Wende, Wunder und Wahnsinn

Karikatur von Klaus Stuttmann
© Klaus Stuttmann

Eine „unerhörte Begebenheit“ hat man es genannt, das friedliche Ende einer vierzigjährigen feindseligen Konfrontation auf deutschem Boden, symbolisiert in der fröhlichen Nacht der Begegnung, als die Berliner Mauer fiel. Deshalb kam den meisten Menschen, die damals lachend und weinend, aber auch bangend und zweifelnd die Systemgrenze überschritten, angesichts des Wunders nur das Wort Wahnsinn über die Lippen. Von der Wende hatte zuvor nur Egon Krenz gesprochen. Jetzt reden alle davon.

Was verbirgt nicht alles die Sprache! Die Rede von „friedlicher Revolution“ konnte sich im vereinten Deutschland nicht einbürgern, obwohl sich die Verhältnisse im Osten mit sprichwörtlich deutscher Gründlichkeit veränderten. Allerdings nach freier Wahl, auf dem sogenannten Rechtsweg. WENDEPUNKTE wurden somit Wahlen, Währungsunion und schließlich Wiedervereinigung.

Wegweisend wurde das deutsche „W“, im Englischen „Double U“ genannt, das nicht nur wie das „U“ für eine einfache Wende steht, sondern gleich für mehrfache. Geradezu zum Kennzeichen der Epoche seit 1989 wurde ein Terminus, den Helmut Kohl wiederholt zu gebrauchen pflegte: die historische Stunde. Durch die Wiederholung wurde allmählich jedem klar, dass das alles noch nicht das „Ende der Geschichte“ war, die 1990 der Amerikaner Francis Fukujama wegen angeblicher „Erschöpfung aller Alternativen“ auszurufen wagte. Vergeblich.

Neue WENDEPUNKTE aller Art kennzeichnen seitdem den Lauf der Zeit: Gemeinsame WENDEPUNKTE, wie die von der Mark zum Euro, von Kohl zu Schröder, stehen neben unzähligen einsamen WENDEPUNKTEN, die die gesellschaftliche Veränderung für das Leben jedes Einzelnen brachten.

Alle drei Jahre nach 1989 schrieb man dem Osten eine neue Wende zu: 1992 sprach man von der „Wiederkehr der DDR“ anlässlich der Öffnung der Stasi-Akten. Seit 1995 steht die „Wiedergeburt einer ostdeutschen Identität“ zur Debatte, worin der Westen das „Heimweh nach der alten Ordnung“ erkennen will, der Osten das behauptet, was ihm geblieben ist und keiner nehmen kann.

1998 wurde erneut zum Jahr einer Wende aufgerufen. Mit der Bundestagswahl würde sich entscheiden, „was das für ein Land sein wird, die Berliner Republik“. So die Prognose von Frau Noelle-Neumann, der großen alten Damen der deutschen Demoskopie. Und sie setzte am 23. Februar letzten Jahres in der FAZ erläuternd hinzu:

„Die Kluft zwischen Ost und West ist dabei, sich zu schließen durch Anpassung der Westdeutschen an die Empfindungswelt der Ostdeutschen.“


Das wäre, oh Wunder und Wahnsinn, eine gute Wende, eine wiederum „unerhörte Begebenheit“.

Dr. Hans Misselwitz
Leiter der Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung von 1991 bis 1999

Aus der Ausstellung "Wendepunkte. Karikaturen von Klaus Stuttmann und Barbara Henniger", die 1999 in der Landeszentrale gezeigt wurde.

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