Wer schlechte Arbeitsbedingungen hat, ist selbst schuld und wer streikt, ist faul und dumm. Lina Dingler ärgert sich über solche Verunglimpfung von Streikenden. Sie plädiert für Solidarität und vor allem mehr Wissen darüber, dass Streiken ein im Grundgesetz verankertes Recht ist.
Hast du einen dummen Sohn… Der Chef der Lokführergewerkschaft GDL, Claus Weselsky, nutzt gern den in der DDR bekannten Spruch. Er wird in verschiedenen Abwandlungen noch heute von der Netzgemeinde bezeugt und meint im Kern, dass die Dümmsten der Dummen bei der Bahn, der Post oder eben in Unternehmen unterkommen, die für Pleiten, Pech und Pannen bekannt sind. Dass der Spruch in einem Spiegel-Beitrag ausgerechnet im Zusammenhang mit einem GDL-Streik zitiert wurde, ärgert mich. Die Post streikt und auch die Kita-Mitarbeiter. Alles dumme Menschen?
Ein Vater aus Zeuthen (Dahme-Spreewald), dessen Kind in eine bestreikte Kita geht, scheint die gegenwärtige Stimmung in der Bevölkerung widerzuspiegeln: „Anfangs hatte ich noch Verständnis, doch nun ist meine Geduld am Ende. Dann haben die sich einfach den falschen Beruf ausgesucht, mit schlechter Bezahlung. Selbst Schuld.“
Hallo?! Es gibt in diesem Land ein Recht auf Streik. Artikel 9 III des Grundgesetzes hält fest, dass ein Streik ein verfassungsrechtlich garantiertes Arbeitskampfmittel ist. Eine wichtige Bedingung ist demnach, dass der Streik von einer Gewerkschaft geführt wird und sich dieser gegen einen Tarifpartner, Arbeitgeber oder Arbeiterverband richtet. Durch den Streik muss ein tariflich regelbares und zulässiges Ziel erstrebt werden, beispielsweise die Regelung von Löhnen und Urlaub.
Genau darum ging es im Kita-Streik und der jetzige Schlichtungsvorschlag empfiehlt eben das: höhere Löhne für die insgesamt 240.000 Erzieher und Sozialarbeiter, die sich jeden Tag um die Kinder anderer Leute kümmern und dabei noch Freude haben.
Ehrlich gesagt, erwarte ich mehr Solidarität mit den Streikenden. Als es durch den GDL-Streik kaum möglich war, mit der Bahn zur Uni zu kommen, reichten die Meinungen meiner Kommilitonen von "Die kriegen den Hals nicht voll genug." bis "Wie kann man nur so faul sein, sowas kann ich mir nicht erlauben." Vor einigen Wochen führte ich darüber ein Streitgespräch mit einem Freund und fragte ihn, ob er sich denn schon mal mit einem Lokführer unterhalten habe über dessen Arbeitsbedingungen? Schweigen.
Die Denkweise der meisten Menschen scheint also klar. Zunächst beginnt die Überlegung, inwieweit der Streik den eigenen Alltag einschränkt. Überschreitet diese Einschränkung einen gewissen Zeitraum, steigt die Empörung und es wird begonnen, die Forderungen der Streikenden mit den eigenen Arbeitsbedingungen zu vergleichen. Dann streik doch selber, möchte ich dann manchmal rufen. Zeitweise bestand meine facebook-Startseite zur Hälfte aus dermaßen fiesen Beleidigungen gegen die GDL, dass ich begann, einige Freunde aus meiner Freundesliste zu entfernen. Warum suchen wir die Schuldigen meist bei den Arbeitnehmern, den Streikenden also, und nicht bei den Arbeitgebern?
Eine Arbeitsniederlegung muss weithin spürbar sein. Je mehr die jeweilige Leistung vermisst wird, umso aussichtsreicher der Erfolg des Streiks. Vielleicht sollten wir hier – wie auch in vielen anderen Dingen – einfach den Blick über den Tellerrand werfen und uns dem internationalen Vergleich stellen. Im Jahresdurchschnitt kommt es in Deutschland zu 16 arbeitskampfbedingten Ausfalltagen pro 1.000 Beschäftigte. Im streikintensivsten Land Europas, nämlich Frankreich, kommt es zu 139 Tagen. Hier dürfen sogar Beamte streiken. Und falls wir den Bahnstreik als einen langen Streik angesehen haben, darf ich noch kurz in das Jahr 1956 verweisen. Damals streikten 30.000 Arbeiter insgesamt 114 Tage für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Ein Streikerfolg, dem viele Menschen heute noch dankbar sein können. Aber auch dieser Zeitraum ist noch nicht rekordverdächtig. Der längste in Deutschland je stattgefundene Streik spielte sich 2004 in Leverkusen ab. Dort legten die Busfahrer ihre Arbeit für 395 Tage nieder. Aus dieser Perspektive können sich die Brandenburger direkt freuen über den Mini-Streik in ihrem Nahverkehr.
Wer das nicht kann, der sollte sich einmal fragen, wie unsere Gesellschaft ohne Arbeitnehmerrechte aussähe? Dafür muss man gar nicht so weit zurückschauen. Wie glücklich können wir uns schätzen, dass wir heutzutage für unsere Arbeitsrechte auf die Straße gehen können, ohne gewaltvolle Repression seitens des Staates fürchten zu müssen wie beispielsweise am 17. Juni 1953. Der ist nämlich alles andere als nur dumm gelaufen.
Lina Dingler studiert Politikwissenschaften und Wirtschaft an der Universität Potsdam. Im Februar und März 2015 hat sie über ihre Praktikumszeit in der Landeszentrale gebloggt.
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Kommentare
Kommentierentheoretisch
Herzchen, haben Sie schon mal versucht, Ihr Leben auf die Reihe zu bringen, wenn Ihnen zwei Kinder statt in der Kita wochenlang zu Hause rumhängen, wenn Sie mit der Bahn nicht mehr zur Arbeit kommen und die Post nicht kommt, obwohl Sie einen wichtigen Brief erwarten? Sie studieren und das spürt man, da ist man noch weit weg vom realen Leben und sehr flexibel. Ich denke auch, dass Streik ein Grundrecht ist, aber auch die Streikenden haben Verantwortung, der sie gerecht werden müssen. So ist das nunmal in einer Gesellschaft, da teilt man sich die Lasten. Es geht nicht an, dass Streikende für selbstverständlich nehmen, was sie wochenlang an Auswirkungen auf das Leben völlig fremder Menschen haben. Genauso geht es nicht an, dass Arbeitgeber sich darauf verlassen, dass der Zorn der Bevölkerung schon dafür sorgen wird, die Streikenden zur Räson zu bringen.
Menschen die ihre Arbeit vernünftig tun verdienen nicht nur Respekt sondern auch angemessene Löhne. Dennoch müssten sie Mittel zur Durchsetzung wählen, die eben nicht Hunderttausende in Mitleidenschaft ziehen. Wochenlang. Dazu ein klares NEIN.
Grundrechte sind schon was Feines
Ein sehr guter Artikel, der aber schon seeehr pro-Streik ist. Als Grundrecht ist das auch völlig in Ordnung, aber man muss sich halt auch vor Augen führen, dass anderen damit teilweise extrem geschadet wird. Wirtschaftlich und persönlich. Und wenn es dann wie der der GdL nicht vorrangig um Lohnerhöhungen geht, sondern man sich in einen Machtpoker verrannt hat, darf auch der Bevölkerung das Verständnis fehlen. Ich finde sowieso, dass die Deutschen es relativ gelassen nehmen. Die Solidarität kam mir in dem Artikel etwas zu kurz. Vier Wochen sein Kind auf eigene Faust zu betreuen ist hart. Man bezahlt ja auch für diese Leistung. Da ist mir der Artikel einen Tick zu einseitig, aber der Facebookkommentar dazu trifft es ziemlich gut. Man kann einiges anders sehen, aber ansonsten ein guter Blog - in dem es ja auch auf die persönliche Meinung ankommt und die darf (bloß gut!!) frei geäußert werden.
Facebook-Kommentar
Für alle, die uns noch nicht auf Facebook folgen, hier der Kommentar, auf den sich Lily Henriksen bezieht.
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