„Ich möchte nichts mit Krieg zu tun haben”

Interviews mit Frauen und Männern, die aus der Ukraine fliehen mussten und die heute in Brandenburg leben. Ihre Erinnerungen beschreiben beispielhaft, was Millionen Menschen in der Ukraine erfahren.

Ausstellungseröffnung am 26. April 2023 in der Landeszentrale
© fbn

Ludmilla Fomina und Natascha Zatula (v.r.n.l.) nahmen für die Ausstellung an Interviews teil, in denen sie über ihre Flucht aus der Ukraine und ihr Ankommen in Brandenburg berichten.

Fünf Interviews mit Menschen aus der Ukraine:

​​​​​„Ich bin in der Sowjetunion geboren"

„Meine Seele ist noch immer in der Ukraine”

„Mein Kind soll nicht im Krieg aufwachsen”

„Ich hätte nie gedacht, dass es so etwas gibt”

„Ich möchte nichts mit Krieg zu tun haben”

 

„Ich bin in der Sowjetunion geboren"

Ludmilla Fomina
© David Rojkowski

Ludmilla Fomina

geb. 1961 in Suojarwi (Karelien)
Ausbildung: Wirtschaftsstudium
Beruf: Yoga-Lehrerin aus Charkiw
am 9. April 2022 nach Deutschland gekommen

 

Warum musste es zum Krieg kommen?

Für mich waren die Länder der Sowjetunion so, wie die sechzehn Bundesländer in Deutschland. Ich habe verschiedene Verwandte in Russland und in der Ukraine und niemand versteht, warum all das geschehen ist. Warum musste es zum Krieg kommen? Meine Tochter ist russisch und mein Sohn ukrainisch. Das, was jetzt passiert, kann ich nicht verstehen. Es ist sehr traurig. Wir haben in den Nachrichten gesehen, dass Krieg ist und wussten nicht, was wir machen sollten.

Nach ein oder zwei Tagen würde das alles beendet sein

Wir sind dann zu meiner Schwiegertochter gefahren. Das Haus, in dem sie lebte, war neun Etagen hoch. Unten gab es ein großes Untergeschoss mit einer Turnhalle, einem Friseur, Werkstätten. Hier war es warm, hier gab es Licht und viel Raum. Für den Fall, dass oben eine Bombe einschlug, würden vielleicht drei bis vier Etagen abbrennen, aber bis zu uns herunter in den Keller würde der Einschlag nicht kommen.

Die Erwachsenen waren vollkommen ratlos, die Kinder fanden es spannend, mit so vielen Kindern zusammen zu sein und zu spielen. Wir dachten, nach ein oder zwei Tagen würde das alles beendet sein.

Die „Zwei-Wände-Herrschaft“

Am Anfang versteckten wir uns bei Alarm im Keller, später vertrauten wir auf die „Zwei-Wände-Herrschaft“. Das heißt: Bei Alarm, den es andauernd gab, ging man dorthin, wo einen mindestens zwei Wände von draußen trennten. Bei Explosionen gingen häufig Fenster kaputt und splitterten in Wohnungen. Sicherer war man dort, wo mindestens zwei Wände dazwischenlagen. Das wussten auch die Kinder. In die Flure haben wir Schlafmatratzen gelegt und dort geschlafen.

Am 9. April saßen wir beim Essen, als in unserem Hof eine Bombe explodierte. Es war schrecklich. In dem Hof gab es immer viele Spaziergänger und spielende Kinder. Die Bombe hat alles verwüstet. Es gab sehr viele Opfer. Mein Ex-Mann hat daraufhin gesagt, er kümmere sich um unseren Sohn und ich solle Charkiw verlassen.

Insgesamt war ich drei Tage unterwegs

Ich bin mit dem Zug Richtung Deutschland gefahren, wo meine Tochter mittlerweile lebte. Sie sagte, sie würde einen Platz für mich finden. Der Zug war sehr voll. Koffer und Kinderwagen mussten auf dem Bahnsteig bleiben. Bis Lwiw waren es 24 Stunden Zugfahrt. Dort stieg ich aus und fuhr mit dem Bus weiter nach Polen. In Polen wurden wir aufgeteilt. Ich fuhr weiter nach Potsdam. Insgesamt war ich drei Tage unterwegs.

Ein Platz in der Nachbarschaft

Meine Tochter hatte in der Zwischenzeit einen Platz für mich in ihrer Nachbarschaft gefunden. Ich hatte Glück. Ein Ehepaar, das so alt ist wie ich, hat ein großes Haus. Sie gaben mir ein Zimmer. Manchmal kochen wir zusammen. Manchmal sehen wir abends zusammen fern und trinken ein Bier. Manchmal nähen meine Gastgeberin und ich zusammen und ich kann ihr ein paar Tipps geben. Sie sprechen sehr viel mit mir und so lerne ich die Sprache gut. Wir haben eine Vereinbarung: Wenn es für sie nicht mehr passt, sagen sie mir drei bis vier Monate vorher Bescheid.

Ich werde erst einmal hier bleiben

Mir gefällt es sehr in Deutschland. In der Ukraine habe ich Yoga mit Senioren gemacht und damit würde ich auch gerne hier meinen Lebensunterhalt verdienen. Es macht mir Vergnügen, mit Kindern zusammen zu sein und ich könnte mir vorstellen, als Schulhelferin zu arbeiten. Alle in meiner Familie sind gesund und leben. Alles andere ist kein Problem. Ich werde erst einmal hier bleiben und kann mir eine Zukunft in Deutschland vorstellen. Für mich ist es nicht wichtig, wo ich lebe. Was zählt ist, mit wem ich lebe.


„Meine Seele ist noch immer in der Ukraine”

Maryna Skutnitska
© David Rojkowski

Maryna Skutnitska

geb. 1981 in Tscherkassy
Beruf: Personalmanagerin aus Kyjiw
am 10. März 2022 nach Deutschland gekommen

 

Wir leben mittlerweile alle außerhalb

Wir haben immer Witze gemacht: Die schnellen Autos kommen aus Deutschland, die perfekten Uhren aus der Schweiz und die schönsten Mädchen aus Tscherkassy. Meine Mutter hat sechs Kinder großgezogen. Mein Bruder lebt heute noch bei meinen Eltern. Er darf ohnehin bis zum 60. Geburtstag das Land nicht verlassen. Wir Mädchen leben mittlerweile alle in verschiedenen Ländern außerhalb der Ukraine.

Es ist schwer zu akzeptieren

Ich erinnere mich noch ganz genau an den 24. Februar 2022. Ich lag in der Nacht im Bett und war auf Facebook unterwegs. Da hörte ich, dass jemand die Wohnungstür öffnete und hereinkam. Es war unser Vermieter. Er kam normalerweise nie, ohne anzuklopfen. „Weißt du nicht, was passiert ist?“ Wir gingen leise in die Küche und machten die Nachrichten an. Da begannen auch schon die Sirenen zu heulen. Es war ein totaler Schock für mich.

Wir sind alle erwachsen, aber es ist schwer zu akzeptieren, dass Krieg ist. Ich ging nicht mehr arbeiten, denn ich konnte meine Tochter ja nicht in der Wohnung allein lassen. Am zweiten Tag fiel der Teil einer Rakete auf unser Nachbarhaus. Ich dachte, das ist jetzt das Ende.

Alle versuchten zu fliehen

Ich packte einen Notfallrucksack mit allem, was wichtig war: Kerzen, Streichhölzer, Wasser, Fertiggerichte und acht Messer. Ich weiß bis heute nicht, was ich mit den acht Messern vorhatte. Wir schliefen in Schuhen und Mänteln. Dann hat meine Schwester von einer Möglichkeit erfahren, mit dem Auto zu meinen Eltern zu kommen. Die Straße nach Tscherkassy war voller Autos. Alle versuchten zu fliehen.

Bei meinen Eltern haben wir dann am Küchentisch gesessen und überlegt, was wir machen. Ich erinnere mich an Zeiten bei meinen Eltern, da wurde rund um die Uhr über Politik gestritten. Jetzt war es leise.

„Komm nach Berlin“

Dann ging alles sehr schnell. Meine Schwester und ich bestiegen mit unseren Töchtern den Zug gen Westen. Meine Schwester wollte in die Niederlande gehen. Ich entschied mich für das Angebot eines ukrainischen Freundes: „Komm nach Berlin”. Dort sind wir gegen Mittag am Hauptbahnhof angekommen. Kurzerhand habe ich eine orange Jacke genommen und mitgeholfen, die Leute zu verteilen. Zwei Tage lang war ich am Hauptbahnhof unterwegs, wurde nicht müde und bin bis heute überrascht, was man für Reserven in sich trägt. Mein ukrainischer Freund suchte in der Zwischenzeit eine Unterkunft für uns.

Es war ein fürchterliches Gefühl, von Fremden begutachtet zu werden. Die ersten Gastgeber suchten jemanden mit Katze. Zum ersten Mal bereute ich, keine Katze zu haben. Dann lernten wir die Gastgeber kennen, bei denen wir bis heute wohnen.

Zeigen, dass wir starke Frauen sind

Sie erklärten uns, dass sie vielleicht auch einmal fliehen müssten wie wir. In dem Ort waren alle sehr herzlich zu uns und halfen, wo sie konnten. Ich begann, Deutsch zu lernen. Ich könnte mir vorstellen, hier in Deutschland alten Leuten oder Migranten zu helfen. Mein Wunsch wäre es, als Sozialarbeiterin zu arbeiten. Wir leben in ständigem Kontakt mit unserer Familie. Meine Schwestern und ich wollen unserer Mutter zeigen, dass wir starke Frauen sind.

Ich fühle mich gefangen zwischen der Erwartung, dass wir uns integrieren und dass meine Tochter in der deutschen Schule ankommt, und meiner Seele und meinem Herzen, die nicht loslassen können, weil unser Land in Not ist.


„Mein Kind soll nicht im Krieg aufwachsen”

Meisam Dehghani
© BLPB

Meisam Dehghani

geb. 1984 im Iran
Ausbildung: Englischstudium
Beruf: Übersetzer aus Kyjiw
am 5. März 2022 nach Deutschland gekommen

 

Besser, in die Ukraine zu gehen

Als der Krieg in der Ukraine begann, war für mich sofort klar: Ich will nicht, dass mein fünfjähriger Sohn später einmal auf die Frage nach seiner Kindheit antwortet: Es sind die russischen Angriffe, an die ich denke. Ich habe den Iran früh verlassen. Er kam mir wie ein einziges großes Gefängnis vor. Ein Freund war nach Moskau gegangen und postete von dort viele Bilder. Das faszinierte mich und ich ging auch nach Moskau. In Moskau sagten viele, dass es besser sei, in die Ukraine zu gehen. Es sei billiger und europäischer.

„Wach auf, Russland ist einmarschiert“

Es gab schon das Gerücht, dass der Krieg heute oder morgen starten könnte. In der Nacht zum 24. Februar 2022 ging ich durch die Straßen. Schließlich ging ich in unsere Wohnung und schlief ein. Um sechs Uhr weckte mich meine Frau. „Wach auf, Russland ist einmarschiert“, sagte sie. Wir hatten schon unsere Koffer und einen Rucksack gepackt. Für mich war das kein Schock. Ich komme aus dem Iran und weiß, was Krieg ist. Mit der Familie meines Schwagers sind wir dann in zwei Autos Richtung Kirowohrad gefahren.

Für den Weg in das Zentrum der Ukraine, der unter normalen Umständen zwei Stunden dauert, brauchten wir sechs oder sieben Stunden. Überall waren Massen an Autos und alle paar Kilometer mussten wir anhalten und wurden von der Miliz kontrolliert.

Würden Panzer aus dem Westen kommen?

Bei meiner Schwiegermutter haben wir dann beschlossen, weiter an die Grenze zu Polen zu fahren. Wir sind in einen sehr kleinen und ruhigen Ort am Wasser mitten in eine Art Urwald gefahren. Wenn die Russen die ganze Ukraine besetzen würden, würden sie diesen kleinen Ort sicherlich nicht finden, dachte ich mir. Wir waren unsicher, wie sich die Situation an der polnischen Grenze entwickeln würde und wussten nicht, was der nächste Tag bringt. Würden die Grenzen geschlossen werden oder Panzer aus dem Westen über die polnische Grenze kommen?

So kamen wir nach Caputh

Wir nahmen den Zug nach Berlin und kamen am Hauptbahnhof an. Es war überall sehr voll. Freiwillige Helfer versuchten die Massen zu organisieren. Eine Freiwillige verwies uns an eine Frau mit roten Locken und ihre Tochter, die ein Schild trugen. Auf dem stand, dass sie jemanden aufnehmen würden, der Englisch oder Deutsch spricht. Auf beiden Seiten waren wir uns fremd, heute ist uns diese Familie sehr vertraut.

Damals wollten wir nur eine Dusche und einen Schlafplatz. So kamen wir nach Caputh. In der ersten Nacht waren wir sehr erschöpft und erst einmal froh, einen ruhigen Platz für uns gefunden zu haben. Bald lernten wir unsere Umgebung kennen und vor allem viele Leute, die uns wirklich geholfen haben.

Das Ende eines Krieges ist schrecklich

Meine Hoffnung ist, dass ich hier bleiben kann. Ich wünsche mir einen guten Job mit gutem Gehalt, der mich erfüllt. Aber ich weiß noch nicht, wie er aussehen kann. Meine Familie ist mir das Wichtigste. Der Kontakt zu unseren Verwandten und Freunden in der Ukraine bricht nicht ab. Wir warten alle darauf, dass der Krieg zu Ende geht. Aber ich weiß, das Ende eines Krieges ist schrecklich. Er hört nicht einfach auf. Mein Onkel wurde damals im Golf-Krieg getötet und kam nicht zurück. Alles war zerstört.


„Ich hätte nie gedacht, dass es so etwas gibt"

Natascha Zatula
© David Rojkowski

Natascha Zatula

geb. 1982 in Luhansk
Ausbildung: Wirtschaftsstudium
Beruf: Friseurin aus Chuguiv
am 7. März 2022 nach Deutschland gekommen

 

Ich war sehr glücklich

Am 24. Februar 2022 überraschte uns der Krieg in Chuguiv, einer Kleinstadt in der Nähe von Charkiw. Ich mag es, Haare zu schneiden, zu färben und zu frisieren. Schon als kleines Mädchen wollte ich Friseurin werden. Zwei Jahre habe ich in der Ukraine als Friseurin gearbeitet und war sehr glücklich.

Dieser Tag hat alles verändert

Am 24. Februar kam mein Sohn um fünf Uhr morgens in unser Schlafzimmer und sagte, dass Krieg sei. Ich habe es zuerst nicht geglaubt. Dann gingen wir auf den Balkon und um uns herum waren Explosionen, überall funkelte es und schien zu brennen. Es gab keinen Strom mehr, das Internet fiel aus und es war nicht möglich zu telefonieren. Schließlich packten wir unsere Sachen und fuhren zu der Familie meines Mannes, die in Charkiw wohnte.

Im Radio ertönte ständig Fliegeralarm. In der U-Bahn-Station gab es ganz viele Frauen, Kinder und Familien. Am Abend des 24. Februars sind wir mit der ganzen Familie in drei Autos nach Lwiw gefahren. Dieser Tag hat alles verändert.

Wohin würden wir gehen?

Die Russen fingen an, auch Lwiw zu bombardieren. Mein Mann setzte mich und die Kinder in einen Bus, der nach Polen fuhr. Er selbst durfte, wie alle Männer im militärpflichtigen Alter unter 60 Jahren, nicht ausreisen. Ich war verzweifelt. Auf dem ganzen Weg habe ich geweint, ich konnte gar nicht aufhören. Wohin würden wir gehen? In Polen gab es viele Freiwillige, die überall halfen. Sie verteilten Lebensmittel und organisierten Abfahrten. Freiwillige kamen auf uns zu und sagten, dass ein Bus aus Deutschland ankommt, der 15 Menschen mitnehmen würde. Also sind wir nach Deutschland gereist.

Alles war anders und neu

Von Deutschland kannte ich nicht viel. Ich habe mir vorgestellt, dass es hier freundliche Menschen gibt. Wir hatten viele Freunde, die in Friedenszeiten nach Deutschland gefahren waren, um hier zu arbeiten. Sie hatten uns erzählt, wie sie hier lebten. Um Mitternacht kamen wir in einem Ort in Brandenburg an. Wir wurden bei einer Familie mit zwei kleinen Kindern aufgenommen, die uns sehr geholfen hat.

Die Gastfamilie hat uns versorgt, sie haben endlos Papiere ausgefüllt und uns bei den ersten Wegen begleitet. Denn alles war anders und neu für mich. Schon allein sich in dem riesigen Supermarkt zu orientieren, in dem die Sprache, das Sortiment, die Verpackungen und die Schrift völlig anders waren, war schwierig. Mit der Zeit merkte ich, dass es hier noch mehr Ukrainer gibt und daraus haben sich enge Freundschaften entwickelt, die mir sehr wichtig sind.

Friseure schneiden, färben und frisieren ja nicht nur

Nie hätte ich gedacht, dass ich nach einem Dreivierteljahr immer noch hier sein würde. Im Sommer ist meine Tochter in Deutschland eingeschult worden. Mein Sohn studiert online an der ukrainischen Universität Informatik. Ich besuche einen Integrationskurs und arbeite ab und zu in einem Friseursalon. Doch ich muss erst die Sprache lernen. Friseure schneiden, färben und frisieren ja nicht nur, sie sind häufig auch so eine Art Psychologe.

Der Krieg hat alle unsere Pläne zunichtegemacht

Wenn Strom da ist, telefoniert mein Mann viel per WhatsApp mit den Kindern. Er vermisst uns sehr und hofft, uns bald wiederzusehen. In der Ukraine hatten wir viele gute Freunde und ich hatte einen tollen Job. Der Krieg hat alle unsere Pläne zunichtegemacht und ich weiß noch nicht, wie die Zukunft aussehen könnte. Aber ich versuche, hier Fuß zu fassen.


"Ich möchte nichts mit Krieg zu tun haben"

Anonym

geb. 1990
Ausbildung: Sportstudium
Beruf: Fitness-Trainer aus Odesa
m März 2022 nach Deutschland gekommen

Sport ist mein Leben

Als der Krieg begann, waren die Corona-Maßnahmen gerade erst beendet worden. Wir dachten, jetzt wird alles gut. Ich bin Fitness-Trainer und konnte während der Pandemie wenig arbeiten. Sport ist mein Leben. Schon als kleiner Junge habe ich mit meinem Vater jeden Tag Fitness-Übungen gemacht. Im Thaiboxen wurde ich Ukrainischer Meister.

Alles, was man liebt, zurückzulassen

In der Nacht zum 24. Februar 2022 habe ich tief geschlafen. Am Morgen hörte ich mein Handy klingeln. Es war meine Freundin, die mit ihren zwei Kindern in der Nähe wohnte. Sie sagte, es sei Krieg. Was macht man, wenn Krieg ist? Wir beratschlagten uns mit Freunden und am Abend beschlossen wir, ein paar Sachen zu packen und zu meinen Eltern zu fahren. Meine Eltern wohnen ein paar Kilometer von Odesa entfernt auf dem Land in einem großen Haus. In den Nachrichten sahen wir Bilder von zerstörten Häusern in Kyjiw.

Sollten wir wirklich fliehen? Wenn man so eine Entscheidung nicht treffen muss, kann man sich nicht vorstellen, was das heißt: Alles, was man liebt, zurückzulassen.

„Wir müssen gehen“

Ich erinnere mich noch sehr gut an den Moment, als wir beschlossen, zu fliehen. Meine Freundin kochte gerade.

„Wir müssen gehen“, sagte ich.
„Ja, ich weiß. Wir müssen gehen.“

Ein Freund aus Moldawien wollte uns helfen. Wir packten vier Rucksäcke mit Ausweispapieren, Süßigkeiten, warmen Sachen, Wasser und Schlafsäcken und fuhren Richtung Moldawien. Wir warteten auf die Dunkelheit. Dann brachte mich meine Freundin zu einem Feldrand, ich stieg aus dem Auto und lief über die Grenze nach Moldawien.

Ich kann niemanden töten!

Aus dem Nichts standen Grenzsoldaten vor mir. Meine Freundin bat auf Knien, mich nicht mitzunehmen. Aber ihre Antwort lautete: „Gesetz ist Gesetz.“ Auf der Militärbasis, zu der ich kam, versuchten sie, mich zu beruhigen. Ich konterte: „Ich kann das nicht machen. Ich habe eine Familie und Kinder. Ich kann niemanden töten!“ Während ich an dem Schreibtisch des Militärs saß, kam ein Kollege rein und mein Offizier und er gingen hinaus, um etwas zu klären.

Auf dem Schreibtisch lag mein Ausweis. Ich nahm ihn und ging langsam nach draußen. Nur raus aus dieser Stadt! Dann rief der Freund aus Moldawien an und sagte, er wisse einen anderen Grenzübergang, an dem ich legal hinüber könne. Es war schrecklicher Stress verbunden mit sehr viel Angst.

Angst, dass der Krieg auch hierher kommt

Wir kamen nach Berlin, in das wir uns sofort verliebten. Mit dem Angebot einer Frau für eine Datsche kamen wir nach Brandenburg. Unsere Flucht hat unsere Familie in Odesa sehr mitgenommen. Seitdem wir weggingen, hat sich in Odesa viel verändert. Es gibt keine warmen Wohnungen und oft kein Licht. Keiner hat normale Arbeit, Tag und Nacht heulen die Sirenen.

Ich habe Angst, dass der Krieg auch hierher kommt. Ich möchte nicht weiter fliehen müssen. Wir lieben Berlin und möchten hier bleiben. Berlin ist wie Odesa, nur größer.

Interviews: Barbara Tauber, 2023

Ukrainischer Soldat mit Gewehr in einem Haus am Fenster
© Daniel Berehulak NY Times / MAPS
Ukraine-Krieg. Fakten und Hintergründe

Der Krieg ist ein Konflikt zwischen russischem Herrschaftsanspruch einerseits und ukrainischer Selbstständigkeit andererseits. Schon jetzt hat der Krieg zehntausende Menschenleben gekostet. Er hat die größte Fluchtbewegung innerhalb Europas seit dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst.

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