Was ist Antisemitismus? Wie zeigt er sich? Und wie sieht jüdisches Leben in Brandenburg eigentlich aus? Darüber haben wir mit dem Antisemitismusexperten Gideon Botsch gesprochen.
Was ist Antisemitismus?
Eine ältere Definition bezeichnet Antisemitismus als Judenfeindschaft, also die Feindschaft gegen Juden als Juden. In der jüngeren Forschung haben wir aber doch recht deutlich erkennen können, dass Antisemitismus weit darüber hinausgeht und auch gar nicht immer Juden und Jüdinnen direkt betrifft. Stattdessen kann es sich dabei auch um eine Weltwahrnehmung handeln, die Menschen, Verhaltensweisen, gesellschaftliche Komplexe und Phänomene als jüdisch markiert, obwohl diese mit dem Judentum nichts zu tun haben. Damit sind wir heute eher näher an einer Definition, die sagt, dass Antisemitismus eine Form ist, die Welt wahrzunehmen und zu interpretieren, die auf feindseligen Zuschreibungen gegen vermeintliche oder tatsächliche Jüdinnen und Juden oder das Judentum beruht.
Gideon Botsch ist Leiter der Emil Julius Gumbel Forschungsstelle Antisemitismus und Rechtsextremismus am Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien an der Universität Potsdam.
Wie zeigt sich denn Antisemitismus?
Antisemitismus ist zum Beispiel, wenn ein jüdisches Grundschulkind von Lehrern ausgrenzend behandelt wird oder wenn jemand mit Kippa auf dem Kopf auf dem Weg zur Synagoge als „Scheißjude“ angegriffen wird.
Es ist aber auch antisemitisch, wenn das Gerücht kursiert, Bill Gates würde die ganze Welt chippen wollen und dabei angedeutet oder explizit gesagt wird, dass dieser nichtjüdische Unternehmer Jude sei. Gleiches gilt für die Behauptung, die Firma McDonald's sei in der Hand amerikanischer Juden und müsse deswegen boykottiert werden. Antisemitismus zeigt sich also auch dann, wenn gesellschaftliche Entwicklungen, die man ablehnt, die einen verunsichern, die man bekämpfen will, auf eine Macht namens Judentum zurückgeführt werden, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat, sondern nur in den Köpfen der Menschen existiert.
Das unterscheidet Antisemitismus übrigens auch von anderen diskriminierenden und rassistischen Ideologien und Verhaltensweisen. Wir haben hier eine Wahrnehmung von einem übermächtigen Feind, von einer übermächtigen, halbanonymen, im Untergrund wirkenden Macht, die man nicht richtig greifen kann. Das ist ein Kernbestandteil antisemitischen Denkens.
Wie sieht die Lage in Brandenburg aus?
Brandenburg war vierzig Jahre lang Teil der DDR. Daher könnte man erwarten, dass es hier eine Ablehnung von bestimmten religiösen Grundlagen des Judentums und auch einen stark israelbezogenen vermeintlich linken Antisemitismus gibt. Das können wir auf der empirischen Seite im Augenblick so aber nicht erkennen.
Antisemitismus in Brandenburg zeigt sich aber in mehreren Formen und Facetten. Selten äußert er sich als christlicher Antijudaismus, was mit der geringen Anzahl von Christinnen und Christen im Land zusammenhängt. Ebenfalls selten bis fast gar nicht kommt es zu Feindseligkeit gegenüber Juden durch Migrantinnen und Migranten. Das könnte sich vielleicht ändern, wenn diese stärker im Land Brandenburg angekommen sind. Bisher gibt es in Brandenburg aber keinerlei empirische Hinweise, dass mit dem Fluchtgeschehen seit 2015 der Antisemitismus zugenommen hat.
Wo sich Antisemitismus äußert, ist in Alltagssituationen, zum Beispiel in der Schule und auf Sportplätzen, wo die Fans der gegnerischen Mannschaft beispielsweise als Juden beschimpft werden. Das Wort „Jude“ wird dabei als Schimpfwort verwendet, um jemanden abzuwerten. Das finden wir auch in anderen Alltagssituationen. Ein Beispiel: Aus einer Wohnung dringt laute Musik, der Nachbar beschwert sich, ihm wird zugerufen: „Du Scheißjude“. Der sich beschwerende Nachbar ist aber überhaupt kein Jude. Oder die Polizei trifft an einem Tatort ein, wo ein randalierender Besoffener gerade Sachbeschädigung begeht und der zeigt der Polizei den Hitlergruß und beschimpft sich als „Scheißjuden“. Auch hier sind gar keine Juden im Spiel.
Wir haben auch ein massives Problem mit rechtsextremem Antisemitismus in Brandenburg. Das äußert sich in Rechtsrock-Texten von Rechtsrock-Bands, in Übergriffen, teilweise auch Gewalttaten, die sind in Brandenburg aber relativ selten. Häufiger sind Beschimpfungen und Beleidigungen. Wenn es aber in Brandenburg zu Übergriffen kommt, dann sind die fast immer in einem rechten Kontext zu sehen.
Außerdem gibt es ein relativ hohes Niveau an Propagandadelikten – Schmierereien, fast immer aus einem rechtsextremen Kontext. In anderen Bundesländern ist das nicht so eindeutig zu sehen, aber in Brandenburg schon. Darüber hinaus kommt es zu Beschädigungen und Schändungen von Mahn- und Erinnerungsorten, die antisemitisch konnotiert sind.
Das Moses Mendelssohn Zentrum hat gemeinsam mit der Flickstiftung und anderen den Vorschlag gemacht, Artikel 7a der Brandenburger Landesverfassung um den Kampf gegen Antisemitismus zu ergänzen. Können Sie das näher erklären?
Wir haben den Vorschlag, Artikel 7a der Landesverfassung um den Kampf gegen Antisemitismus zu ergänzen, in die Debatte eingebracht, weil wir finden, dass es nicht beim Bekenntnis bleiben darf. Natürlich gibt es immer die juristische Debatte, ob solche Verfassungsziele sinnvoll und zielführend sind, aber wir merken sehr deutlich, dass der Artikel 7 der Landesverfassung dem Land eine Rechtsgrundlage gegeben hat, für Aktivitäten zur Förderung einer diskriminierungsfreien brandenburgischen Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund finde ich es auch sehr hilfreich, wenn wir das Staatsziel, dem Antisemitismus entgegenzutreten und Einhalt zu gebieten, in die Verfassung aufnehmen. Die für eine Verfassungsänderung notwendige Zweidrittelmehrheit im Parlament sah das auch so und hat entsprechend entschieden. Alle demokratischen Parteien sind hier vereint. Die AfD hält das für „nutzlos“ und versucht, den Kampf gegen Antisemitismus für rassistische Verdächtigungen gegen Geflüchtete zu missbrauchen – das ist sehr bezeichnend.
Reicht die Änderung der Verfassung aus?
Nein, man darf nicht meinen, dass damit die Sache gegessen sei. Die praktische Arbeit gegen Antisemitismus ist sehr viel wichtiger. Wir brauchen die pädagogische Arbeit und wir brauchen hier ein Umdenken. Früher haben wir das Judentum sehr oft als Opfergeschichte erzählt, in der Hoffnung Empathie damit zu wecken. Damit haben wir aber natürlich auch schräge Bilder vom Judentum und jüdischer Geschichte etabliert. Wir haben oft in der Arbeit gegen Antisemitismus Vorurteile wiederholt und in die Köpfe der jungen Leute eher noch reingebracht. Hier müssen wir pädagogische Konzepte weiterentwickeln und da gibt es auch schon ganz schöne Ansätze.
Mir wäre auch sehr an einer Belebung der Alltagskultur im Land Brandenburg gelegen. Es gibt hervorragende Projekte, zum Beispiel Stolperstein-Initiativen, den Judenhof in Perleberg oder lokale Initiativen wie das ehemalige Hachschara-Lager in Neuendorf im Sande bei Fürstenwalde und die frühere Synagoge in Hohen Neuendorf im Oderbruch. Ich würde mir wünschen, dass wir diese Projekte besser kennenlernen und sie besser in ihrer Arbeit unterstützen. Was mir in Brandenburg fehlt, sind Städtepartnerschaften und Austauschprogramme mit Israel. Das haben wir sehr wenig bis gar nicht. Das finde ich bedauerlich, denn für ein wirklichkeitsnäheres Bild von Israel wäre das sehr wichtig.
Wichtig wird natürlich auch bleiben, dass die Zivilgesellschaft antisemitischen Äußerungen entgegentritt. Sei das im Alltagsleben, auf Wahlkampfveranstaltungen bestimmter Parteien oder im Protest dagegen.
Aber wie schon angesprochen, geht die größte und gefährlichste antisemitische Bedrohung in Brandenburg von organisierten rechtsextremen Kräften aus. Deswegen ist es wichtig, auf dieses Milieu ein besonderes Auge zu haben. Wir stellen seit einiger Zeit vermehrte Tätigkeiten der offen an den Nationalsozialismus anknüpfenden und antisemitische Weltbilder verbreitenden Kleinstpartei „Der III. Weg“ fest. Das ist in verschiedenen Landesteilen sichtbar und ich gehe davon aus, dass das Früchte tragen wird, wenn das nicht bald eine politische und gesellschaftliche Antwort erfährt.
Wie sieht jüdisches Leben in Brandenburg derzeit aus und was hat es für eine Perspektive?
Das jüdische Leben in Brandenburg existiert nur deswegen wieder, weil wir seit 1990 eine Einwanderung aus der früheren Sowjetunion erlebt haben. Der größte Anteil der Jüdinnen und Juden in Brandenburg, was ja eine sehr, sehr kleine Minderheit ist, hat eine sowjetisch-jüdische Migrationsgeschichte. Die mittelalten und älteren Generationen der Jüdinnen und Juden in Brandenburg leben oft unter sehr prekären Verhältnissen. Da ihre teilweise hochwertigen sowjetischen Abschlüsse in der Bundesrepublik oftmals nicht anerkannt wurden, ist es ihnen sehr schwergefallen, hier Fuß zu fassen. Es gibt ein hohes Maß an Armut und Altersarmut. Das Bild vom reichen oder vom integrierten oder assimilierten Juden ist hier also völlig unpassend.
Wir haben in Brandenburg also sehr kleine, sehr prekäre jüdische Gemeinschaften, die in ihren Gemeinden aber recht gut vernetzt sind. Gut vernetzt sind sie übrigens auch mit den Ausländerbeiräten, um sich für ein friedliches Miteinander mit der schon länger hier lebenden Bevölkerung, wie auch mit den Zuwanderern, geflüchteten oder nicht-geflüchteten Zuwanderern aus anderen Region einzusetzen.
BLPB, 2021
Teilen auf
Neuen Kommentar hinzufügen