Der Streit um die direkte Demokratie in Deutschland ist mindestens so alt wie die Bundesrepublik selbst. Die Geschichte zeigt, warum es bis heute keine direktdemokratischen Elemente auf Bundesebene gibt.
Die direkte Demokratie ist vermutlich die älteste Form der demokratischen Teilhabe in Gemeinden und Staaten. Schon in der Antike wurde sie zum Beispiel in den Volksversammlungen in Athen praktiziert. Demokratisch nach unserem heutigen Verständnis ging es damals allerdings nicht zu. Zu den Abstimmungen waren nur männliche Vollbürger über 20 Jahren zugelassen. Frauen, Ausländern und Sklaven blieb die politische Teilhabe versagt. Trotz alledem blieb das Ideal, dass jede Person Vorschläge und Initiativen einbringen kann, über die das gesamte Volk abstimmt, über die Jahrhunderte erhalten - auch in Deutschland.
Der Streit um die direkte Demokratie in Deutschland ist mindestens so alt wie die Bundesrepublik selbst. Als sich der Parlamentarische Rat im Sommer 1948 zusammensetzte, um dem westlichen Teil Deutschlands eine Verfassung zu geben, wurden direktdemokratische Verfahren auf Bundesebene heftig diskutiert. Doch entschlossen sich die 66 Verfassungsväter und die vier Verfassungsmütter am Ende dagegen. Diese Entscheidung hat Folgen bis heute.
Von der direkten Demokratie in die Diktatur?
Das hatte mehrere Ursachen. Die Erinnerung an Volksabstimmungen (Plebiszite) war negativ behaftet. In der zeitgenössischen Wahrnehmung trugen Volksbegehren entscheidend zum Ende der Weimarer Republik und zur Errichtung der darauffolgenden Diktatur des Nationalsozialismus 1933 bei. Die deutsche Bevölkerung galt als hochgradig manipulierbar durch Propaganda jeder Form, weil die Wirtschaftskrise, Inflation und Massenarbeitslosigkeit einen entsprechenden Rahmen dafür schufen.
Historische Untersuchungen wie die "Weimarer Erfahrungen" von Reinhard Staffers haben hingegen gezeigt, dass das negative Erinnerungsbild an Voksbegehren nicht mit der Realität übereinstimmte. Die plebiszitären Elemente, das heißt die Beteiligung des Vokes, waren zwar in der Weimarer Reichsverfassung (WRV) als "legitimer Korrekturmechanismus" (Art. 73-76 WRV) des parlamentarischen Systems verankert. Tatsächlich aber ist nicht ein einziges Gesetz durch Volksbegehren und Volksentscheid zustande gekommen.
Parteipolitisches Machtinstrument
Die Anfänge der Weimarer Republik waren politisch unruhig, von Putschversuchen begleitet und gekennzeichnet von sozialen und politischen Spannungen. Trotzdem blieb die Anzahl der auf Reichsebene eingeleiteten Volksbegehren erstaunlich gering. Nur acht wurden förmlich beantragt, davon scheiterten drei am Finanzvorbehalt, eines erledigte sich von selbst. Die restlichen vier, die vom Reichsinnenminister zugelassen wurden, scheiterten ebenfalls. Eines, weil eine Initiative von den Antragsstellern nicht weiter verfolgt wurde, zwei weitere scheiterten an der erforderlichen Eintragung von 10 Prozent der Stimmberechtigten. Die einzigen erfolgreichen Volksbegehren auf Reichsebene waren die sogenannte "Fürstenenteignung", die von linken Kräften angestoßen worden war und der "Young-Plan", von rechten Kräften eingebracht. Beide Begehren scheiterten in den nachfolgenden Volksentscheiden.
Zunehmend begannen jedoch Parteien, die auf die Zerstörung der Weimarer Republik ausgerichtet waren, basisdemokratische Formen zu instrumentalisieren. In der Auflösungsphase der Weimarer Republik seit 1929/30 gingen Volksbegehren fast nur noch von den Nationalsozialisten (NSDAP( und den Kommunisten (KPD) aus. Obwohl der Missbrauch keine unmittelbaren politischen Folgen hatte, schadete er dem Ansehen der Demokratie, weil Basisdemokratie mit den Namen der beiden Parteien und deren antidemokratischen Einstellungen verbunden wurden.
Neue Demokratie mit altem Volk?
Ein weiterer Punkt, der nach 1945 gegen die Einführung direktdemokratischer Elemente sprach, war die Einstellung der Bevölkerung. Direkt nach dem Zweiten Weltkrieg fehlte das Vertrauen der politisch Verantwortlichen, und wohl auch der westlichen Siegermächte, in die Bürgerschaft. Martin und Sylvia Greifenhagen haben 1993 in einer Studie die politische Kultur im Nachkriegsdeutschland beschrieben. Demnach stand der neuen Demokratisierung die politische Mentalität einer Bevölkerung gegenüber, in der sich 30 Prozent die Monarchie zurückwünschte und 73 Prozent sich "nicht besonders" oder "gar nicht" für Politik interessierte. Die Deutschen waren in dieser Zeit zwar politisch gut informiert, aber warteten stets auf politische Impulse und Befehle von oben. Zumindest wurde dies von den damaligen politischen Verantwortlichen als Gefahr wahrgenommen.
Abstimmung über das Grundgesetz
Nach der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs nahm die Ablehnung gegenüber jeglichen Formen der Volksbeteiligung von 1945 bis 1948 stetig zu. Sie zeigte sich deutlich in der Entscheidung der politisch Verantwortlichen, die Länder und nicht die Bevölkerung über das Grundgesetz abstimmen zu lassen. Zum grundsätzlichen, zeitgenössischen Misstrauen gegenüber Volksentscheidungen traten weitere politisch begründete Überlegungen. Zum einen konnte nicht die gesamte deutsche Bevölkerung über das Grundgesetz abstimmen, da Deutschland nach 1945 geteilt war. Zum anderen wäre zur Annahme des Grundgesetzes eine Zwei-Drittel- Mehrheit nötig gewesen. Aber schon vier kleinere deutsche Länder hätten das Inkrafttreten des Grundgesetzes verhindern können. Das hätte eine Aufrechterhaltung des Besatzungsstatus zur Folge gehabt. Die Zukunft eines westdeutschen Staates stand damit auf dem Spiel. Mit Beginn des Kalten Krieges verschärften sich die Situation noch einmal. Die Westzonen Deutschlands sollten auf jeden Fall nichtkommunistisch bleiben, ebenso wie Berlin
Unter all diesen Bedingungen tagte der Parlamentarische Rat der drei deutschen Westzonen 1948. Ab Mai 1948 startete im Ostteil Deutschlands die SED, die spätere Regierungspartei der DDR, ein Volksbegehren "für die Einheit Deutschlands", welches auch in den Westzonen Eintragungsquoten von mehr als 7 Prozent erhielt. Die Westzonen reagierten mit Abschottung und Abwehr.
Aller Anfang war schwer - wie weiter mit der direkten Demokratie?
Die historische Entwicklung macht die Gründe deutlich, warum es auf Bundesebene bis heute keine direktdemokratischen Verfahren gibt. Keine deutsche Partei lehnte direktdemokratische Verfahren von vornherein ab. Kompromisse mussten zeit- und situationsbedingt gefunden werden. Deutschland war abhängig von den Alliierten, von ihrem Wohlwollen und ihrer finanziellen Unterstützung. Es rechnete auch niemand damit, dass die Teilung Deutschlands 40 Jahre lang andauern würde. Das Grundgesetz war als Provisorium gedacht. Durch die Praxis erhielt es seine dauerhafte Bedeutung als Verfassung. Mit dem Beitritt der ostdeutschen Länder zur Bundesrepublik wurde es 1990 übernommen, ohne es an die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse und Bedürfnisse anzupassen.
Auf Länderebene und insbesondere in den Kommunen sind hingegen sehr viele Möglichkeiten festgeschrieben, sich direkt in politische Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse einzubringen. Kritikerinnen und Kritiker halten die Hürden für eine wirkliche Beteiligung der Bevölkerung jedoch für zu hoch. Das Format der bundesweiten Bürgerräte, das in Deutschland nach irischem Vorbild seit wenigen Jahren zu bestimmten Themen stattfindet, könnte nach den Vorstellungen der Initiatoren, unter anderen der Verein Mehr Demokratie, ein Brücke sein zwischen direkter und repräsentativer Demokratie.
BLPB, November 2021
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