
Rede zur Eröffnung der Ausstellung
Werner Braune, Sohn von Paul Gerhard Braune
Sehr geehrte Damen und Herren,
die Hoffnungstaler Anstalten haben dankenswerter Weise anlässlich des 50. Todestages meines Vaters eine Ausstellung initiiert. Sie beschreibt Lebensgeschichte und Wirksamkeit unseres Vaters. Mit dieser Ausstellung haben sich vor allem Menschen befasst, die meinen Vater nicht mehr persönlich kannten. So entsteht eine neutrale und sachliche Form der Darstellung. Es gibt dabei historische Zeugnisse und Berichterstattung, aus den Akten zu entnehmen.
Ich bin als Zeitzeuge eingeladen. Zeitzeugen sind in solchen Situationen zuweilen eine Störung. Man hält sie für Persönlichkeiten, die kurz vor dem Verlust ihrer Zurechnungsfähigkeit stehen. Dazu wird gesagt, es gäbe von ihnen viel Kolorit und wenig Fakten. Ich als Sohn meines Vaters bin auch als Zeitzeuge nur teilweise verwendbar: Mein Vater leitete die Hoffnungstaler Anstalten von 1922 bis 1954. Ich bin im Jahre 1936 geboren. Allerdings habe ich einige Zeiten miterlebt und kann sie erinnern. So seien zu den Akten, Bildern und Dokumenten auch persönliche Ergänzungen erlaubt.
Ich möchte Ihnen Erleben wiedergeben, Erfahrungen, die Kinder mit ihren Eltern hatten, Erlebnisse die uns geprägt haben. Wir sind vier Geschwister, wie Sie aus dem Banner 02 leicht ersehen können.
Mein Vater war ein frommer Mann. Im Zimmer unserer Eltern hing ein Spruch, eine Papptafel, mit dem Wort aus dem 1. Buch Mose:
„Du Gott siehest mich“.
Das war wichtig und bedeutsam für meinen Vater, weil all sein Arbeiten und Verantworten unter dieser Voraussetzung standen. Er war nicht sich selbst der Nächste und er war nicht der Größte, er war untergeordnet. In seiner Arbeit wurde er sich der Unterordnung und Aufsicht Gottes bewusst.
Als Kinder erlebt man die Eltern, besonders den Vater, nicht als geschichtliche Person, die sich in Ausstellungen wiederfindet, sondern als alltägliche Erscheinung, die pünktlich zum Mittagstisch kommt, die mit den Kindern Spaziergänge macht, die ihnen in der wenigen freien Zeit erklärt, wie es mit der Landwirtschaft, mit der Bodenfruchtbarkeit und den Düngemitteln steht. Oder wie die Obstsorten in Lobetal hießen: Goldparmäne, Herrnhuter, Landsberger, Renette, Hasenkopf und andere. Aber auch wie die Betreuung und Förderung von Menschen im sozialen Abseits zu regeln war.
Die Ausstellung gibt Zeitgeschichte wieder. Es gibt keine gute oder schlechte Geschichte. Geschichte ist so, wie sie abgelaufen, geschehen ist. Sie wird von Menschen erfahren, erlitten, gestaltet; manchmal als schwierig, kompliziert oder belastend erlebt. Geschichte ist immer der Bericht über etwas hinter uns liegendes. So ist die Geschichtsbetrachtung angewiesen auf Korrektheit, Wahrheit und Daten. Eben auch auf die Neutralität von Menschen, die Lesen und Schreiben können und Literatur, Schriftwechsel, Notizen von damals, richtig und sachdienlich einordnen und zum Teil deuten können.
Geschichte beschreibt Geschehenes, d.h. nachträglich. Geschichte und Berichtetes entscheiden mit über Wahrnehmung und Konsequenzen und über Verantwortlichkeiten im Hier und Jetzt. Wenn man von Frömmigkeit redet, die ich bei meinen Eltern erlebt habe, dann darf man auch davon sprechen, dass es in der Arbeit unserer Eltern um sehr reale Dinge und um alltägliche Vorgänge ging. Dass zum Beispiel Vertröstung auf ein Jenseits nicht vorkam, aber Hoffnung auf Zukunft, Himmel, Zuhause und Geborgenheit ein wichtiger Bestandteil des Glaubens wurden. Vertröstende Hoffnung wäre Fahrlässigkeit gegenüber dem Diesseits, Vertröstung würde bedeuten, dass man Menschen auf Erden nicht ernst nimmt.
Die Hoffnung der Christen muss der Erde treu bleiben. Das gehörte zu den Erfahrungen und zum Vorbild unserer Eltern. Das ändert nichts daran, dass wir auch in einem Haus aufgewachsen sind, in dem Frömmigkeit mit den dazugehörigen Regeln und Riten, Morgen- und Abendandacht, alltäglicher Bestandteil war. Außerdem gehörten die dazu, die am Tische saßen, das waren im Lobetaler Pfarrhaus außer uns vier Kindern oftmals sehr viele. Es waren Mitarbeitende, die in der Verwaltung tätig waren oder die mit im Haus wohnten. Dazu Verwandte, Besucher oder Gäste.
Die in der Ausstellung beschriebenen historischen Ereignisse, Denkschrift gegen die Krankenmorde, Denkschrift für die nicht-arischen Christen von unserem Vater, sind in seiner Zeit geprägt. Er war eine Persönlichkeit, die deutsch-preußisch-national und vor allen Dingen klar im Sinne von Gehorsam und Verantwortlichkeiten dachte und handelte. Unser Vater hat den Staat auf sein eigenes Gesetzesverständnis hingewiesen. Manche nennen dies legalistisch, aber es war auch orientiert an einer erwarteten Zuverlässigkeit des Staates.
Die Geschichte nach 1945 wurde erneut spannend. Die Staatssicherheit hat uns schriftlich gegeben, dass wir in geordneten Verhältnissen lebten. Davon waren wir Kinder überzeugt. Wir sind ohne Weichspüler aufgewachsen und trugen Bleyle-Anzüge in zweiter oder dritter Generation. An die geordneten Verhältnisse glaubten wir sowieso trotz häufiger Stromsperren und die Erleuchtung durch Affenfettkerzen. Der besonders wegweisende Spruch:
„Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung“
bekam seine besondere Wirksamkeit, wenn es urplötzlich dunkel wurde. Unser Vater hatte später ein Elektroaggregat auf Dieselbasis besorgt, das die Deutsche Wehrmacht nicht mehr verwenden konnte. Und da die NVA noch nicht so weit war, konnte das Gerät nach Lobetal kommen und die Lichtverhältnisse verbessern helfen.
Bald nach 1945 wurde deutlich, dass das Dritte Reich zwar vorüber war, aber nun das Reich Drei B kam. Das waren die, die das KZ weiterführten und die auch versucht hatten, unseren Vater nach Sachsenhausen zu transportieren. So wurde bald die intensive Verbindung mit Bethel gestört. Maßnahmen der inzwischen gegründeten DDR ließen Kontakte nur noch schwerlich bestehen. Zum einen war die Handlungsfähigkeit von all den Personen, die keinen Ausweis der DDR hatten, weil sie zufällig in Westberlin wohnten, gefährdet, und zum anderen durch rigide Grenzmaßnahmen und deutliche Reisebeschränkungen. Eine noch offene Stadt Westberlin bot aber Ausweichmöglichkeiten an.
Da unser Vater mit Bethel verbunden war, besorgte er sich eine Mobilitätshilfe. Das war ein Reisepass, von der Sturmpolizei in Westberlin, aus dem Polizeirevier in der Pacelli-Allee. Die Beschaffung eines Interzonenpasses wurde dadurch in manchen Fällen überflüssig. Dieses Verfahren war gefährlich und nach Sicht der DDR auch kriminell. Das ist ihm deutlich gewesen, aber ich vermute inzwischen Verjährung. Dass er die oft notwendige Abwesenheit von der Anstalt zum Erhalt der Arbeit pflegen konnte bedeutete aber, dass die in Lobetal verantwortlichen Mitarbeiter zusammen hielten.
Hier wurde die Einheit von Christengemeinde und Bürgergemeinde wirksam. Die selbstverständliche Vorstellung einer Gemeinschaft, die verantwortlich für das Ganze ist und nicht nur nach Zuständigkeiten fragt. Die Tätigkeit unseres Vaters als Vizepräsident der Inneren Mission bewirkte, dass er, Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Kirchenleitung, hier und da Mitteilungen für den Kirchenkreis zu transportieren hatte. Etwa Kanzelabkündigungen. Sie wurden von uns Geschwistern in die Nachbarorte Lanke, Prenden, Biesenthal und Bernau transportiert.
Wir hatten im nun gegründeten Staat „DDR“ mit neuer Obrigkeit zu tun, die Demokratie nicht verwirklichte. Obrigkeit kommt von oben. Staat beschreibt das, was von Regierten und Regierenden gemeinsam verantwortet wird. Da gab es auch in der DDR eigene Erfahrungen über das, was von oben kommt.
Wir erlebten ein Stück Obrigkeit, weil wir uns nicht dagegen auflehnen konnten. Bei den ersten „demokratischen“ Wahlen in Lobetal halfen die Maschinenpistolen der russischen Besatzer, damals offiziell sowjetische Soldaten, das System Ulbricht zu stützen. Das System Ulbricht lautete: Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles fest in der Hand haben. Dieses System ist im Prinzip bis zum Ende der DDR durchgehalten worden.
Als Familie waren wir in alle Abläufe eingebunden. Familie, Arbeit und Dienst waren kaum getrennt, wobei es selbstverständlich war, dass unser Vater über dienstliche Erkenntnisse oder seelsorgerliche Verschwiegenheit nicht nach außen verfügte. Die Frage nach Zuständigkeiten mit denen sich heute gerne Betriebe, Mitarbeitende und Verantwortliche befassen, waren kaum ein Thema. Es galt die Gesamtverantwortung. Zuständigkeiten für die Aufgaben innerhalb der Anstalt Lobetal waren sowieso klar geregelt. Die einzelnen Abteilungen waren verantwortlich für Betreute, die dort wohnten, für die Technik in den Werkstätten oder für die Landwirtschaft und die Viehherden. Die Übertragung von Einzelverantwortlichkeiten hinderte einen Gesamtzusammenhalt überhaupt nicht.
Als nach 1945 viele Menschen nach Lobetal kamen, die dort Zwischenstation machten und nicht wussten, wie es mit ihnen weitergeht, wurden zuverlässige und geprägte Persönlichkeiten von außen, zum Beispiel aus Ostpreußen, mit in die Aufgaben der Anstalt einbezogen.
In diesem Zusammenhang gab es einmal Unruhe. Ein Pferdeliebhaber, der in Lobetal als Kutscher eingestellt war, schlief im Falle des Unwohlseins seiner Pferde auch im Stall. Zum Leidwesen aufmerksamer Lobetaler Mitbürger hatte er eine Holztafel im Stall aufgehängt, die diese Unruhe hervorrief. Auf dieser Tafel war zu lesen:
„Bei Pferden und bei Frauen muss mann auf Rasse schauen“.
Unserem Vater als moralisches Institut der Anstalt wurde das zugetragen. Wir mussten also einen Besuch im Pferdestall machen, um die Überprüfung der Anschuldigung zu lesen. Ich erinnere, dass unser Vater bemerkte, es sei keine deutliche Gefährdung der Anstalt zu erwarten, weil diese Tafel im Halbdunkel des Pferdestalles hing und somit nicht öffentlich war.
In der letzten Lebenszeit unseres Vaters habe ich selbst viele Dinge miterleben können. Bald nach seiner Gestapohaft hatte er eine Angina-Pectoris-Erkrankung, die ihn häufig mit schweren Anfällen heimsuchte. Heute hätte man sie sicherlich anders behandelt. So habe ich mit Billigung meines Vaters mit 16 Jahren den Führerschein für Pkw gemacht und meinen Vater zu vielen Anlässen begleitet.
Der wunderbare Kalender, den die Hoffnungstaler Anstalten alljährlich herausgeben, „Gutes aus alten Zeiten“ mit empfehlenswerten Rezepten, ist erhältlich bei der Öffentlichkeitsarbeit der Hoffnungstaler Anstalten. Im Novemberbild 2006 ist zu sehen: Bauarbeiten vor 100 Jahren. Es wird beschrieben, wie die Einrichtung Hoffnungstal im Ortsteil Rüdnitz entsteht. Sie wurde seinerzeit von der Kaiserin Auguste, zusammen mit dem Gründer der Einrichtung, Pastor Friedrich von Bodelschwingh, eingeweiht. Die Berliner nannten die Kaiserin liebevoll und respektlos zugleich, die „Kirchenjuste“. An diesen 100 Jahren Bauarbeiten ist unser Vater 32 Jahre lang Mitwirkender gewesen, zum Teil als Baumeister, Bauherr, Bauverantwortlicher, aber vor allen Dingen als jemand, der am Bau der Gemeinschaft wirken wollte, damit für Menschen denen es schlecht geht, bessere Möglichkeiten eröffnet werden könnten.
Die Ausstellung, die heute eröffnet wird, gibt einen Teil aus der Geschichte wieder. Sie zeigt Bilder aus hoffnungsvollen, schwierigen, komplizierten und tragischen Zeiten. Immer geprägt durch die Grundausstattung der Lobetaler Arbeit, die unsere Eltern damals bewegt haben:
„Du Gott siehest mich“.
Verantwortlichkeit für andere, nicht irgendwann und irgendwie, nicht virtuell, sondern im alltäglichen. Wenn diese Ausstellung Ermutigung und Ermunterung bewirkt, ist mit diesem Rückblick in die Geschichte auch Zukunft zu gestalten.
Werner Braune
Pastor
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