Valerie Schönian über "Ostbewusstsein"

Geboren 1990 und dennoch voller Ostbewusstsein? Valerie Schönian wuchs in Magdeburg ohne „Ossi-Gefühl“ auf. Das änderte sich in München. Warum sie sich heute vor allem als Ostdeutsche fühlt und warum sie das für andere auch wichtig findet, darüber haben wir mit ihr gesprochen.

Valerie Schönian
© BLPB

Sie haben die DDR nicht selbst erlebt, fühlen sich aber zuallererst als Ostdeutsche. Was ist das für ein Gefühl?

Valerie Schönian: Gute Frage! Gefühle lassen sich ja immer sehr schwer in Worte fassen. Ich glaube, ich würde es so beschreiben, dass es etwas mit einem Zugehörigkeitsgefühl zu diesem Landesteil zu tun hat. Dass es auch ein Gefühl der Solidarität ist mit der ostdeutschen Geschichte und ein Gefühl der Verbundenheit mit dieser Geschichte und den Menschen, die diese Geschichte teilen.

Man muss dazu sagen, dieses Ossi-Gefühl hatte ich nicht immer. Also ich bin nicht auf die Welt geplumpst und dachte: Ich bin Ostdeutsche, sondern ich bin in Magdeburg aufgewachsen in dem Bewusstsein: Deutschland besteht aus 16 Bundesländern und nicht aus Ost oder West.

Das hat sich geändert, als ich nach München gegangen bin und gemerkt habe: Ah OK, hier gibt es immer noch diese Vorurteile gegenüber Ostdeutschen... Da ging ein Prozess bei mir los. Dieses diffuse Ossi-Gefühl. Eben dieses Gefühl: Ok, ich möchte hier auch etwas verteidigen. Ich möchte hier sagen: Hey Stopp. Ihr könnt das nicht so pauschal sagen, erstens. Und zweitens beschreibt ihr da etwas, was ich gar nicht mit dem Landesteil verbinde. Aber ich komme doch da her, vielleicht habe ich da ein bisschen mehr Ahnung.

Was ist in München "passiert"? 

Valerie Schönian: Ich war 2014 in München als PEGIDA anfing, in Dresden zu marschieren und ich stand in München auf der Gegendemo. Aber irgendetwas unterschied mich von den Leuten um mich herum. Ich habe mit einer Freundin darüber gesprochen und sie gefragt: Sag mal ganz ehrlich, was denkst du über diese ganze Situation? Und sie meinte, „PEGIDA holt ganz finstere Klischees aus mir heraus, dass ich denke: Scheiß Jammer-Ossis, dass ihr euch immer noch benachteiligt fühlt.“

Ich habe sie danach gefragt, aber für mich war es auch ein Stück weit erschreckend. Wie kommt das denn? Darauf wollte ich auch eine Antwort finden.

Valerie Schönian
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Valerie Schönian

kam Ende September 1990 in der DDR zur Welt – wenige Tage vor der Wiedervereinigung. Lange dachte sie, Ost und West spielten keine Rolle mehr. Doch je länger der Mauerfall her war, desto ostdeutscher fühlte sie sich.

Damit ist sie nicht allein in der Generation der ostdeutschen Nachwendekinder. Sie hat darüber ein Buch geschrieben und sich gefragt, woher ihr Ost-Bewusstsein kommt. Die Autorin arbeitet als freie Journalistin u.a. für das Leipziger Büro der ZEIT

Sie schreiben von einem regelrechten "Ostrausch". Was ist so berauschend am Osten?

Valerie Schönian: Es gibt ja ganz viele tolle Lieder, es gibt Kraftklub, Feine Sahne Fischfilet, es gibt,  wenn man es mag, Silbermond, es gibt Trettmann. Es gibt unfassbar viel Musik, die jetzt gerade aus dem Osten kommt und die einfach geile Musik ist. Also das kann jeder für sich entscheiden. Aber es gibt aus allen Genres etwas und auch aus der DDR-Zeit sind das unfassbar Gute-Laune-Lieder. Sowas wie die Puhdys oder Karat und ich kann nur empfehlen, wenn man das hört, kann man sich sehr gut in einen Ostrausch hineinhören.

Natürlich besonders mit dem Lied „Kling Klang“ ... von Keimzeit, weil viele Westdeutsche das nicht kennen und es geht ja darum: Warum kennen alle Ostdeutschen dieses Lied und warum kennen die Westdeutschen das nicht? Das hat etwas mit Machtstrukturen zu tun.

Was sagen eigentlich Ihre Eltern zu Ihrem erwachten Ostbewusstsein? 

Valerie Schönian: Ja, die fanden das erstmal sehr seltsam. Die erste Reaktion von meinem Vater war: Was hast du denn mit dem Osten zu tun? Und das Interessante war, dass sie das nicht nur mir abgesprochen haben, ostdeutsch zu sein, sondern sogar sich selbst. Sie meinten, der Osten, oder ob Ost, ob West, das spielt heute eigentlich gar keine Rolle mehr.

Ich merke das bei vielen älteren Ostdeutschen, mit denen ich seitdem spreche, dass sich die Sprechhaltung verändert hat, dass sie merken, OK, wenn ich jetzt nicht so vorverurteilend bin und erstmal zuhöre und nicht gleich von Stasi oder Widerstand sprechen möchte, dass sie mehr ins Reden kommen über ihre DDR-Zeit, über ihr Leben. Und das ist natürlich etwas, das mich auch freut, weil es auch in dieser Diktatur, die es natürlich war und die wir nicht schönreden dürfen, aber auch ein Leben gab.

Mein Vater sagt immer: Wir haben mit dem Leben nicht gewartet bis die Mauer weg ist. Und ich habe diesen Satz von so vielen Älteren... schon gehört. Die immer zu mir kamen und meinten: Genauso wie ihr Vater sagt, so ist es! Da merkt man, wie krass das die Leute berührt, dieser einfache Satz von meinem Vater. 

Worum geht es Ihnen?

Valerie Schönian: Es geht vor allem darum, diese Perspektive sichtbar zu machen, diese ostdeutsche Erzählung. Sie findet einfach noch nicht in einem gleichwertigen Maße statt. Also zum Beispiel, wenn wir über Helmut Schmidt reden, dann reden wir über deutsche Geschichte, wenn wir über Egon Krenz reden, dann reden wir über ostdeutsche Geschichte. Das Ostdeutsche ist immer noch irgendwie das erklärungsbedürftige Andere und kein selbstverständlicher Teil dieses Landes...

Es ist einfach wichtig, dass in einem Land Augenhöhe herrscht auf allen Ebenen. Es ist noch so, dass die wirtschaftliche Macht, die politische Macht, die Medienmacht, die historische Haupterzählung noch vorwiegend in westdeutscher Hand liegen. Das war auch schon immer so, das war die letzten 30 Jahre so. Nur jetzt fällt es immer mehr Leuten auf, weil wir darüber reden. Und wir müssen noch mehr darüber reden, damit sich das ändert.

Damit ein Bewusstsein dafür entsteht, dass es eine andere Perspektive ist, dass es eine Rolle spielt. Sonst könnte man sagen, ist ja egal, wer die Führungskräfte sind. Es ist aber nicht egal und deswegen dieses Ostbewusstsein. Und, um es auch noch mal zu sagen: Es ist eben nur eine EINE Perspektive von vielen Perspektiven, die zu diesem Land gehören, die noch so wenig gesehen werden. 

Missing Produkt.

Wie passt Ihr Ostbewusstsein mit der Deutschen Einheit zusammen?

Valerie Schönian: Natürlich sind wir eine Einheit. Natürlich sind wir wiedervereinigt, für mich. Aber das bedeutet ja nicht, dass wir nicht unterschiedlich sein können. Ich glaube, es ist ein Generationsunterschied. Für Leute, die die Teilung noch bewusst erlebt haben, war die Wiedervereinigung und die Einheit eine Erwartung. Und die dachten „OK, das wird irgendwann so kommen und das wird gar keine Rolle mehr spielen.“ Und jeder Unterschied bestätigt für sie, dass die Teilung immer noch vorhanden ist.

Bei mir ist es ganz anders, weil die Einheit für mich keine Erwartung ist, sondern eine Selbstverständlichkeit. Für mich bestätigt jeder Unterschied, den ich sehe, einfach nur, wie vielseitig die Einheit ist. Aber die Einheit wird für mich nicht in Frage gestellt. Ich kann beides total verstehen. Das ist die Perspektive, die meine ist und ich glaube auch die von vielen bis den meisten Nachwendekindern.

Wir sind hier in Brandenburg, das Sie als "Land der Festivals" kennengelernt haben. Sie halten es für ein Zukunftsmodell für den gesamten Osten. Andere finden das einfach nur laut. Was entgegnen Sie denen?

Valerie Schönian: Ich will jetzt niemandem, die/der auf dem Dorf wohnt, überstülpen, dass die ein Wochenende lang lauten Techno ertragen müssen. Man braucht natürlich Konzepte, wie das zusammen funktioniert. Aber das ist natürlich ein Schatz des Ostens, diese Freiräume und diese Möglichkeiten. Erstens ist das ein Wirtschaftsfaktor. Wie viele Gelder durch diese Festivals nach Brandenburg fließen, das weiß das Land ja auch selbst. Deshalb gibt es richtige Strategien, um die Veranstalterinnen und Veranstalter zu halten.

Dann zieht es superviele junge Leute an, also genau die jungen Leute, die dem Osten fehlen... Für alle Leute, die noch nie bei so einem Festival waren: Das sind ja auch kleine Utopien, kleine Räume, in denen es nicht nur um die Musik geht, sondern auch um eine politische Idee davon, dass wir alle frei sein können. Da stehen überall Aufforderungen gegen Rassismus, gegen Sexismus, gegen Homophobie... Das kann auch eine kleine Spritze gegen ausgrenzendes Gedankengut sein. 

Zum Schluss der ultimative Test zum Thema Ostbewusstsein...

  • Ihr erster Gedanke bei dem Lied „Über sieben Brücken musst du gehen“?
     
  • Ihr erster Gedanke zum FC Magdeburg?
     
  • Ihr erster Gedanke zur Farbe Orange?

Valerie Schönians Antwort auf diese und weitere Fragen gibt es in unserem Videointerview mit ihr:

Third-party content

Von der Landeszentrale empfohlenes Video. Beim Laden werden Daten an externe Dienstleister hergestellt. Weiteres finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.

Anm. d. Red.: Das Gespräch wurde für die schriftliche Form redaktionell bearbeitet und gekürzt. Es gilt das gesprochene Wort.

BLPB, Oktober 2020

Linktipps

  • Wendekinder

    Was bewegt junge Menschen, die 1989/90 geboren wurden und als erste Generation im wiedervereinten Deutschland aufgewachsen sind? Zwölf WendeKinder aus Brandenburg erzählen von ihren Erfahrungen und Wünschen.

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