Wahlen sind zentral in unserer Demokratie. Dennoch zweifeln Viele an ihrer Wirksamkeit. Brauchen wir eine Wahlpflicht, welche Rolle spielen Parteien und was muss sich ändern? Suzanne S. Schüttemeyer und Benjamin Höhne vom Institut für Parlamentarismusforschung haben Antworten.

Sie haben das Institut für Parlamentarismusforschung mitgegründet. Wozu?
Suzanne S. Schüttemeyer: Ich sehe seit geraumer Zeit Bedrohungen für unsere repräsentative Demokratie, für unseren Parlamentarismus. Offenbar fühlen sich mehr Bürger als früher nicht mehr von den Parteien und Politikern ausreichend repräsentiert. Teilweise ist das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der politischen Institutionen gesunken. Im wahrsten Sinne des Wortes grenzenlose Möglichkeiten der Information und Meinungsäußerung haben die politische Landschaft verändert – und zwar nicht nur zum Besseren. Ebenso haben das Verschwinden von Grenzen durch den Fall des Eisernen Vorhangs und die europäische Integration zwar einerseits die Lebenschancen und Entfaltungsmöglichkeiten für sehr viele Menschen enorm gesteigert, andererseits aber auch bei vielen Unsicherheit und Zukunftsangst erhöht.
Daher ist es dringend nötig, die demokratische Ordnung weiterzuentwickeln und die Wertschätzung parlamentarischer Repräsentation in der Gesellschaft zu verbessern. Dazu will das Institut für Parlamentarismusforschung, das IParl, beitragen. Wir wollen die Verfahren und Akteure der Repräsentation, also vor allem Parlamente und Parteien, theoretisch und praktisch und mit engem Bezug zur politischen Wirklichkeit weiter erforschen und uns mit unserem Wissen an den aktuellen politischen Debatten beteiligen.
In Brandenburg ist gerade ein Paritätsgesetz verabschiedet worden, damit Männer und Frauen zu gleichen Teilen im Parlament vertreten sind. Was halten Sie davon?
Benjamin Höhne: Wenn eine Partei mit einer Männermannschaft zur Wahl antritt, ist das wenig anziehend, nicht nur für Frauen. Anders ausgedrückt: Die geschlechtergerechte Präsenz im Parlament wird als Ziel breit anerkannt, längst nicht mehr nur in linker und liberaler Öffentlichkeit, sondern auch weit in das christdemokratische Milieu hinein. Allerdings sind die Wege dahin ebenso vielfältig wie umstritten.
Ein Paritätsgesetz halte ich aber nicht für das richtige Mittel, um mehr Frauen ins Parlament zu bringen. Abgesehen von rechtlichen Unwägbarkeiten würde dies nämlich an der Ursache des Problems erst einmal nichts ändern. Langfristig wäre es viel erfolgversprechender, die Parteiarbeit für Frauen attraktiver zu machen. Immer noch finden Frauen viel zu selten den Weg in die Parteien. Dies zeigt eine aktuelle Studie des IParl, die kürzlich von der Böll-Stiftung veröffentlicht wurde.
Sind Parteien noch zeitgemäß?
Suzanne S. Schüttemeyer: Bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg ließ sich die (westdeutsche) Gesellschaft noch recht klar in Arbeiter und Unternehmer, in Katholiken und Protestanten und so weiter einteilen. Damals entschied in allererster Linie die Herkunft, etwa aus einer Arbeiterfamilie oder aus dem katholischen Milieu, über die sozialen und ökonomischen Lebenschancen eines Menschen und prägte damit seine grundlegenden und meistens auch aktuellen politischen Ansichten.
Deshalb hatten sich aus diesen gesellschaftlichen Großgruppen die Parteien, insbesondere sozialdemokratische und konservativ-bürgerliche, gegründet, um ihre jeweiligen Interessen politisch zu vertreten. Das war eine eindeutige Angelegenheit: Den Parteien fiel es leicht, maßgeschneiderte Politikangebote zu unterbreiten, und die Menschen fühlten sich dauerhaft an „ihre“ Partei gebunden. Das gibt es heute auch noch; die Gruppen sind aber viel kleiner geworden, und die Bindungskraft der Parteien hat abgenommen. Der Einzelne ist nämlich freier geworden, hat sehr viele verschiedene Interessen, die sich im Laufe der Zeit in ihrer Wichtigkeit verändern, auch oft in Widerspruch zueinander stehen und von ihm in eine Rangfolge gebracht werden müssen.
Wo ist der Platz von Parteien in diesen individuellen Interessenlagen?
Suzanne S. Schüttemeyer: Parteien werden gerade wegen der Verschiedenheit dringend gebraucht. Damit die gesellschaftliche Vielstimmigkeit in politische Entscheidungen für alle umgesetzt werden kann, müssen die vielen Interessen gebündelt werden; es müssen Kompromisse zwischen ihnen gefunden werden, damit die Gesellschaft zusammengehalten werden kann. Und genau dafür haben wir bisher keine bessere Organisation gefunden als Parteien.
Sie sind in einer repräsentativen Demokratie unverzichtbar. Deshalb müssen wir sie am Leben erhalten, und deshalb müssen wir sie reformieren und sie besser den veränderten Bedingungen und Interessenlagen der Gesellschaft anpassen. Es muss wieder mehr Spaß machen, an einer Parteiveranstaltung teilzunehmen, dort über den richtigen Kurs zu streiten und wichtige Personalfragen mitzuentscheiden.
Parteien in Brandenburg
Charakteristisch für die parteipolitische Struktur Brandenburgs war seit 1990 die herausragende Stellung der SPD in einem Parteiensystem, das von zwei weiteren großen sowie kleineren Parteien geprägt wurde. Dies hat sich in den letzten Jahren verändert.
Sind Wahlen noch zeitgemäß? Wenn ja, sollte es eine Wahlpflicht geben?
Benjamin Höhne: Wahlen sind Kern unserer repräsentativen Demokratie. Sie verbinden die Wünsche, politischen Anschauungen und Interessen der Wählerinnen und Wähler mit den politischen Institutionen. Sie sichern, dass die staatliche Herrschaft und ihre Träger zur Verantwortung gezogen werden können für ihr Handeln. Von einer Wahlpflicht halte ich dennoch nichts. Demokratische Mitwirkung sollte immer freiwillig sein.
Was muss passieren, damit Wählerinnen und Wähler sich angesprochen fühlen?
Benjamin Höhne: Es bringt wenig, den Leuten von oben herab zu sagen: „Geht wählen – das gehört sich so in der Demokratie“. Politik braucht Kontroverse. Liegen wahrnehmbare Alternativen auf dem Tisch, wird stärker mobilisiert und gegenmobilisiert, als es jede gut gemeinte Wählermobilisierungsinitiative vermag. Institutionell ließe sich auch Einiges anpacken: Das Wahlrecht sollte an veränderte Ansprüche der Bevölkerung und Gegebenheiten angepasst werden. So ist es zum Beispiel schwer zu vermitteln, warum die Wählerinnen und Wähler bei der Landtagswahl in Brandenburg nur für die gesamte Liste einer Partei stimmen können, nicht jedoch für den Listenkandidaten, den sie favorisieren. Bei flexibleren Wahlmöglichkeiten sind andere Länder in Europa schon viel weiter. Auch die Hürden für die Volksgesetzgebung könnten maßvoll abgesenkt werden, aber immer nur als Ergänzung oder zur Vorbereitung der parlamentarischen Entscheidung.
Wie groß ist das Interesse an Wahlen und Volksabstimmungen wirklich?
Suzanne S. Schüttemeyer: Die Annahme, nur die „große Politik“ sei wichtig, führt sicher vielfach zur Enthaltung bei kommunalen oder auch bei Landtagswahlen. Dabei sind es meistens die örtlichen und regionalen Belange, die für das Alltagsleben von uns allen die größte Bedeutung haben. Außerdem wird immer wieder behauptet, dass die Wähler gar keine richtige Wahl haben, weil die Unterschiede zwischen den Parteien so gering geworden seien und dass sie deshalb nicht ins Wahllokal gehen. Vielleicht hat das in den besten Zeiten der beiden großen Volksparteien SPD und CDU/CSU gestimmt; aber auch damals gab es höchst brisante Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen. Natürlich stimmt es: Klare oder gar gegensätzliche Handlungsalternativen mobilisieren.
Wenn man sich in Brandenburg die Direktwahlen der Landräte ansieht, bei dem das Quorum regelmäßig verfehlt wird, hat man Zweifel.
Suzanne S. Schüttemeyer: Die meisten politischen Entscheidungen erlauben es nicht, schwarz oder weiß, ja oder nein zu denken. Dafür sind die Interessen zu vielfältig und die anstehenden Fragen in der Regel zu vielschichtig. Ich verstehe völlig, dass viele Bürger einfach keine Zeit oder keine Lust haben, sich tatsächlich umfassend sachlich zu informieren; das ist in einer repräsentativen Demokratie auch gar nicht weiter schlimm, wenn die Auswahl der Repräsentanten gut funktioniert, denn sie sind es, die in unserer arbeitsteiligen Gesellschaft von uns mit der Aufgabe betraut werden, sich sachkundig zu machen, unsere Interessen zu vertreten und durch Kompromisse so auszugleichen, dass wir friedlich und fair miteinander leben können. Und die Auswahl dieser Repräsentanten geschieht nun einmal in Wahlen. Deshalb ist es so unheimlich wichtig, dass sich möglichst viele Bürger daran beteiligen – und am besten auch einmal darüber nachdenken, ob es sich nicht doch lohnt, in eine demokratische Partei einzutreten.
BLPB, März 2019
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