1989/90 war das Jahr der Montagsdemos, der DDR-Grenzöffnung, der tanzenden Menschen auf der Berliner Mauer und der Runden Tische. Es war das Jahr des Sturms auf die Stasi-Zentralen und das Jahr der D-Mark. Der anschwellende Protest der DDR-Bevölkerung fegte binnen weniger Monate sämtliche Führungspersonen der DDR aus den öffentlichen Ämtern.
1989/90 war das Jahr, in dem Zehntausende von DDR-Bürgern nicht aus dem Urlaub heimkehrten, weil sie über Ungarn oder die Tschechoslowakei in die Bundesrepublik flüchteten. Es war das Jahr der Montagsdemos, der DDR-Grenzöffnung, der tanzenden Menschen auf der Berliner Mauer und der Runden Tische. Es war das Jahr des Sturms auf die Stasi-Zentralen und das Jahr der D-Mark. Um Mitternacht des 2. Oktober 1990 kündete nach der letzten Nationalhymne im Rundfunk der DDR ein durchdringender Piepton vom Exitus des kranken Patienten.
1989/90 war aber auch das Jahr, in dem die meisten wie eh und je aus dem Urlaub heimkehrten, im kalten Morgengrauen zur Arbeit schritten und sich auf das nächste Wochenende freuten, das Jahr des Fackelzugs der FDJ zum 40. Jahrestag der DDR mit 100.000 Teilnehmern. Das Jahr, in dem Direktoren und Funktionäre Unmut plötzlich ernst nahmen und sich Diskussionen stellten. In dem in der SED Hoffnungsträger der mittleren Generation einforderten, den Sozialismus zu demokratisieren, Transparenz und Offenheit zu leben. Es war ein Jahr der Widersprüche.
Wie sehr sich die Lebenssituation der Brandenburger zunächst noch ähnelte, zeigen die Rückblicke in diesen Seiten. An einem normalen Wochenende im Sommer 1989 genossen sie die Unerreichbarkeit und die kleine Idylle mit Familie und Bekannten im Garten oder in der freien Natur und sie reparierten und renovierten, wenn sie nicht gerade arbeiten mussten. Die meisten hatten sich eingerichtet. Ab dem Spätsommer endete die Normalität schlagartig. Jeder Tag bedeutete tausend Schritte weg vom Vertrauten, Veränderungen in der Politik, den Betrieben, der Kultur, in der ganzen Gesellschaft.
Zeitzeugen des Wandels
Interviews mit den Protagonisten
Obwohl viele eine wachsende Unzufriedenheit mit der DDR spürten, flackert in den Erzählungen immer wieder die ungeheure Überraschung darüber auf, was während und nach der Zeitenwende 1989/90 passierte, ja, was mit ihnen passierte. Niemand rechnete mit dem schnellen Ende des Staates, der deutschen Einheit oder der Bildung demokratisch verfasster Länder im Osten Deutschlands. Hierin unterschied sich Brandenburg nicht vom Rest der DDR. Was uns heute selbstverständlich scheint, weil wir wissen, was inzwischen geschehen ist, verdeckte damals ein undurchsichtiger Nebel der Ungewissheit.
Neue Gesichter in den Parteien
Der anschwellende Protest der DDR-Bevölkerung erreichte sein Ziel. Binnen weniger Monate fegte er sämtliche Führungspersonen der DDR aus den öffentlichen Ämtern.
In der SED drängten zunächst die moderaten Reformer die Altvorderen zum Rücktritt. Sie hofften, auf diese Weise an der Macht bleiben zu können. Der DDR-Staatsratsvorsitzende und SED-Generalsekretär Erich Honecker musste gehen, die Regierung unter Willi Stoph ebenfalls. Auch unter den Ersten Sekretären der SED-Bezirksleitungen, die qua Amt Mitglieder des Zentralkomitees der SED waren, gab es Bewegung.
In Cottbus löste am 9. November Wolfgang Thiel Werner Walde ab. Im Bezirk Potsdam nahm am 15. November Günther Jahn seinen Hut, der am 12. Oktober mit zwei Kollegen aus anderen Bezirken, darunter Hans Modrow, Erich Honecker zum Rücktritt aufgefordert hatte. Seine Position übernahm Heinz Vietze, wie Thiel bis dahin ein Mann der zweiten Reihe in der Bezirksleitung. Er drängte mit Verweis auf den Unmut in der Partei Honecker-Nachfolger Egon Krenz persönlich zum Rücktritt auch des „Putsch“-Politbüros. Im Bezirk Frankfurt (Oder) bat Christa Zellmer Bernd Meier, Funktionär im Petrochemischen Kombinat Schwedt, darum, ihre Nachfolge anzutreten.
Zu den neuen Gesichtern gehörten aber auch systemtreue Intellektuelle wie Michael Schumann oder Lothar Bisky, die plötzlich eine wichtige Rolle in der SED spielten. Was sie einbrachten, waren vor allem neue Ideen, denn geistige Regsamkeit und Diskussionsfreude hatten in der Partei seit längerem keine Rolle mehr gespielt und waren nur im kleineren Zirkel gepflegt worden.
Gemeinsam war den Aufsteigern in der SED, dass sie den Sozialismus als überlegene Gesellschaftsordnung betrachteten, aber den pragmatischeren Habitus der Nachkriegsgeneration pflegten. Sie waren bereits in der DDR sozialisiert und sahen im „Arbeiter- und Bauernstaat“ nicht mehr das eigene, unter persönlichen Härten erkämpfte Lebenswerk. Als ihnen die Wucht der Unzufriedenheit bewusst wurde und ein „Weiter so“ nicht mehr ging, zeigten sie sich zum Umdenken bereit.
Die Volkskammer strich am 1. Dezember 1989 den Führungsanspruch der „Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei“, der SED, aus Artikel 1 der DDR-Verfassung. Um das Ziel einer umfassenden internen Reform symbolisch zu unterstreichen, benannte die SED sich in Partei des demokratischen Sozialismus (PDS) um, trug aber vorübergehend einen Doppelnamen. Auf eine Neugründung verzichtete sie mit dem Gedanken, so das SED-Parteivermögen behalten zu können. (Dies gelang nur in Teilen. Das Vermögen der SED, der anderen Blockparteien und von 18 Massenorganisationen wurde ab 1990 von der Unabhängigen Kommission zur Überprüfung des Vermögens der Parteien und Massenorganisationen (UKPV) geprüft und treuhänderisch verwaltet, später durch die Treuhandanstalt. Der größte Teil ging an die Bundesrepublik bzw. die östlichen Bundesländer über.) Sie schloss außerdem viele ehemalige Spitzenfunktionäre aus ihren Reihen aus, darunter den ehemaligen Cottbuser Ersten Bezirkssekretär Werner Walde.
Auch die DDR-Blockparteien CDU, LDPD, NDPD und DBD mussten ihre Positionen neu bestimmen. Sie waren ja immer in die Macht eingebunden gewesen und saßen in der Regierung. In der CDU verdrängten ähnlich wie in der SED zunächst die Führungskräfte der unteren Ebenen die Spitzen, stärkere Aufsteiger wie Lothar de Maizière, der im November 1989 den CDU-Vorsitz übernahm und in der Modrow-Regierung Minister für Kirchenfragen wurde, waren die Ausnahme. Auch in Brandenburg war dies so.
Oppositionelle, die sich christlichen Werten verpflichtet fühlten, organisierten sich 1989/90 oft außerhalb der CDU, so wie Regine Hildebrandt, die sich bei Demokratie Jetzt engagierte, und Günter Nooke, der den Demokratischen Aufbruch mitbegründete und später aus ihm austrat, weil er das Wahlbündnis "Allianz für Deutschland" mit der CDU nicht mittragen wollte. Die Blockparteien waren angesichts der politischen Umwälzungen erstarrt und erlangten kein eigenes Profil.
Der Austausch der Spitzenfunktionäre sicherte der SED nicht den Machterhalt. Überall wurden bereits im Herbst 1989 „Runde Tische“ eingerichtet, an denen sie mit den Oppositionsgruppierungen und neuen Parteien die künftige Entwicklung der DDR verhandelte.
Die meisten Teilnehmer hatten keine gefestigten Programme, die Beteiligten mussten für sich erst einmal klären, welche inhaltlichen Positionen sie eigentlich genau vertraten. Parteiaustritte bzw. -wechsel sollten keine Seltenheit sein. Als einzige Partei schlossen die neu gegründeten Sozialdemokraten im Januar 1990 die Aufnahme ehemaliger SED-Mitglieder aus. Bei ihnen und der CDU verengten 1990 die Annäherung und Fusion mit den westdeutschen Schwesterparteien früh die programmatische Profilbildung, wie in den Rückblicken auf diesen Seiten deutlich wird.
Ein Machtwechsel ist nicht zu verhindern
Die Runden Tische wurden eine Art Ersatz- und Trainingsparlamente. Weil die dorthin entsandten Teilnehmer ihren politischen Mitstreitern in den Parteien schnell Wissen voraus hatten, waren sie auch ein Elitenpool der ersten Stunde. Am Zentralen Runden Tisch der DDR bzw. in seinen Arbeitsgruppen saßen neben anderen der Potsdamer Matthias Platzeck für die Grüne Liga, die Berlinerin Marianne Birthler für die Initiative Frieden und Menschenrechte, Günter Nooke aus Forst für den Demokratischen Aufbruch.
Die Teilnehmer einigten sich auf die Bildung einer „Regierung der nationalen Verantwortung“, die Oppositionsvertreter einschloss, und auf die Abhaltung freier Parlamentswahlen. Als im Februar 1990 Ministerpräsident Hans Modrow (PDS) acht Vertreter neuer Parteien zu Ministern ohne Geschäftsbereich ernannte, war darunter auch Matthias Platzeck (für die Grüne Partei).
Die erste freie Wahl der Volkskammer im März 1990 zementierte den Machtwechsel. Wie in der DDR insgesamt nutzten im Gebiet des späteren Brandenburg 93 Prozent der Bürger ihr Wahlrecht. Mit ihrer Wahlentscheidung brachten sie vor allem zum Ausdruck, was sie von einer schnellen deutschen Einheit hielten, die sich die CDU in West und Ost auf ihre Fahnen geschrieben hatte. Dieses Thema dominierte den Wahlkampf. Die CDU erhielt insgesamt knapp 41 Prozent der Stimmen, die SPD wurde mit 22 Prozent zweitstärkste Kraft. Auf dem Gebiet des späteren Brandenburg waren die Unterschiede weniger deutlich. Die CDU erhielt 33,6 Prozent der Stimmen, die SPD 30 Prozent.
Bei den weiteren Parteien unterschied sich das Abstimmungsverhalten der Brandenburger kaum vom Rest der Republik. Die PDS wählten je um die 17 Prozent. Den Bund freier Demokraten, eine Listenverbindung unter Beteiligung der Blockpartei LDPD, rund fünf Prozent. Die Listenvereinigung Bündnis 90 aus Neuem Forum, Initiative Frieden und Menschenrechte und Demokratie Jetzt wählten je rund drei Prozent der Bürger. Damit erwiesen sich die Bürgerbewegungen, die intellektuellen Impulsgeber des Systemwechsels, in den Wahlen als nicht massentauglich.
388 der 400 Volkskammer-Abgeordneten waren Neulinge. Für die CDU bildete Lothar de Maizière eine Regierung mit den Sozialdemokraten und den Liberalen. Den DSU-Generalsekretär Diestel ernannte er zum Innenminister und stellvertretenden Ministerpräsidenten. Regine Hildebrandt aus der SPD stieg zur Ministerin für Arbeit und Soziales auf, SPD-Parteikollege Alwin Ziel wurde ihr Parlamentarischer Staatssekretär. Stefan Körber (SPD) übernahm das Amt des Parlamentarischen Staatssekretärs im Wirtschaftsministerium.
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Weitere Prozesse rundeten den Machtwechsel ab: Am 6. Mai fanden Kommunalwahlen statt. Die meisten Brandenburger wählten in ihre Städte- und Gemeindevertretungen Kandidaten der SPD – mit leichtem Vorsprung – und der CDU. So stieg das CDU-Neumitglied Martin Habermann zum stellvertretenden Bürgermeister von Lübbenau auf. Im Mai wurden außerdem nach allen anderen Bereichen die Führungspersonen in der DDR-Wirtschaft weitgehend ausgetauscht.
Schließlich kam es noch zu weiteren Personalwechseln in und zwischen den Parteien. Die ehemaligen Blockparteien LDPD und NDPD fusionierten mit der FDP, wie sich Alfred Pracht erinnert, und die DDR-Bauernpartei DBD mit der CDU. Diese Fusionen verdrängten alte Eliten, ermöglichten jedoch auch einigen Parteifunktionären, die sich noch 1989 gegen eine Demokratisierung der DDR ausgesprochen hatten, die Fortsetzung ihrer politischen Karriere. Dazu zählte in Brandenburg beispielsweise Ulrich Junghanns, letzter Vorsitzender der DBD. Ein prominenter Parteiwechsler war Peter-Michael Diestel, der die DSU verließ und der CDU beitrat. Viele brandenburgische Bürgerrechtler wechselten auch in die SPD, so etwa Regine Hildebrandt.
Auszug aus Andrea von Gersdorff / Astrid Lorenz, "Neuanfang in Brandenburg", Potsdam 2010
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