
Bevor ihre Schrift entziffert war, hatte man von den Mayas geglaubt, es seien ganz friedliche Menschen gewesen. Da war es nur völlig unerklärlich, weshalb sie in aller Plötzlichkeit ihre Städte verlassen hatten. Als die Texte dann lesbar waren, zeigten sich recht kriegerische Leute mit blutrünstigen Ritualen und andauernden Schlachten. Die Fluchtbewegungen hatten nun erklärbare Gründe.
Mit der DDR mutet es auf seltsame Weise umgekehrt an. Flüchtlingsschicksale sind breit in der Öffentlichkeit debattiert. Die Sprache scheint seit je bekannt. Bei näherem Hinsehen aber erweist sich: Je größer der historische Abstand, desto eigenartiger, also undeutbarer erscheinen dem Nachgeborenen oder der aus dem Westen Zugezogenen die enthaltenen kulturellen Codierungen.
Vielleicht können Bilder helfen, solche wie diese. Man muss sie nur lange genug ansehen. Dann sprechen sie, mit einer leisen, doch klaren Stimme.
Wer nur die Akten kennt, die alten Parteibeschlüsse liest und für bare Münze nimmt, der vermeint viel "Hass" zu finden, etwa auf "den Klassenfeind", die "Bonner Ultras", die "Kriegstreiber" im Westen. Die Demonstranten des Herbstes 1989 aber waren ganz friedliche Gesellen, mit Kerzen, Gebeten und einer großen Ernsthaftigkeit in der Erörterung der öffentlichen Angelegenheiten. Die DDR hatte sich gewandelt mit den Jahren.
Die Herrschenden und die Beherrschten akzeptierten stillschweigend den Raum des jeweils anderen, bis dieses Arrangement dann von unten aufgekündigt wurde: Die oben konnten nichts mehr, und die von unten erwarteten von denen nichts mehr.
In der Zwischenzeit, in den Jahrzehnten der gemäßigten Existenz der DDR zwischen harter Gründungsphase und weichem Abgang, gehörten allerlei Losungen auch weiterhin zum Alltag. An Hauswänden oder wo auch immer angebracht, hatten sie allerdings ihren Nötigungscharakter eingebüßt. Sie ritualisierten sich mit der Zeit, gehörten einfach zum öffentlichen Raum. Die oben meinten auch weiterhin die politische Mobilisierung, die unten hängten die Losungen zum 1. Mai, dem "Internationalen Kampf- und Feiertag der Werktätigen", oft mit nicht anderem Eifer auf, als sie zu Weihnachten einen Tannenbaum ans Fabriktor stellten.
Die DDR verfriedlichte sich mit den Jahren. Die Lager waren von der Besatzungsmacht bei Staatsgründung übernommen und wurden dann rasch abgeschafft. Die vielen Todesurteile waren am Anfang, auch die schlimmen Geschichten von Bautzen und anderen Orten.
Wer überhaupt erst nach 1961 erwachsen geworden war, in der DDR bescheiden vor sich hin existierte, ohne sich besonders dafür oder dagegen engagiert zu haben, konnte bis zu ihrem Auslaufen in diesem Land gelebt haben, ohne je von der Stasi angesprochen worden zu sein - weder mit der nachdrücklichen Frage, den Nachbarn auszuhorchen, noch vom Vernehmer selbst abgehört worden zu sein.
Am Ende feilschten die Oppositionellen der letzten Generation mit den Mächtigen, dass sie nicht einfach in den Westen geschickt wurden, sondern ihre DDR-Pässe behalten und eines Tages zurückkehren durften.
Eine absurde Situation.
Die Mauer stand immer noch, um die Bevölkerungsmehrheit am Verlassen des Landes zu hindern, und erst nach untertänigen Unterwerfungsgesten konnten in den 80er Jahren auch Nicht-Rentner aus privaten Gründen häufiger in den Westen reisen. Doch die härteste Strafe, die die Herrschenden Ende dieses Jahrzehnts den Oppositionellen aussprechen konnte, war ihre zeitweilige Verbringung in den Westen.
Dass an jener Mauer auch geschossen wurde, wusste jeder. Dass sie ein absurdes Bauwerk war, das das Geschwafel von der "historischen Überlegenheit des real existierenden Sozialismus" jeden Tag aufs Neue Lügen strafte, wusste auch jeder. So meckerte man - im letzten Jahrzehnt "Unserer Republik" zunehmend auch lauter - über die fehlenden Ersatzteile, über Wartezeit auf den Trabi, über die begrenzten Reisemöglichkeiten...
Aber die meisten meckerten nur in einem solchen Maße, dass sie nicht aneckten. Der Wessi wollte nach 1989 immer wieder wissen: "Wie konntet ihr da leben?" und der einfach gelebt habende Ossi hatte in der Regel keine rechte Antwort. Wer wusste 1949 schon, oder 1956 oder 1961 oder 1973, dass "es" bis 1989 dauern würde? Wer wusste überhaupt, dass "es" eines Tages so anders werden würde? Revolutionen, Umstürze, Systemwechsel kommen, wenn die große, "unpolitische" Mehrheit der Bevölkerung in Bewegung kommt und dies bewerkstelligt, nicht, wenn die selbsternannten Oppositions-Eliten meinen, dass es Zeit für einen Wechsel sei.
"Die Deutschen werden sich durch einen Zaun von Raketen ansehen müssen" hatte der sowjetische Generalsekretär Andropow im Sommer 1983 zur damals heißumkämpften Stationierung von Mittelstreckenraketen dem westdeutschen Bundeskanzler gesagt, und in der DDR wurde dies im Fernsehen gezeigt.
Das war eine Drohung. Die Russen waren an der Elbe, weil vorher Hitlers Deutsche in Stalingrad waren. Das blieb unausweichlich; das war gesetzt, vorgefunden.
Es war ein seltsamer Sommer im Jahr 1983. Viele junge Leute grillten gemeinsam noch häufiger als sonst, Konten wurden geplündert und einfach so Geld ausgegeben; man wusste ja nicht, wie oft man dazu noch Gelegenheit hatte.
Als Honecker dann im Herbst sagte, dass "das Teufelszeug" wieder weg müsse, und dass die beiden deutschen Staaten auch dann weiter miteinander reden müßten, wenn die Supermächte es gerade nicht können, ging ein Aufatmen durch das Land.
Dies war das vielleicht letzte Mal, dass die Erhaltung des Friedens in der DDR-Bevölkerung ernsthaft ein Thema war. Die spätere Gorbi-Manie in der DDR hatte wahrscheinlich hier einen Ausgangspunkt. Dass es dann auch um Demokratie und "Deutschland, einig Vaterland" gehen könnte, kam erst später, und zunächst still und heimlich, bevor es auf der Straße war.
Immer waren da diese Spruchbänder: "Die DDR - ein Bollwerk des Friedens". "Wer für den Frieden ist, wählt die Kandidaten der Nationalen Front!" Das war Androhung, zumindest 1950, hieß es doch, wer andere Wahlen und andere Kandidaten wollte, als diese, der war ein Feind des Friedens, und ein Feind des Friedens war überhaupt ein Feind, fünf Jahre nach dem großen Morden der schlimmstmögliche, ein Faschist.
Und solch ein Feind gehört bekämpft, erschossen, zumindest weggesperrt, aber schnell! Wenn zu Kommunalwahlen in den 80er Jahren die "zentralen Losungen" zuallererst erklärten, dies seien ein weiteres Mal die Wahlen für den Frieden, dann entlockte dies höchstens ein müdes Lächeln bei den Wahl-Bürgern.
Für den Frieden waren nicht nur die Genossen, sondern auch die "Blockfreunde" von der CDU und sowieso die Kirchenmenschen. Alle waren für den Frieden. Die Drohung, die einst in dieser Wortverbindung steckte, hatte sich irgendwie verlaufen. Die innere "Verfriedlichung" der DDR war ein Moment der Entleerung ihrer Losungen. Oder umgekehrt. Beides jedenfalls waren zwei Seiten ein und derselben Medaille.
Die Sprache blieb stets schlicht: "KPD lebt!" oder "Nieder mit dem Krieg!" 1942 in Deutschland an die Wand gepinselt zu haben, führte zum Tode, wenn man gefasst wurde. Manche junge Kommunisten hatten es dennoch getan. Die Botschaft war einfach und klar, der Feind eindeutig auszumachen.
Der es nächtens tat, verkörperte das Gute gegen das Verbrechen des Hitler-Reiches. Und er wusste, er war in der Minderheit, was ihn nicht störte: Seine Aufgabe war Aufklärung der von den Nazis Verführten. Als solche Kommunisten 1945 im Osten Deutschlands die Macht übernommen hatten, hörten sie nicht auf, sich so zu verstehen, so zu denken. Sie waren misstrauisch gegenüber der Bevölkerung des "eigenen" Landes und verstanden ihre Politik immer als Aufklärung, was in ihrem Verständnis stets Agitation und Propaganda für ihre vorausgesetzten Ziele und Zwecke war.
Zugleich misstrauten sie den Intellektuellen. Und sie misstrauten im Alter zunehmend der jüngeren Generation. Auch deshalb war das SED-Politbüro des Jahres 1989 eine Versammlung wie aus dem Altersheim. Weil die einfachen Losungen sich damals, als sie jung waren, "bewährt" hatten, wollten sie sie immer wieder und machten sie am liebsten alle selbst. So, wie sie es verstanden.
Stets gab es diese Schmunzelgeschichten um die Losungen, die schon mein Vater erzählte. Da hatte man doch voller Eifer im Mai 1950 in großen Buchstaben an eine lange Mauer in Berlin gepinselt: "Heraus zum Deutschlandtreffen!"
Und es war eine Friedhofsmauer. Wer sollte da heraustreten? Im Jahre 1955 hing an einem Fabrikgebäude das riesige Spruchband: "Wir sind für Verträge, aber nicht für Pariser!" Es ging gegen die Pariser Verträge, mit denen die Bundesrepublik der NATO beitrat; "Pariser" hatte aber damals einen sehr intimen Doppelsinn.
1959 prangte dann an Litfaßsäulen das schöne Plakat: "10 Jahre DDR - 10 Jahre Volkseigener Zirkus". Das sollte die Bekundung des sozialistischen Zirkus-Betriebes zugunsten des "Geburtstages der Republik" sein. So hatten die oben und unten schon seit Anfang an ihre unterschiedliche Sicht auf die Sprüche, und jeder dachte sich seinen Teil.
Manchmal aber merkten die "führenden Genossen", dass die unten sich etwas anderes dachten. Schuld daran waren natürlich die "Genossen an der Basis", die ihre "guten Beschlüsse" unzureichend umsetzten. So hätten sie am liebsten gesehen, wenn überall nur jene Losungen hingen, die sie selbst beschlossen hatten. Das war Teil des eingefrorenen Herrschaftssystems. Der Kommunismus, mit dem "Marxismus-Leninismus" gleichsam die vierte Buchreligion, glaubte an das Wort, seine Kraft, seine Bedeutsamkeit.
Politische Auseinandersetzungen waren stets in ideologische Formeln gekleidet; von der rechten Linie abzuweichen, war das schlimmste Sakrileg, das ein Genosse begehen konnte, und die Abweichung wurde in der Regel mit dem Ausschluss aus der Gemeinschaft der Rechtgläubigen geahndet.
So ist die ganze Geschichte des Kommunismus auch eine Geschichte von Ketzern, Renegaten, Abtrünnigen und deren Abstrafung. Nach dem Krisenjahr 1956 hatte Walter Ulbricht das Politbüro beschließen lassen, das kein Mitglied dieses Kreises öffentlich auftreten dürfte, dessen Rede nicht vorher bestätigt worden war. Seitdem wurde nicht mehr frei gesprochen, was Wilhelm Pieck oder Otto Grotewohl zuvor oft noch getan hatten. Die Offizialsprache wurde festgezurrt und kam mit jeweils nur wenigen Formeln aus. So auch in den Losungen.
Zum Parteitag der SED, zum 1. Mai, zum "Tag der Republik" am 7. Oktober und zu den Wahlen gab es jeweils die Liste mit den beschlossenen Losungen von oben. Hier waren die Parteimitglieder draußen im Lande, die Kollegen, Blockfreunde und alle anderen gehalten, zu dem Anlass aus diesem Sortiment Sprüche zu nehmen und zu propagieren.
Diese Losungen wirkten stets schon reichlich abgehangen, wenn sie veröffentlicht wurden, erschienen so, als hätten ein paar Kreissekretäre jeweils die Losungen vom Vorjahr genommen, da ein Komma hinzugesetzt, hier zwei Worte gestrichen. Am Ende war nur wichtig zu aktualisieren: "Vorwärts" - zu allem möglichen...
Die leicht abgewandelten Losungen des 1. Mai vom Vorjahr konnten im nächsten Jahr nicht wirklich durchfallen im Politbüro. So war es dann auch. Und so war die Entleerung der Formeln Ausdruck des Herrschaftssystems, und sie kam auch von oben. Zugleich hörten die überzeugt Eifrigen von unten nicht auf, selbst "die gute Sache" propagieren zu wollen. Sie waren aber selten klüger.
"Sozialismus und Frieden sind wesenseigen" ist auf einem der Fotos zu lesen. Wie jetzt, könnte man fragen. Ist "der Sozialismus" dem Frieden wesenseigen oder der Frieden dem Sozialismus? Oder gibt es ein Wesen außerhalb beider? Wer aber ist dieses Wesen?
Stets war auch Eifer ein Moment des Losungswortes, von oben und von unten.
Zwei Motive tauchen auf den Fotografien immer wieder auf. Zum einen die Verbindung von Friedensaufruf und Arbeit. Da der Realsozialismus mit der Abschaffung der Basisinstitutionen der Moderne - Preis, Markt, Kredit - keine wirksamen Stimuli der Produktion mehr hatte, mußte immer wieder versucht werden, mit außerökonomischen Mitteln die Steigerung der Produktion erreichen zu wollen.
Wegen des Glaubens an das Wort wurde dies auch mittels der Losungen versucht, dies war eine ihrer Funktionen. Und weil die Erhaltung des Friedens etwas war, das alle teilten, vermeinten die oben, so auch alle ansprechen, ja anspornen zu können.
Die unten aber lasen das genau umgekehrt: Indem wir das tun, was wir sowieso tun, tun wir etwas für den Frieden. Oder sie ignorierten das alles einfach. Ein Teil derer unten muss es aber auch ernst genommen haben, sonst wären die vielen mit ungelenker Hand geschriebenen Spruchtafeln auch noch im letzten Jahrzehnt der DDR nicht erklärbar.
Das zweite Motiv ist das militärische: Die anderen haben die bösen Panzer, wir die guten. Hier findet die Gleichgewichtslogik des Kalten Krieges ihren Niederschlag, verbunden mit den kommunistischen Verständnis, selbst natürlich die "Sache des Friedens" zu vertreten. So nahm die Selbstdarstellung des Realsozialismus ihre militarisierte Gestalt an: der Stahlhelm, die Maschinenpistole, der entschlossene Blick, die Werbung für die Armee.
Als Gorbatschow dann mit einseitigen Vorleistungen diese Logik durchbrach, um substantielle Abrüstungsvereinbarungen mit dem Westen zu erreichen, war "Frieden schaffen mit immer weniger Waffen" der Weg zu "Frieden schaffen ohne Waffen". Das war aber bereits die Opposition, die sich vor allem unter dem Dach der Kirche gesammelt hatte und die von den Herrschenden als Gefährdung angesehen wurde.
Die militärische Perspektive aber war die, in der die oben dachten. Die "Konterrevolution" stellten sie sich immer als bewaffneten Mob vor: "Ihr werdet es sehen, sie werden uns aufhängen, wie `56 in Ungarn, wenn wir nicht aufpassen!" Deshalb die vielen Waffen im Lande, die verschiedenen militärischen Formationen: Nationale Volksarmee, Truppen der Staatssicherheit und des Innenministeriums, die bürgerkriegstauglich ausgerüstet waren und das landesweite Netz der Betriebskampfgruppen, deren Waffen in den Volkspolizei-Kreisämtern aufgestapelt waren.
Die Männer der Kampfgruppen erschienen regelmäßig auf den Plakaten zum 13. August, der in der DDR offiziell stets wie ein zweiter Gründungstag begangen wurde. Auf den bewaffneten Kampf hatten sie sich vorbereitet. Auf Kerzen, Lieder und "Keine Gewalt" waren sie nicht gefasst.
Und sie hatten nicht verstanden, dass das Volk nicht in Freund und Feind zerfiel, sondern einfach Bevölkerung war, mit vielen unterschiedlichen Interessen, Wünschen, Lebensplänen. So löste denn das Volk diese Regierung auf und wählte eine andere. Was danach kam, ist bereits ein anderes Kapitel.
Die Bilder jener Zeit sind geblieben. Sie tragen auf ihre Weise dazu bei, die Gründe für die Fluchtbewegung aus dem Realsozialismus zu erklären.
Erhard Crome
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