Die Digitalisierung überfordert den Staat, meint Netzexperte Martin Schallbruch. Mit ihm haben wir über Lösungen gesprochen.

Was meinen wir, wenn wir von Digitalisierung sprechen?
Der Begriff Digitalisierung hat sich in den letzten Jahren weiterentwickelt. Anfangs war er sehr stark auf den Einsatz digitaler Technologie in einzelnen Bereichen bezogen. Ein Beispiel ist hier die Digitalisierung des Musikvertriebs durch die Möglichkeit, Musiktitel digital, also über das Internet zu erwerben.
Mittlerweile steckt in dem Begriff Digitalisierung aber viel stärker auch der Gedanke der digitalen Transformation. Das heißt, dass durch die Digitalisierung die Geschäftsmodelle ganzer Branchen und Sektoren der Gesellschaft völlig neuartig strukturiert und organisiert werden.
Bestimmte Dinge fallen dabei einfach weg und wir kommen zu völlig neuen Verfahrensweisen. Im Musikvertrieb wird beispielsweise der Kauf von Musik zunehmend ersetzt durch das Abonnement eines Streaming-Dienstes.
Ein anderes Beispiel ist die Mobilität. Hier geht die Digitalisierung inzwischen weit über die Digitalisierung einzelner Verkehrsträger, also die Nutzung von Navigationssystemen und Assistenten im Auto hinaus.
Das gesamte Mobilitätsverhalten verändert sich auf Grundlage der digitalen Möglichkeiten: Man verzichtet verstärkt auf das Auto und nutzt stattdessen mal diesen und mal jenen Mobilitätsdienst.
Martin Schallbruch hat innerhalb der Bundesregierung jahrelang die Entstehung der Netz- und Digitalpolitik in Deutschland miterlebt und mitgestaltet.
Seine Erfahrungen beschreibt er in seinem Buch „Schwacher Staat im Netz. Wie die Digitalisierung den Staat in Frage stellt“.
Wenn Sie die Digitalpolitik in Deutschland mit drei Worten beschreiben müssten, welche wären das?
Verhalten, langsam und inkonsequent.
Können Sie das genauer erklären?
Mit „verhalten“ meine ich, dass sich die Politik zwar inzwischen auf breiter Front mit der Digitalisierung beschäftigt. Allerdings nährt sie sich dem Thema an vielen Stellen nur vorsichtig mit technisch orientierten Modellversuchen und nimmt die digitale Transformation nicht umfassend in den Blick.
Was die Umsetzung der Digitalisierung in den Bereichen, in denen der Staat Verantwortung trägt, angeht, ist Deutschland überaus langsam. Da sind wir im europäischen Vergleich immer eher auf den letzten Plätzen. Bei der Wirtschaft sieht das hingegen ganz anders aus.
Inkonsequent ist die Digitalpolitik für mich vor allem deswegen, weil wir uns zwar seit Jahren in der Politik die Digitalisierung als Priorität auf die Fahnen schreiben, im konkreten politischen Handeln dann oftmals doch nicht auf Digitalisierung setzen.
Ein Beispiel: Wir haben in Deutschland vor Kurzem die Grundrente eingeführt und sind gerade dabei diese umzusetzen. Das Verfahren ist allerdings so gewählt, dass die Bürger es nicht vollständig digital abwickeln können, stattdessen muss wieder unendlich viel Papier verarbeitet werden.
Vor welche Herausforderungen stellt die Digitalisierung den Staat?
Der Staat hat auf mehrfache Weise mit der Digitalisierung zu tun. Erstens ist er selbst unmittelbar betroffen, denn auch von ihm erwarten die Bürger zunehmend digitale Leistungen.
Zum Beispiel möchten niemand nach der Geburt eines Kindes zahlreiche Formulare ausfüllen, um verschiedene Leistungen wie Kindergeld und Elterngeld zu bekommen. Die Menschen möchten solche Dinge digital erledigen, zum Beispiel über eine App. So etwas ist bei uns aber nur in seltenen Fällen möglich.
Zweitens ist der Staat in vielen Bereichen unseres Alltagslebens dafür verantwortlich, wie diese organisiert werden. Das reicht beispielsweise von der Schule über das Gesundheitswesen bis zu Verkehr und Kultur. Wenn wir dort zu einer Digitalisierung und Modernisierung kommen wollen, zum Beispiel durch digitale Systeme in Schulen und Online-Learning, dann muss der Staat hierfür die Rahmenbedingungen setzen.
Drittens wird die Digitalisierung oftmals durch das Recht sehr stark beeinflusst. Sei es, dass etwas digital nicht umgesetzt werden kann, weil das Recht verlangt, dass die Umsetzung auf einem anderen Wege geschieht. Sei es, weil versucht wird, die Digitalisierung durch das Recht einzuhegen, beispielsweise durch das Netzwerkdurchsetzungsgesetz.
Durch die Art, wie er Gesetze macht, bestimmt der Staat hierbei ganz stark, wie wir in Deutschland die Digitalisierung gestalten und nutzen können.
Würden Sie sagen, dass der Staat die passenden Antworten auf diese Herausforderungen hat?
Ich glaube, dass er sie leider noch nicht gefunden hat. Aus meiner Sicht haben wir Schwierigkeiten, unsere sorgsam aufgebaute und gewachsene staatliche Entscheidungs- und Umsetzungsstruktur an die Notwendigkeiten der Digitalisierung anzupassen. Da tut sich Deutschland deutlich schwerer als andere Länder.
Ist das problematisch?
Ja, weil wir damit das Risiko eingehen, dass der Staat wichtige Bereiche des Lebens nicht mehr gestalten kann. Nehmen Sie beispielsweise Kartendienste im Internet. Landkarten waren früher ein staatliches Monopol. Auch heute gibt es die Vermessungsämter der Länder und des Bundes, die Karten erstellen und herausgeben. Das machen die Behörden inzwischen auch digital. Allerdings finden deren Angebote kaum nennenswerte Verbreitung. Dienste wie Google oder Here sind hier schneller, aktueller und komfortabler. Wie die Welt kartiert wird, bestimmen also mittlerweile Internetkonzerne viel stärker als staatliche Behörden.
Ein anderes Beispiel sind Bücher: In der Datenbank von Google Books stehen mehr deutschsprachige Bücher digital zur Verfügung als alle deutschen öffentlichen Bibliotheken zusammengenommen digitalisiert haben. Die Ausgestaltung dieser Digitalisierung – welche Bücher digitalisiert werden, wie sie verschlagwortet werden und wie sie auffindbar sind – all diese Fragen entscheiden nicht mehr öffentliche Bibliotheken, sondern ein Konzern mit eigenen Interessen. Ich will damit nicht sagen, dass Google das schlecht macht. Der Staat hat an dieser Stelle aber die Kontrolle und Entscheidungsgewalt verloren.
Würden Sie sagen, dass die Digitalisierung unsere Freiheit bedroht?
Das ist eine Frage, die nicht einfach zu beantworten ist: Die Digitalisierung, also die digitale Transformation aller Sektoren, ist eine Chance und eine Bedrohung für die Freiheit zugleich.
Ich wäre beispielsweise in der Lage, von einer kleinen karibischen Insel aus, mit einem Cocktail in der Hand, mit Ihnen dieses Gespräch zu führen. Ich habe also eine unglaubliche Freiheit, denn ich kann arbeiten von wo auch immer ich will. Gleichzeitig sind aber Nachrichtendienste verschiedenster Länder grundsätzlich in der Lage, dieses Gespräch hier aufzuzeichnen.
Mit der Digitalisierung ist also eine gewaltige Individualisierung und Freiheitssteigerung möglich, aber eben auch eine gewaltigere Überwachung als wir sie jemals zuvor realisieren konnten. Die Digitalisierung birgt also sowohl Chancen als auch Risiken. Die politische Gestaltung ist daher umso wichtiger, damit wir nicht in große Risiken hineinlaufen, sondern vor allem in unserem freiheitlichen System die Chancen maximal nutzen können.
Was müsste die Politik ganz konkret machen, um abzusichern, dass die Freiheit des Einzelnen nicht durch die Digitalisierung beschränkt wird?
Es gibt zwei Dinge, die mir hier sehr wichtig sind. Zum einen die Souveränität jedes einzelnen Menschen. Wir müssen die Menschen in die Lage versetzen, selbstbestimmt, verantwortungsvoll und selbstbewusst zu entscheiden, was sie im digitalen Raum machen. Diese Möglichkeit zur Selbstbestimmung haben wir zwar rechtlich, praktisch aber oftmals nicht. Niemand kann gegenwärtig mehr all die Daten, die über sie oder ihn im Internet sind, und all die Dienste, die im Internet genutzt werden oder irgendwann mal genutzt wurden, überschauen und kontrollieren. Sind unsere Daten sicher, gehen die Unternehmen gut mit unseren Daten um, wurden sie gehackt? Solche Fragen können wir uns nicht beantworten, da fehlen uns ein Stück weit praktische Hilfestellungen. Es gibt viele Vorschläge, wie sich das lösen lässt. Eine Idee ist beispielsweise die Einführung eines Datentreuhänders, der den Menschen hilft, mit der Vielfalt der digitalen Dienste umzugehen.
Das andere ist die kollektive technologische Souveränität unseres Gemeinwesens. Wir erleben gerade eine Diskussion über die Vertrauenswürdigkeit chinesischer Komponenten bei der Weiterentwicklung unserer Mobilfunknetze. Diese Diskussion ist sehr ernst zu nehmen, denn wir sind bei einigen Technologien sehr stark vom Ausland abhängig. Selbst in Kernbereichen unseres Lebens können wir in Europa nicht mehr zu 100 Prozent sagen, was in diesen Technologien steckt. Wir wissen beispielsweise nicht, ob ein ausländischer Staat dadurch zukünftig auf unsere Daten zugreifen oder den Betrieb in Deutschland irgendwie stören oder manipulieren kann. Bei diesen Kernfragen der digitalen Infrastruktur müssen wir in Europa sicherstellen, dass wir europäische Hersteller haben und dass wir die Expertise nicht verlieren, damit wir die Digitalisierung auch morgen noch durchschauen können.

Was würden Sie machen, wenn Sie Digitalisierungsminister in Deutschland wären?
Spontan fallen mir drei Dinge ein: Erstens würde ich den Ausbau der digitalen Infrastruktur, also insbesondere der Netze, zur öffentlichen Aufgabe machen und ein staatliches Programm aufsetzen, das dafür sorgt, dass wir wirklich alle Gebäude in Deutschland mit Breitband ausstatten. Denn so wie wir auch Straßen, Autobahnen und die Eisenbahn staatlich entwickelt haben, so sollten wir auch die digitale Infrastruktur endlich aus einer Hand entwickeln.
Zweitens besteht ein großes Hemmnis in der Digitalisierung darin, dass sich jeder einzelne Mensch, egal was er im Internet macht, immer wieder neu registrieren muss. Andere Staaten, zum Beispiel die nordischen Staaten, haben uns vorgemacht, dass es klug ist, eine digitale Identität einzurichten, die wir für alles nutzen und mit der wir bisherige digitale Logins verknüpfen können. Im Ergebnis kann ich mich, egal was ich machen will, immer als Martin Schallbruch identifizieren.
Mein drittes großes Anliegen wäre, dass wir den Flickenteppich bei der Digitalisierung der Schulen beenden. Junge Menschen sind digital affin, erleben aber in der Schule etwas, was man eher als „Digital Detox“ bezeichnen würde. Die Schulen hängen unglaublich hinterher in der Nutzung digitaler Technologien und in der Beschäftigung mit digitalen Inhalten. Momentan wird über den Digitalpakt in diesem Bereich zwar viel Geld investiert, aber ohne einheitliche Ziele für unser Bildungswesen insgesamt. Ich glaube, wir bräuchten hier ein einheitliches Programm, in dem wir uns beispielsweise über eine Mindestausstattung der Schulen verständigen.
Welche Fragen werden uns in Zukunft mit Blick auf die Digitalisierung beschäftigen?
Für mich ist die zentrale Frage der nächsten Jahre, wie sich Europa bei der Digitalisierung im Spannungsverhältnis zwischen den USA und China positioniert. Also zwischen dem US-Modell mit großen Internetkonzernen, Wettbewerb, schnellen Innovationen und freien Märkten und dem chinesischen Modell einer sehr stark staatlich gelenkten Digitalisierung aller Lebensbereiche. Hier müssen wir einen Weg finden, wie wir die europäischen Werte und unsere Vorstellungen von einer marktwirtschaftlichen Lösung, die aber gleichzeitig auch sozial ist, in eine digitale Welt übertragen. Wir müssen uns die Frage stellen, wie wir als Europäer in zehn, 15 Jahren unter maximaler Nutzung der digitalen Möglichkeiten gern leben wollen.
BLPB, April 2020
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