Das Jahr 1990 – viel geht zu Ende und manches entsteht neu. Im Osten Deutschlands beginnt das große Verabschieden, Auflösen und Aufräumen.
In dieser Zwischenzeit des Nicht-Mehr und Noch-Nicht-Wieder ist unter den vielen aus dem Volkseigentum entlassenen Betrieben auch der einst für seine satirischen Drucksachen berühmte Eulenspiegel-Verlag. Als Erbmasse lagern in dem zu räumenden Keller neben der ehemaligen „Bückware“ auch Tausende leerer Umschläge im selten gebrauchten DIN-A5-Format und bangen einer ungewissen Zukunft entgegen. Sie drohen, wie der gesamte Nachlass, den Entsorgungs-Weg alles Irdischen zu gehen, würde nicht eine umsichtige Mitarbeiterin einen angesehenen Grafiker des in Agonie liegenden Verlages bitten, ihr bei der Räumung des Lagers behilflich zu sein.
So wechseln viele Kartons der DDR-typischen grau-bräunlichen Umschläge den Besitzer und harren fortan ihrer höheren Zweckbestimmung. Diese tritt in Gestalt des renommierten Dichter-Cartoonisten F.W.Bernstein (Steglitz, Berlin/West) wenige Monate später in das Leben des populären Kinderbuch-Illustrators Manfred Bofinger (Treptow, Berlin/Ost).
Zwar wissen beide den wohlbekannten Namen des Berufskollegen der zeichnerischen Handschrift zuzuordnen, sind sich persönlich aber noch nie begegnet. In die Neugierde aufeinander mischt sich bereits beim ersten Treffen eine herzliche Zuneigung. Folgerichtig erkennt der Briefumschläge-Neubesitzer Bofinger die historische Chance, seine papierenen Ressourcen endlich einer inhaltsreichen Nutzung zuführen zu können. Die Hülle ist vorhanden – die Idee wird geboren! Und ab sofort begeben sich „B&B“ in einen zeichnerischen Briefwechsel, der bis in die Gegenwart andauert.
Den beiden Kreativ-Köpfen ist keine Beobachtung zu klein und kein Ereignis zu groß, um nicht festgehalten und in ein A5-Format transponiert zu werden. Zuerst in freier Motivwahl, bald aber unter strenger Vorgabe eines thematischen „Produktionsanlasses“ wird voll Hintersinn der Sinn und Unsinn des täglichen Lebens betrachtet. Was als spielerische Fingerübung beginnt, ist beiden längst unermüdliches Bedürfnis.
Bei F.W.Bernstein in Steglitz wird die Idee zwischen der ersten Tasse Tee am frühen Morgen und dem vormittäglichen Frühstück geboren und zu Papier gebracht. Anders in Treptow: Bei Manfred Bofinger kommt der Einfall im Laufe des Tages, wird entwickelt, ausgefeilt und dann verarbeitet. Auf diese Weise entstehen wöchentlich oft mehrere gezeichnete, aquarellierte, gemalte und gekritzelte Zeit-Kommentare, die seit 12 Jahren auf dem Postweg pünktlich und fast immer unbeschadet den Adressaten erreichen.
Zum Glück entschließen sich Bernstein & Bofinger, die ursprünglich nur private Korrespondenz auch öffentlichen Blicken zugänglich zu machen. In einigen Ausstellungen und bisher wenigen Publikationen kann man an dem lustvoll gezeichneten Gedankenaustausch teilhaben, den Blick für Wesentliches schärfen und schmunzelnd zu manch neuer Erkenntnis gelangen.
Mit humorvoller Respektlosigkeit haben B&B die „Weltgeschichte verbessert“ und das „Jahrhundert korrigiert“, „Deutsch-Deutsches“ treffsicher analysiert und mit kratzigem Humor interpretiert. Die Serie „Wenn ich König wär“ behandelt in freier Übersetzung des Rio-Reiser-Songs „König von Deutschland“ urkomisch alle Fragen zur Monarchie. Wie gut die beiden Cartoonisten das vierhändige Spiel auf nur einer Seite beherrschen, zeigen die „Denkmäler“: Ideenreich wird auf dem selben Blatt vom Anderen vollendet, was der Erstzeichner vorgibt und damit für eine Verdoppelung des Seh- und Denkvergnügens gesorgt.
Aktuelles Thema sind „Premieren“ – gebündelte Lebensweisheiten und Betrachtungen rund um das „erste Mal“. Möge das letzte Mal noch lange auf sich warten lassen und der Vorrat an Briefumschlägen nie ausgehen!
Martina Schellhorn
Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung
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