Dr. Habbo Knoch (Georg-August-Universität Göttingen) Das Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam lädt in lockerer Folge Experten aus der Geschichtswissenschaft wie aus der Medienpraxis zu Vorträgen ein, um Bedeutung und Funktion audiovisueller Medien für die „Geschichte der Gegenwart“ unter den unterschiedlichsten Aspekten zu beleuchten und zu diskutieren. „Zeitgeschichte“ ist längst mehr als die Bezeichnung einer Teildisziplin der Geschichtswissenschaften. Zwar taugt Hans Rothfels‘ Definition von Zeitgeschichte als der „Epoche der Mitlebenden und ihre wissenschaftliche Bearbeitung“ auch heute noch zur innerakademischen Grenzziehung. Zugleich hat sich aber außerhalb der „Zunft“ und ihrer auf Wort und Schrift ausgerichteten Kommunikation eine ganz anders gerechtfertigte Praxis von „Zeitgeschichte“ durchgesetzt: In den Massenmedien unserer Tage deckt sich „Zeitgeschichte“ weitgehend mit dem, was sich mithilfe der im Laufe des 20. Jahrhunderts zur Perfektion entwickelten analogen Aufzeichnungs- und Wiedergabeverfahren in Ton und Bild als „authentische“ Vergangenheit inszenieren lässt. Fotographie, Schallplatte und Film sowie Radio und Fernsehen verändern Zeitgeschichte in mehrfacher Weise: In mehreren Wellen technischer Innovationen revolutionierten sie den Weltbezug derjenigen, deren Handeln und Leiden wir heute im Rückblick zu verstehen versuchen. Wie alle anderen Quellen sind Spuren auf Negativen, Filmstreifen und Magnetbändern nicht lediglich aufbewahrenswerte Fragmente des Vergangenen. Sie fordern zugleich dazu heraus, vergangenes „Hören“ und „Sehen“, aber auch „Inszenieren“ und „Zeigen“ zu rekonstruieren. Audiovisuelle Medien haben nicht nur die Kommunikation im Alltag von Arbeit, Familie und Freizeit rationalisiert, beschleunigt und synchronisiert. Sie befördern zugleich eine gesteigerte Reflexivität gesellschaftlicher Wahrnehmungsweisen, möglichst noch im Moment des Wahrnehmens. Die Identität von Geschehen und massenmedialer Übermittlung generiert historische Ereignisse auf neue Weise: nicht mehr lediglich als Konstrukt retrospektiver Diskurse, sondern als unmittelbar allen „angeschlossenen“ Hörern und Zuschauern sich offenbarende Evidenz. Noch im gegenwärtigen Geschehen wird der Moment, an dem alle mit Augen und Ohren teilhaben, zur Geschichte, Zeitgeschichte somit zur Epoche der Mitsehenden und Mithörenden. Mittlerweile füllen Aufzeichnungen derartiger „historischer Momente“ die Archive der Rundfunkanstalten und Medienkonzerne und dienen als Rohmaterial des „Histotainments“: Jenes Unterhaltungsgenres, das das Vergnügen und den Kitzel, virtuell an der audiovisuellen Evidenz des „Historischen“ teilzuhaben, zum Konsumartikel weiterentwickelt hat. Gegenüber dieser Entwicklung verharrt die Zunft der Zeithistoriker bislang überwiegend in gleichmütiger Distanz. Der konventionelle Stoff der Aktenüberlieferungen geht ihnen noch lange nicht aus. Die wenigsten sehen sich genötigt, aus der Medien- und Kommunikationsrevolution, die das Signum gerade jener Epoche ist, für die sie ein besonderes Spezialistentum reklamieren, theoretische, geschweige denn praktische Konsequenzen zu ziehen. Lesen und Schreiben, Begriff und Disput verbürgen der zeithistorischen Normalwissenschaft weiterhin einen Zugang zur Wirklichkeit, der gegenüber den zu ihrem Verständnis auf nonverbales Wahrnehmen, Empfinden und Assoziieren angewiesenen Praxen des Hörens und Sehens scheinbar überlegen, da rational kontrollierbar ist. Soll Zeitgeschichte als wissenschaftliche Praxis zukünftig ernst genommen werden, dann muss sie diese Selbstbeschränkung hinterfragen und den Umgang mit den audiovisuellen Schnittstellen zur Vergangenheit als zentralen Gegenstand ihrer methodischen Reflexion annehmen.
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