prozent der ersten „Gastarbeiter“ über einen höheren Bildungsabschluss (Abitur oder Fachabitur) verfügten, lag der Anteil 2008 bei 22,4 Prozent. „Dies ist ein Bildungsanstieg von ca. 800 Prozent, obwohl gerade diese Gruppe von Sarrazin als besonders lernunfähig dargestellt wurde“ (S. 12).

Der Anteil der türkischen Migranten, die von Hartz IV leben, ist nach Angaben der Autoren deutlich niedriger als von Sarrazin behauptet (nicht 40 Prozent, sondern 9,5 Prozent). 70 Prozent der in Deutschland lebenden Türken verfügen über gute bis sehr gute Kenntnisse der deutschen Sprache. 70 Prozent der Frauen mit muslimischem Migrationshintergrund tragen kein Kopftuch.

Auch Sarrazins Einwanderungsszenarien sind fragwürdig - zumindest für die Gruppe der Personen mit türkischem Migrationshintergrund. Hier gibt es nämlich bereits seit acht Jahren einen negativen Wanderungssaldo. Es sei mithin eher davon auszugehen, dass der Anteil der Türken, die aus Deutschland in die Türkei auswandern werden, weiter wachsen werde. Diese Tendenz betreffe insbesondere die „Zuwanderungselite“. „Bei Studierenden mit türkischem Migrationshintergrund äußern 36 Prozent den Wunsch, in die fremde Heimat der Eltern abzuwandern“ (S. 15).

Der Sarrazin-Debatte können die Autorinnen der Studie verständlicherweise wenig Gutes abgewinnen: „Thilo Sarrazin hat mit seinen Ausführungen Dämme brechen lassen. Die Grenze des Sagbaren hat sich im Zuge der Debatte verschoben und der Diskursraum hat sich bis an den Punkt öffentlicher Diffamierungen verlagert“ (S. 56). Gerade vor diesem Hintergrund ist es aber zumindest erfreulich, dass die Reihe der gut begründeten Gegenstimmen nun um eine empirisch ausgerichtete Studie erweitert wurde.

Das Dossier „Sarrazins Thesen auf dem Prüfstand“ (aus dem oben zitiert wird) sowie weitere Daten und Fakten zur Thematik finden Sie hier.

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