Das von dem in Basel wirkenden Nationalökonomen und „letzten Humanisten“ Edgar Salin ins Leben gerufene „Israelprojekt der List Gesellschaft“ (1958-1967), das mit fünfzehn Einzelstudien zu Wirtschafts- und Finanzpolitik, Infrastrukturentwicklung, Siedlungswesen und Städtebau eines der bis dahin ambitioniertesten ausländischen Forschungsvorhaben in Israel verwirklichte, ging über den Rahmen empirischer Erkenntnisinteressen weit hinaus; versuchte es doch, das sozialpolitische Panorama einer Einwanderungsgesellschaft zu zeichnen, das in der Rückschau als zentrale Quelle der zeithistorischen Debatten zu Fragen neustaatlicher Identitätsbildungen in Israel und der neu gegründeten Bundesrepublik Deutschland betrachtet werden darf.
Für Salin bedeutete die Auseinandersetzung mit der israelischen Entwicklungsplanung nicht mehr und nicht weniger als die Begegnung mit einem Faszinosum. In Israel, einem Land „wo aus Wüsten Gärten wurden“, glaubte der Humanist den „schlagenden Beweis“ (Yaacov Bach) für die These gefunden zu haben, daß das geschichtliche telos, das sich in ökonomischen, räumlichen und sozialen Prozessen figuriert, nicht ausschließlich materialistischen Schemata unterworfen ist.
Tatsächlich schienen die beeindruckenden, im Kontext der staatlichen Entwicklungspläne erzielten Erfolge des israelischen nation building mit den Begriffen einer „reinen“ Ökonomie kaum erklärbar: innerhalb von nur rund 10 Jahren hatte sich die Bevölkerung des jungen Staats, vor allem durch den Zustrom von Zuwanderern und Flüchtlingen, mehr als verdoppelt. Diese Immigrantenströme fanden vor allem in den sogenannten „Neuen Städten“ – von denen bis 1967 nicht weniger als dreißig geplant und realisiert werden – ihre Heimat; doch mußten mit dem Bau von Hafenanlagen, Straßen und Kraftwerken auch die Grundlagen eines modernen Infrastruktur- und Kommunikationsnetzes gelegt und die Entwicklung einer wirtschaftlich leistungsfähigen Industrie in die Wege geleitet werden.
Leitbildhaft wirken die – besonders in der Landwirtschaft praktizierten – Methoden kooperativer Wirtschaftsformen, die einen Mittelweg zwischen privatwirtschaftlichen und sozialistischen Systemen repräsentieren. Diese Leitbilder einer „Planung ohne Planwirtschaft“ fanden auch in den zeitgenössischen Städtebau- und Entwicklungsdebatten der Bundesrepublik, an denen Salin u.a. im Rahmen des Deutschen Städtetages aktiv beteiligt war, einen deutlichen Widerhall. Einen wichtigen Beitrag leistete hierbei insbesondere die von Erika Spiegel im Rahmen des „Israelprojekts“ realisierte Studie „Neue Städte / New Towns in Israel“, die von dem Hannoveraner Stadtbaurat Rudolf Hillebrecht und von Salin persönlich betreut wird.
In der Retrospektive erweist sich das „Israelprojekt“ indessen nicht nur als bedeutende zeithistorische Schnittstelle. Vielmehr kann es womöglich als Versuch gelesen werden, das Modell einer „anderen Moderne“ zu beschreiben. Die Verbindungslinien zu einer solchen, „anderen Moderne“ lassen sich bei Salin schon allein biographisch belegen: Der aus einer großbürgerlichen jüdischen Familie stammende Ökonom gehört dem Kreis um Stefan George an, dessen platonisches Herrschaftsideal und „ästhetischen Fundamentalismus“ er teilt.
Nahe steht er auch dem wirtschaftspolitischen Gedankengut eines Werner Sombart, zu dem Salin seit seiner Studienzeit in Heidelberg Kontakt unterhält, und zu einem Max Sering und Othmar Spann, die dem Vorstand der 1926 durch Salin initiierten List Gesellschaft angehören. Zu Beginn der 30er Jahre läßt ihn dieses „konservativ-revolutionäre“ Gedankengut gelegentlich Sympathien für den Faschismus bekunden. Auch hat der Ökonom Teil an den Debatten um Autarkie, Re-Agrarisierung und industrielle Dezentralisierung, wie sie die späte Weimarer Zeit prägen.
Die Konferenz, die als binationale Veranstaltung von deutschen und israelischen Wissenschaftlern geplant ist, setzt sich zum Ziel, von einer Betrachtung des „Israelprojekts“ ausgehend einzelne dieser Verbindungslinien offenzulegen.
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