Der Philosoph Thomas Schubert warnt davor, unsere Demokratie und mit ihr das Volk zwischen verschiedenen Gruppen aufzuteilen. Er regt einen Wechsel der Perspektiven an, um wieder miteinander reden zu können. So wie 1989 - und doch ganz anders.
Wer ist das Volk?
In den deutschen Öffentlichkeiten tobt wieder einmal der Streit um ein historisches Symbol. Verschiedene Gruppen behaupten von sich, die Stimme des Volkes oder der Vielen und deshalb demokratisch zu sein.
Dabei liegt die Wahrheit weniger in der Mitte, als im Querschnitt der wechselseitigen Vorhaltungen. Weder sind die einen Feinde der Demokratie, noch sind die anderen Feinde des Volkes. Vielmehr bestehen unterschiedliche Vorstellungen davon, was zum demokratischen Rechtsstaat und wer zum Wahl-Volk gehören soll. Die Frage zu Ende gedacht lautet daher: Wer ist dieses Volk und wer zählt zum Wir?
Zunächst einmal sind es alle, die an diesem Streit beteiligt sind oder sich dafür interessieren. Dabei lässt sich Folgendes feststellen: All diese Leute, mit ihren Obsessionen und Ängsten, mit ihren technischen Argumenten und Haarspaltereien, ihrer Betroffenheit und moralischer Besserwisserei, die oft aus einem politischen Alleinvertretungsanspruch resultiert, sind vor allem eines: Sie sind uns vertraut, wir kennen sie als Teil unserer Geschichte – sie sind unser Volk.
Auch wenn im Detail schwer zu sagen ist, was genau dessen Spezifikum ausmacht, so kann sich doch jeder Einzelne erinnern, wo er es das erste Mal getroffen hat – dieses Volk.
Von dorther lässt sich vielleicht wieder eine gemeinsame Sprache finden, in der ein Streit sinnvoll zu führen ist. Ein Streit, ohne sich die Haare zu raufen und dem anderen an die Gurgel zu gehen, bei dem die wesentlichen Argumente auf dem Tisch liegen, aufgrund derer demokratische wie vernünftige Entscheidungen überhaupt erst zu treffen sind.
Gern hätte ich probiert, gemeinsam das Eigene zu gestalten
Dieser Teil der Geschichte beginnt in den späten 1980er Jahren. In überfüllten Zügen, bei Urlaubsfahrten über Land, bei Arbeitspausen im Betrieb, nach Politversammlungen, bei Familienfesten und in Gemeinderäumen kam man damals ohne große Umstände zum Thema und schnell darin überein: so gehe es nicht weiter, Grundlegendes im Staate stimme nicht, etwas müsse etwas passieren.
Alle, die an diesen Gesprächen beteiligt waren, wussten zwar nicht, was passieren würde, doch ahnten wir, dass es alle betreffen wird. Aus dieser Erwartungshaltung erwuchs ein besonderes Gemeinschaftsgefühl und irgendwann begannen die Menschen, nicht mehr nur in abgeschlossenen Räumen miteinander frei zu sprechen, sondern auf den Straßen und Plätzen.
Als von der Menge dann der Satz „Wir sind das Volk!“ gerufen wurde, in die Gesichter der Volkspolizei, der Volksarmee und der Kampfgruppen des Volkes hinein – da war die Verwirrung groß. Die, die damals mutig riefen, waren kräftemäßig jenen unterlegen, die auf den Befehl warteten, die Proteste niederzuschlagen. Und doch obsiegte ihr Ruf, denn sie waren das Volk und dessen uniformierten Söhne auf der anderen Seite, sie waren es auch.
Als sich ab Oktober 1989 die Frage nach der Zukunft des Landes stellte, erklang auf den Plätzen der Revolution, wo das Volk sie öffentlich erörterte, der Ruf „Wir sind ein Volk!“. Er schallte freudig-drohend und sehr erwartungsvoll durchs Land und legitimierte sich am 18. März 1990 bei den Wahlen für das ostdeutsche Parlament auf demokratische Weise.
Gern hätte ich es mit diesem Volk, das ich gerade erst zu kennen glaubte, noch länger ausgehalten und gemeinsam ausprobiert, das Eigene zu gestalten, der Partei die Dinge nicht nur aus der Hand, sondern auch in Besitz zu nehmen. Doch die Mehrheit meines Volkes hatte anders entschieden.
ist Autor und Philosoph. Er arbeitet am Einstein-Haus in Caputh und schreibt zu Themen der deutschen Wissenschafts- und Zeitgeschichte. 1989 erlebte er die Friedliche Revolution in Berlin und Leipzig, die ersten deutschen Einheitsjahre als "Nachkriegszeit". Heute sieht er einen neuen Sturm aufziehen.
Wir sind das Volk! Ein Gruß aus vergangenen Tagen
War das nun geeinte Volk meins und so auch dieses große und mir fremde Land? Die Situation war verwirrend. Sie stellte sich mir, dem ehemaligen Soldaten, der in Leipzig und Berlin seinem Volk ins Gesicht gesehen hatte, wie eine Nachkriegszeit dar. Da dieses neue Volk und ich uns kaum oder kaum mehr kannten, verließ ich das gemeinsame Land. Ich betrachtete uns von außen, so lange bis wir uns verstanden.
Nun höre und sehe ich in der ostdeutschen Provinz, in jedem Dorf und von fast jedem Laternenmast einen Gruß aus vergangen geglaubten Tagen. „Wir sind das Volk“, „Vollende die Wende“, „Schreib Geschichte“ und so weiter heißt es so anmaßend wie genial. Eine Partei ruft das Volk an die Wahl-Urnen und zum vermeintlichen Aufstand gegen das vermeintliche System Merkel und gegen die so genannte BRD-Demokratie, welche nicht mit Deutschland zu verwechseln sei.
Dürfen die das? Dürfen sie das Andenken an die heroische Tat, welche die Demonstranten in der DDR gemeinsam mit Gorbatschow und den westlichen Medien vollbrachten, für ihre Zwecke gebrauchen, ja missbrauchen?
Um es kurz zu machen: Ja, sie dürfen. Wer hier „Vorsicht Rattenfänger!“ ruft, hat das Grundprinzip der Demokratie als Staatsform und die Rolle der Institutionen darin nicht verstanden. Es zeigt sich hier sogar ein fundamentales Misstrauen gegenüber dem Volk und der konstitutionellen Verfasstheit dieses Staates. Mittels und auf Grundlage des Rechts ist jede Entscheidung anfechtbar und revidierbar.
Fehler werden auf diese Weise zwar nicht verhindert, doch gemildert und das Gesamtsystem geschützt. Das Recht auf Fehlentscheidungen muss prinzipiell gewahrt bleiben. Auch das bedeutet Volksherrschaft mittels Feststellung einer Mehrheit im Volke und sei es die der vermeintlich Dummen. Hierin liegt die Radikalität eines sich nicht an Parteigrenzen bindenden politischen Liberalismus.
Alles soll so bleiben, wie es war?
Heute gilt daher vor allem im Osten: Alles soll so bleiben, wie es war! Verteidigt wird die alte Bundesrepublik, in der man sich endlich angekommen wähnt. Dass die Zustände heute nicht mehr so sind, wie einst, interessiert dabei nur am Rande. Was wir sehen, ist das Zeichen einer im Westen irrational anmutenden Angst vor erneutem Heimatverlust. Diese Angst rührt nicht nur aus den in der DDR und in den ersten Jahren der Einheit erfahrenen Entfremdungen und Vertrauensbrüchen her. Was weithin fehlt, ist eine Offenheit für den Realitätsgehalt der sich radikalisierenden Stimmungen im Osten.
Jüngst wurde eine Theorie vorgestellt, die darin gipfelte, das Verhalten, die Gefühle und sozialen Beziehungen der Ostdeutschen als krankhaft darzustellen. Auf diese Weise können alle Ängste zu Phantasien einer entfremdeten Wahrnehmung erklärt werden. Das ist bequem. Währenddessen zieht ein Sturm auf, bei dem Dinge wie die Angleichung der Rentenpunkte zwischen Ost und West – ja die Rente überhaupt – das letzte sind, was interessiert. Im Osten versteht sich eine relative Mehrheit als Seismograph dieses Sturmes, der wiederum alle betreffen wird.
Auch wenn es nicht immer gefällt, was da zu sehen ist, die Leute die dort stehen und rufen, sind unsere Leute. Von dorther sieht die Welt bestimmt anders aus und bestimmt nicht nur bunt und gut. Doch am Ende muss in einer Demokratie wie der unsrigen ein Prinzip für alle gelten. Es lautet: Wir sind das Volk!
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Kommentare
KommentierenGute Zusammenfassung der…
Gute Zusammenfassung der Lage!
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