Wer aus politischen Gründen in der DDR inhaftiert war, hat oft bis heute mit den Folgen zu kämpfen. Welche das sind und warum auch die Kinder und Enkelgenerationen betroffen sein können, darüber haben wir mit drei Fachleuten gesprochen.
In der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR wurden Menschen aus tatsächlichen oder vermeintlichen politischen Gründen inhaftiert. Betroffen waren zum Beispiel Menschen, die sich kritisch zum System äußerten oder das Land verlassen wollten und deswegen kriminalisiert wurden sowie Personen, deren Lebensführung nicht den Normen entsprach, die von der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, der SED, vorgegeben wurden.
Wie viele Menschen betroffen waren, ist bis heute nicht abschließend geklärt. Schätzungen gehen von 180.000 bis 300.000 zwischen 1945 und 1990 aus. Die Unsicherheit folgt aus der Tatsache, dass bis heute keine Einigkeit besteht, was unter politischer Haft zu verstehen ist. Wenig bekannt sind auch die Auswirkungen der Haft auf die Gesundheit der Betroffenen und ihrer Nachkommen.
Professor Röpke, Sie leiten das Projekt „Körperliche und psychische Folgen politischer Haft“ an der Berliner Charité. Warum beschäftigen Sie sich gerade jetzt mit den Folgen politischer Haft in der DDR?
Der Hintergedanke war, dass, wenn man die Ereignisse in der DDR-Diktatur mit Menschen untersuchen möchte, die jetzt noch leben, dann muss man das jetzt machen. Die Zeit läuft einfach ab. Jetzt sind die Menschen noch da. Jetzt kann man noch mit ihnen sprechen. In 20, 30 Jahren ist das dann schon viel, viel schlechter möglich.
Frau Maslahati, Sie haben unter anderem die Durchführung des Projekts organisiert. Wie reagierten die Betroffenen auf das Vorhaben?
Es gab Reaktionen aller Art. Viele haben sich gefreut, einige haben auch gesagt, das kommt vielleicht zu spät. Warum jetzt erst? Es ist schon so viel Zeit vergangen. Einige haben auch gesagt, mich betrifft es heute gar nicht mehr. Ich denke da gar nicht mehr dran. Ich will mich damit nicht beschäftigen. Auch das gab es. Aber viele haben auch gesagt, gut, dass es jetzt endlich mal gemacht wird.
Wer nimmt in Brandenburg an dem Forschungsprojekt teil?
Gewonnen haben wir sowohl Betroffene als auch deren Nachkommen, insgesamt rund 450 Personen und 250 Betroffene, also Menschen, die selbst politisch inhaftiert waren. Darunter sind 99 Brandenburger, die in Brandenburger Gefängnissen inhaftiert waren, und die bei uns teilgenommen haben. Die Betroffenen selbst sind im Schnitt 70 Jahre alt und waren im Schnitt mit Anfang 20 inhaftiert. Das sind die Durchschnittswerte, die wir haben.
Frauen und Männer waren nicht gleichermaßen von politischer Haft betroffen...
Meinen Informationen zufolge waren es ungefähr 20 Prozent Frauen gegenüber 80 Prozent Männern. Das zeigt sich auch bei den von uns untersuchten 450 Personen.
Wie untersuchen Sie die Folgen der Haft?
Es gab schon wichtige Untersuchungen dazu. Was aber bisher fast gar nicht Beachtung gefunden hat, ist die körperliche Gesundheit. Man geht davon aus, dass politische Haft als psychisches Trauma psychische oder psychiatrische Folgen hat. Aber auch die körperliche Gesundheit kann davon beeinträchtigt werden. Und das untersuchen wir jetzt erstmals.
Herr Professor Röpke, welche Methoden nutzen Sie als Facharzt?
Das eine ist der ganze Teil der psychischen Erkrankungen. Die Untersuchung beginnt mit einigen Fragebögen, die man einfach ausfüllt. Dann gibt es einige Tests. Zum Beispiel schauen wir auf kognitive Einschränkungen, also auf so etwas wie beginnende Demenz.
Dann haben wir so was, das wir strukturierte Interviews nennen. Das heißt, dass man die einzelnen psychischen Erkrankungen mit dem Patienten einzeln durchgeht. Das ist ein relativ aufwendiger Prozess, in dem man Fragen stellt. Zum Beispiel: Wie ist Ihr Schlaf? Wie ist Ihr Appetit? Wie ist die Konzentration?
Das andere ist die körperliche Gesundheit. Dazu gehören die Blutanalyse und Haarproben. Auch hier gehen wir systematisch die einzelnen Organsysteme durch und erfassen Erkrankungen bei den untersuchten Personen.
Woran erkennen Sie, dass eine Erkrankung die direkte Folge politischer Haft ist?
Für einen einzelnen Menschen kann man nicht sagen, dass eine Krankheit deshalb besteht, weil die Person in der Haft war. Deshalb machen wir diese Studie und wenn wir uns die Daten anschauen, erkennen wir schon jetzt, dass die Wahrscheinlichkeit, an bestimmten Erkrankungen zu leiden, erhöht ist. Es besteht eine höhere Wahrscheinlichkeit für Bluthochdruck, Diabetes, Depressionen und Angst- sowie Suchterkrankungen. Wir haben unsere Werte mit den Werten für die allgemeine Bevölkerung verglichen. Und da sehen wir, dass es eine deutliche Häufung bei den Inhaftierten gibt.
Das sagt, wie gesagt, noch nichts über den Einzelfall aus. Aber es gibt einige psychische Erkrankungen, bei denen man eine sehr klare Verbindung ziehen kann. Zum Beispiel die Posttraumatische Belastungsstörung. Das ist eine sehr häufige Erkrankung nach traumatischen Erlebnissen. Die Betroffenen haben zum Beispiel nachts Albträume, träumen immer wieder die Situation aus der Zelle oder von der Verhörsituation oder fühlen sich tagsüber immer wieder dorthin zurückversetzt.
An den Untersuchungen nehmen auch die Nachkommen von ehemals Inhaftierten teil. Können Traumata sowie körperliche Folgen von Haft denn vererbt werden?
Die Forschung hat gezeigt, dass es so ist. Das heißt, wenn ein Elternteil eine psychische Erkrankung hat, dann ist die Wahrscheinlichkeit für die Kinder höher, bestimmte Erkrankungen zu haben. Diese Ergebnisse kommen vor allem aus Untersuchungen mit Holocaust Überlebenden. Dort sah man, dass deren Kinder eine höhere Wahrscheinlichkeit für Depressionen haben, selbst wenn sie in anderen Familien groß wurden, in Adoptivfamilien, und nie irgendetwas mit ihren leiblichen Eltern physisch zu tun hatten. Und diesen Mechanismus, der bekannt ist aus der Stress- und Traumaforschung, den untersuchen auch wir, indem wir uns angucken, ob bei den Kindern der Betroffenen eine höhere Wahrscheinlichkeit für psychische Erkrankungen und körperliche Erkrankungen besteht.
"Was für ein Leid damit zusammenhängt, das war mir in dem Ausmaß nicht klar." (Tolou Maslahati)
Frau Maslahati, Ihre Studie ist zwar noch nicht abgeschlossen. Können Sie dennoch sagen, was Sie und Ihr Team bisher am meisten überrascht hat?
Eine Sache, über die wir, glaube ich, alle überrascht sind, ist, wie wenig sich diese Menschen gesehen fühlen. Und das verursacht auch noch mal Leid. Also die Haft ist vorbei, aber dass das gesellschaftlich weiterhin nicht aufgearbeitet wird, nicht anerkannt wird, was damit zusammenhängt, was für ein Leid damit zusammenhängt, das war mir in dem Ausmaß nicht klar.
Herr Körner, Sie beraten Menschen aus Brandenburg, die von politischer Haft betroffen waren. Was nehmen Sie wahr?
Was ich wahrnehme, ist ein starkes Unrechtsempfindender der Betroffenen. Selbst wenn sie auf den ersten Blick nicht in politischer Haft waren, so waren sie das im Kern natürlich. Zum Beispiel war es in der DDR relativ einfach, Menschen über den Paragraphen 249 zu verurteilen. Das war der sogenannte Asozialen-Paragraph. Er wurde zur Unterdrückung Andersdenkender herangezogen. Die Verurteilung empfinden die Menschen als Unrecht und kommen zu uns, weil sie rehabilitiert werden möchten.
Dafür gibt es ja ein Gesetz. Worin liegen die Schwierigkeiten?
Das ist tatsächlich nicht immer einfach. Es gibt im strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz die klassischen politischen Straftaten. Da gibt es einen Katalog, in dem steht, welche Straftaten sozusagen standardmäßig zu rehabilitieren sind. Dazu zählen Dinge wie Rowdytum, Zusammenrotten, staatsfeindliche Hetze. Aber es gibt eben auch Verurteilungen durch den sogenannten 249, wo es dann immer einer Einzelfallprüfung bedarf.
Wenn man eine Rehabilitierung erreicht hat, dann spüre ich bei den Leuten eine große Freude. Da hängen auch Leistungen dran. Viele sind wirtschaftlich eingeschränkt und da sind 331 € monatlich und die Kapitalentschädigung schon Sachen, die den Menschen wirklich weiterhelfen und auch das Gefühl geben: Ja, ich werde von der Gesellschaft gesehen.
Wie lange dauert ein Rehabilitierungsverfahren?
Nach meiner Erfahrung ist das Anerkennungsverfahren für die meisten ein sehr, sehr langer, steiniger Weg, der oft mit sehr, sehr großen persönlichen Verletzungen einhergeht. Wir haben viele Jahre eine Dame betreut, die mit Anfang 20 zu Unrecht in Haft war und in dieser Zeit schlimme Sachen erlebt hat von Gewalt über sexuellen Missbrauch. Sie hat Ende der 1990er Jahre die Anerkennung ihrer Gesundheitsschäden beantragt und es zog sich bis 2021 hin, bis das Landessozialgericht eine Entscheidung getroffen hatte, mit der sie leben konnte.
Was wünschen Sie sich für den Umgang mit ehemaligen politischen Häftlingen?
Ich würde mit einer empathischen Begleitung durch das Verfahren anfangen, dass die Menschen jemanden an die Seite bekommen. Eine Vertrauensperson, die aber auch eine Verbindung zu dem Verfahren hat und die Menschen unterstützt sowie erklärt, was das Versorgungsamt mit ihnen macht. Das wäre schon mal ein erster guter Schritt. Es ist auch wichtig, dass nicht nur fachliche, sondern auch empathische Kompetenzen vorhanden sind. Dass also Gutachter wissen, wen sie da vor sich haben und wie sie die Sachlage bewerten müssen.
Anm. d. Red.: Das Gespräch mit Michael Körner, Stefan Röpke und Tolou Maslahati haben wir im Rahmen unserer Veranstaltung „Politische Haft in der DDR" aufgezeichnet. Für die schriftliche Form wurden die Fragen und Antworten redaktionell bearbeitet und gekürzt. Es gilt das gesprochene Wort. Den vollständigen Wortlaut hören Sie in unserem Podcast "Was ist da los? Über Politik und Gesellschaft".
Podcast "Was ist da los? Über Politik und Gesellschaft"
BLPB, August 2023
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