Gehört der Islam zu Deutschland?

Bernd Lucke von der AfD befördert die Diskussion um die Rolle des Islam und hofft auf Ertrag in den Europawahlen. Ist das, was Lucke schreibt, populistisch und ist er tatsächlich der neue „Führer“ der Rechten, wie gereizte Leser im Internet meinen?

Die Alternative für Deutschland ist eine Partei, die Protestpotential in Wählerstimmen ummünzt. Protestparteien beeinflussen andere Parteien in ihrer Programmatik. Die bayerische CSU vertritt eine unsinnige Straßenmaut für Ausländer, um rechts Stimmen abzugraben, die SPD bezieht sozialistische Positionen in der Steuerpolitik, weil sie sonst Wähler an die Linke verliert. Soweit so schlecht – aber innerhalb des demokratischen Spektrums hinnehmbar. Da die Hürde bei den Europawahlen bei 3 Prozent liegt, wird die AfD wahrscheinlich im Europarlament vertreten sein. Aber wofür steht die AfD – nicht nur ökonomisch, sondern politisch?

Der Parteichef Bernd Lucke hat einen Versuch unternommen, seine Partei im Hinblick auf den islamischen Bevölkerungsteil zu positionieren. Daher verfasste er Thesen und präsentierte sie den Parteimitgliedern, ausgerechnet, am Reformationstag. Sein Aufhänger war polemisch. Der Satz von Altbundespräsident Christian Wulff, der Islam „gehöre zu Deutschland“, sei so Lucke, „falsch und töricht“. Er beschreibe ein komplexes Problem „pauschal und undifferenziert“. Und, so Lucke weiter: „Was zu Deutschland gehört, muss präzise benannt und sollte von Deutschland her gedacht werden.“

Hat Wulff etwa nicht von Deutschland her gedacht? Er hat. Die Bundesrepublik warb Millionen türkischer Gastarbeiter an, weil anders der Wohlstand der Westdeutschen nicht gesichert werden konnte. Eine zweite große Gruppe sind die Flüchtlinge, die deshalb nach Deutschland kommen, weil die Weltgemeinschaft bei Bürgerkriegen wegschaut oder korrupte Regimes wie in Mauretanien stützt. Warum? Weil wir Deutschen nicht glauben, uns in Syrien einmischen zu dürfen oder wie im Fall von Mauretanien dessen Fischereirechte gekauft haben, das Meer leer fischen und die Bevölkerung verhungern lassen. Im Übrigen haben die Väter des Grundgesetzes, das Recht auf Asyl deshalb in die deutsche Verfassung aufgenommen, weil hunderttausende Deutsche nach 1933 Asyl im Ausland suchten und wussten, wie schwer es war, dort zu überleben. Das betraf nicht nur Juden, sondern auch Katholiken, Sozialdemokraten und Sozialisten. Kurzum, es war der klügste Satz, den Wulff in seiner kurzen Amtszeit sagte. Orientiert hat er sich dabei vielleicht an Friedrich dem Großen, der einst forderte

Die Religionen müssen alle tolerieret werden…, denn hier muss ein jeder nach seiner Fasson selig werden.“

Mit dieser Polemik gegen Wulff erweist sich Lucke als geschichtsvergessen und unbelesen. Nach der fulminanten Pöbelei stellt Lucke jedoch acht Forderungen auf, die nicht zwingend als islamfeindlich wahrgenommen werden müssen. Er betont, dass es möglich sein muss, sich „unbedroht“ von seinem Glauben abzuwenden (These 3). Er fordert die Gleichberechtigung von Mann und Frau (These 4), weist darauf hin, dass die Scharia nicht deutsches Recht sein soll (These 5) und macht sich für die Meinungsfreiheit stark (These 8). Mit These 9 wendet er sich gegen die Radikalen in der eigenen Partei. Religiöse Gefühle sollten geachtet werden, betont Lucke. „In Angelegenheiten von geringer Bedeutung“ müssten „Konflikte“ vermieden werden.

Darüber hinaus weist er noch einmal darauf hin, dass Deutschland ein gastfreundliches und tolerantes Land sei. Trotz aller Unbeholfenheit hat Lucke damit klargestellt, dass er selbst kein Nazi ist, mithin auch kein Führer der neuen Rechten. Ganz klar grenzt er sich vom rechten politischen Spektrum ab.

Seine Islam-Thesen 7 und 10 bezeugen jedoch mangelhafte Geschichtskenntnisse und eine seltsame Fehlwahrnehmung der Gegenwart. In These 7 behauptet er, dass „theokratische Staatsvorstellungen“ mit der deutschen Demokratie „unvereinbar“ seien. Luther, in dessen Tradition sich Lucke mit der Veröffentlichung seiner Thesen am Reformationstag stellte, war durchaus Theokrat. Die Schaffung von evangelischen Staatskirchen hat er vorangetrieben, weil er den Staat durch Kirche besser machen wollte. Das wollen auch die Ajatollahs im Iran. Das lutherisch-orthodoxe Sachsen war so intolerant, dass es innovative Denker ins Brandenburg-preußische Exil trieb. Die evangelische Intoleranz hat sich abgeschliffen, aber in Folge des Konkordats, dass der Vatikan 1933 mit dem Deutschen Reich geschlossen hat, übernahm die katholische Kirche in der alten Bundesrepublik de facto die Rolle einer Staatskirche. These 10 des Lucke-Papiers ist mithin eine unsinnige Behauptung. Deutschland sei ein „säkularer Staat“ mit einer „tief verwurzelten christlichen Prägung“. Diese „Prägung“ ist durchaus „alt“, aber „tief“?

Ganz gleich. Luckes Thesen zielen nicht darauf ab, Staat und Religion radikal zu trennen. Sein Augenmerk gilt dem Islam, gleichzeitig soll im Hinblick auf das Christentum alles beim Alten bleiben. Lucke, selbst reformierter Christ, wendet sich gegen das Fremde, erkennt aber nicht den Reformstau im Vertrauten. Die These, dass er der neue „Führer“ der Rechten sei, ist eindeutig falsch. Trotzdem wirkt er mit seiner christlichen Attitüde seltsam aus der Zeit gefallen und gestrig.

Aber es ist eindeutig, dass Lucke den Islam nicht zum Wahlkampfthema machen will. Mit seinen Thesen zum Islam vergrätzt er die Rechtsextremisten, das ist gut für die Demokratie. Die AfD bleibt damit aber eine Ein-Punkt-Partei gegen den Euro.

Henrik Eberle
(Jg. 1970) schreibt in loser Folge über historische Ereignisse. Der Autor ist Historiker und arbeitet als Journalist. Seine Schwerpunkte sind die beiden deutschen Diktaturen und die extremistischen Parteien der Gegenwart.

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Alle Menschen sollten ernsthaft erwägen, sich von den Religionen zu trennen, denn sie vermitteln keine zutreffende Beschreibung der Wirklichkeit.
Der vollständige Verzicht auf jede letzte Aussage ist meiner Meinung nach die realistischste Weltanschauung, die ein Mensch haben kann. Sie zu erwerben ist nicht leicht, da man nun auch vermeiden muß, eben dies als letzte Aussage anzusehen.

nmnnn@web.de

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