Protest ist Teil unserer politischen Kultur und in unserem Alltag sehr präsent. Die Meinungen darüber gehen oft weit auseinander. Wie weit darf Protest gehen und welche Bedeutung hat er für unsere Demokratie? Wir sprechen mit dem Protestforscher Lennart Schürmann.

Es sind viele Leute, die das Demonstrieren als eine Form politischer Partizipation für sich entdeckt haben und potenziell auch in Zukunft mehr demonstrieren gehen würden.
Herr Schürmann, was ist Protest?
Wenn wir von Protest sprechen, meinen wir damit eine Form der politischen Partizipation, die außerhalb der institutionalisierten oder institutionellen Kanäle stattfindet. Institutionelle Kanäle sind beispielsweise Wahlen, die Mitgliedschaft in Parteien, alles, was innerhalb von politischen Institutionen stattfindet. Protest findet außerhalb dieser institutionellen Kanäle statt und steht damit im Gegensatz zu dieser traditionellen politischen Partizipation.
Wie drückt sich Protest aus?
Die meisten Leute haben erst einmal Demonstrationen im Kopf. Aber Demonstrationen sind nur ein kleiner Teil von dem, was wir aus wissenschaftlicher Perspektive als Protest bezeichnen. So erfassen wir auch Petitionen als Protest ebenso wie konfrontativere Protestformen, beispielsweise Straßenblockaden, Hausbesetzungen. Das zählt alles zu Protest.
Wir würden sogar noch weitergehen und auch gewisse Formen politischer Gewalt als Protest einstufen. Zumindest machen wir das so in unserem Forschungsprojekt. Wenn es beispielsweise Angriffe auf Synagogen oder auf Politiker und Politikerinnen gibt, ist dies nach unserer Definition oder im politikwissenschaftlichen Verständnis auch eine Form von Protest, weil es etwas ist, das auf öffentliche Sichtbarkeit hinwirkt, also etwas, das politisch motiviert ist.
Was ist der Sinn von Protesten?
Generell ist Protest immer eine gewisse Kritik am Status Quo. Das heißt, Protest versucht, entweder für etwas oder gegen eine Veränderung einzutreten. Das sieht man beispielsweise an den Bauernprotesten gegen die Abschaffung der Agrardieselsubvention. Das ist quasi gegen eine Veränderung. Ein anderes Beispiel sind die Proteste der letzten Generation, die sich für einzelne Politikfelder einsetzen.
Wie hoch ist das Mobilisierungspotenzial für Proteste in Deutschland?
Aus politikwissenschaftlicher Sicht ist das Mobilisierungspotenzial die Menge der Menschen, die sich potenziell für ein Thema einsetzen könnte und die potenziell an einem Protest teilnehmen würde. Das sind oft junge und oft gut gebildete Leute.
Wenn man mobilisierbar als Person ist, bedeutet das aber noch nicht, dass man zwangsweise auf die Straße geht. Es sind oft externe Ereignisse, die etwas auslösen und die dafür sorgen, dass Menschen mobilisiert werden.
Und da sehen wir eine große Veränderung. An den Protesten gegen Rechtsextremismus sieht man zum Beispiel, dass viel mehr Menschen Demonstrationen für sich entdeckt haben. Es sind viele Leute, die zum ersten Mal auf Demos waren. Das Mobilisierungspotenzial hat sich also erweitert.
Welche Themen mobilisieren die Menschen besonders?
Ein Thema, das immer wieder extrem stark mobilisiert, ist das Thema Krieg. Beispielsweise 2003, als der Irakkrieg begann, haben wir extrem viel Mobilisierung auch in Deutschland gesehen. Das ist auch jetzt wieder so im Zuge des russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und auch beim Krieg im Nahen Osten. Das ist es, was Menschen wirklich bewegt und sie immer wieder auf die Straße bringt.
Wann beginnen Menschen zu protestieren?
Es gibt unterschiedliche Theorien, die zur Erklärung herangezogen werden. Eine ist die Grievance Theory. Das bedeutet, wenn Menschen Leid erleben oder Nöte haben, fangen sie an, auf die Straße zu gehen. Ein klassisches Beispiel dafür ist Südeuropa. Nachdem dort in der Wirtschaftskrise von 2007 und 2008 viele junge Menschen arbeitslos wurden und keine Perspektiven sahen, haben wir ganz große Protestwellen gesehen.
Andersherum gibt es aber auch das Phänomen, dass in der Regel eher Menschen, die größere sozioökonomische Ressourcen zur Verfügung haben, protestieren. Das heißt, es sind oft wohlhabendere, besser gebildete Menschen, die in urbanen Zentren wohnen. Da ist Zeit eine wichtige Ressource und Geld, weil man es sich eben auch leisten können muss, am Nachmittag protestieren zu gehen. Man muss da hinfahren, man muss an einem Ort leben, wo Proteste stattfinden. Ein wichtiger Faktor ist, dass es oft eher jüngere Leute sind.
Warum ist gerade die Jugend ein wichtiger Protestfaktor?
Jüngere Leute haben in der Regel nicht unbedingt Kinder und Full-Time-Jobs sowie Pflegeaufgaben gleichzeitig zu organisieren und deswegen mehr Zeit, sich beispielsweise politisch zu engagieren in Form von Protesten.
Welche Proteste werden gesellschaftlich akzeptiert und welche nicht?
Wir unterscheiden in der Regel drei verschiedene Kategorien von Protesten: demonstrative, das sind beispielsweise Demonstrationen; konfrontative, wenn man sich zum Beispiel auf die Straße klebt und es gewisse Konfrontationen gibt sowie politische Gewalt, das sind dann wirklich Anschläge.
Konfrontative Formen und politische Gewaltformen sind definitiv die, denen die Gesamtbevölkerung eher ablehnend gegenüber steht. Wir haben verschiedene Umfragen gemacht und auch neuere Protestformen, wie das Bewerfen von Kunst mit Kartoffelbrei oder Suppe oder Lebensmitteln, aufgeführt. Diese werden als total illegitim und auch als ineffektiv von fast allen Menschen eingestuft.
Das überschneidet sich mit dem, was legal ist. Viele Menschen nehmen die Protestformen, die legal sind, die irgendwie geregelt sind, seien es Petitionen, Streiks oder Demonstrationen, als legitim und effektiv wahr, während alle anderen Protestformen als illegitim und ineffektiv angesehen werden.
Warum ist Protest wichtig für unsere Demokratie?
Protest bringt Menschen dazu, an demokratischen Prozessen und am politischen Geschehen teilzunehmen, fernab von Wahlen. Durch Protest kann man als Bürger oder Bürgerin auch während einer Legislaturperiode Einfluss auf das politische Geschehen nehmen. Man kann damit seiner Stimme Gehör verschaffen, Themen auf die Agenda setzen.
Das ist eine sehr, sehr wichtige Funktion von Protest, das Agenda-Setting, also Themen im politischen Geschehen zu platzieren.
Wenn viele Menschen zu einem Thema auf die Straße gehen, dann kann die Politik nicht so richtig wegschauen oder sie verliert selbst an Legitimität. Deswegen ist Protest extrem wichtig für eine Demokratie. Wenn Protestrechte eingeschränkt werden, dann können Menschen so nicht mehr ihre Kritik an der Regierung äußern. Sie können es natürlich über Twitter [X], irgendwelche Social-Media-Plattformen, aber es ist extrem wichtig, dass Menschen diese Möglichkeit haben, Kritik an der Regierung zu äußern. Das ist die eigentliche Funktion von Protest.
Wann wird Protest gefährlich für die Demokratie?
Wenn sich einzelne Menschen radikalisieren und dann extreme Protestformen wählen und zum Beispiel Politiker:innen angreifen, bis hin zu Morden. Dann ist Protest ein riesiges Risiko und kann auch eine Gefahr für eine Demokratie sein.
Kann Protest die Politik beeinflussen?
Ich habe mich sehr mit den Protesten von Fridays for Future in Deutschland befasst und mir angeguckt, in welchen Wahlkreisen es Proteste gab und ob die Abgeordneten aus diesen Wahlkreisen daraufhin ihr Kommunikationsverhalten verändert haben. Ich habe mir Facebook, Twitter [X] und Bundestagsreden angeschaut und herausgefunden, dass Abgeordnete mit Fridays for Future-Protesten in ihren Wahlkreisen danach mehr über Fridays for Future gesprochen haben, aber auch mehr über Umweltthemen, also dass es eine Wirkung gezeigt hat. Eine ähnliche Studie für Großbritannien fand ähnliche Ergebnisse. Das Ergebnis ist, die Fridays For Future-Proteste haben gewirkt, die haben die Politik erreicht.
Ich glaube, oft unterschätzt man, was Demonstrationen alles bewirken und auf wie viele unterschiedliche Ebenen sie eine Auswirkung haben. Wenn viele Menschen demonstrieren, dann reagieren Abgeordnete viel eher darauf und sagen: „Darüber müssen wir noch mal nachdenken, darüber müssen wir in einer Fraktionssitzung reden.
Warum gibt es trotz digitaler Alternativen noch so viele Straßenproteste?
Ich glaube, dass es sich nicht gegenseitig ausschließt. Oft kann man beobachten, dass sich Bewegungen erst im digitalen Raum sammeln und organisieren und dann auf die Straße gehen. Das sieht man auch an der #MeToo-Bewegung, die sehr viel online präsent war und sich dort gebildet hat, aber zum Beispiel zum Weltfrauentag auch auf Demos aktiv war.
Ich glaube, das Online niemals Offline ersetzen kann.
Ich glaube, es kann sich gegenseitig eher verstärken. Die Straße ist immer noch wichtig. Online kann man die Seite öffnen und guckt sich an, was auf Twitter abgeht oder wo auch immer, aber man muss es nicht. Aber wenn Leute eine Demo durch die Potsdamer Innenstadt organisieren, während man gerade einkaufen geht, dann ist man dem ausgesetzt. Dann sieht man sie. Das ist noch mal etwas ganz anderes und ich glaube, das Online niemals Offline ersetzen kann.
Vielen Dank.
Anm. d. Red.: Das Gespräch mit Lennart Schürmann haben wir im Rahmen unserer Veranstaltung „Protest" aufgezeichnet. Für die schriftliche Form wurden die Fragen und Antworten redaktionell bearbeitet und gekürzt. Es gilt das gesprochene Wort. Den vollständigen Wortlaut hören Sie in unserem Podcast "Was ist da los? Über Politik und Gesellschaft".
Podcast "Was ist da los? Über Politik und Gesellschaft"
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