Obwohl ich gebürtiger Brandenburger bin, habe ich die DDR nicht oft besucht. Meine Familie lebte in Baden-Württemberg, auch alle Verwandten lebten im Westen. Ich habe wie viele andere nicht daran geglaubt, dass es jemals zu einer Wiedervereinigung kommt.
Die jährlichen Reden zum Tag der Deutschen Einheit habe ich teilweise als bedrückend empfunden. Für mich war das Wunschdenken. Ich habe eher gedacht, dass wir versuchen müssen, so viel wie möglich auf friedlichem Wege Einfluss zu nehmen, damit sich die Verhältnisse in der DDR verbessern. Mit der Wende habe ich bis zuletzt überhaupt nicht gerechnet. Dass sie so schnell kam, war für mich eine Überraschung. ...
Meine Zeit als Brandenburger Wissenschaftsminister war für mich ein großer Glücksfall. Bis 1988 saß ich für die FDP als Abgeordneter im Landtag von Baden-Württemberg – 16 Jahre in der Opposition. Nach dieser Erfahrung war es für mich fast eine Art Befreiung, als Mitglied der Regierung nun Politik von Grund auf gestalten zu können, weil man in der Opposition, auch wenn man noch so kreativ ist, nichts durchsetzen kann. Das Ministerium musste aufgebaut und die Rechtsgrundlagen geschaffen werden.
Durch 16 Jahre Landtagsarbeit war ich der geborene Landespolitiker. Ich fühlte mich aber weniger als Volksvertreter, da ich nicht gewählt war, sondern als Experte für bestimmte Bereiche. Die Stimmung im Kabinett und in den Parlamentssitzungen habe ich als sehr angenehm empfunden. Gleichwohl musste ich mich als alt gedienter Parlamentarier umgewöhnen.
Am liebsten hätten die Brandenburger Abgeordneten alles öffentlich gemacht. Ich aber war an das Arbeiten im Ausschuss und die Aussprache im Plenum gewöhnt. Auch herrschte nach den Erfahrungen in der DDR eine starke Basisbezogenheit, was in der Verfassung mit ihren plebiszitären Elementen zum Ausdruck kommt. Schon die Verfassung selbst wurde von den Brandenburgern per Volksentscheid angenommen.
Außerdem war das Harmoniebedürfnis sehr ausgeprägt. Auch der letzte Parlamentarier von der Opposition sollte in eine Entscheidung einbezogen werden, wodurch Kompromissfähigkeit demonstriert und bewiesen wurde. Das kannte ich auch nicht aus meiner Zeit in Baden-Württemberg. Andererseits hat sich diese offene und transparente Arbeit bei meinem Hochschulgesetz, das einstimmig verabschiedet wurde, sehr positiv ausgewirkt. Wir konnten ganz anders vorgehen als mit einem knapp durchgebrachten Gesetz. ...
Leider musste ich ein Hochschulsystem in Brandenburg einführen, von dem ich überzeugt war, dass es ganz miserabel ist. Damals galt ja noch das alte Hochschulrahmengesetz, wodurch der Bund sehr starke Kompetenzen in einem total regulierten System hatte. Ich hätte den Hochschulen viel mehr Autonomie eingeräumt.
Soweit möglich, habe ich auf Landesebene zu viele Vorschriften vermieden. Wir sind mit einem Hochschulgesetz mit etwas mehr als 100 Paragrafen ausgekommen. Für dieselbe Materie hatte das Land Baden-Württemberg vier Gesetze; für jede Hochschulart eins.
Bereits bei den Koalitionsverhandlungen hatte ich versucht, bestimmte Unarten aus dem Westen nicht zu importieren. Insbesondere wollte ich eine ausufernde Bürokratie verhindern. Leider hat das nicht geklappt, was mir bis heute nicht aus dem Kopf geht. Aber der Anpassungsdruck aus dem Westen war sehr stark, zumal wir uns nach dem Einigungsvertrag richten mussten. ...
Als Westdeutscher habe ich bei meiner Arbeit schwerpunktmäßig den Neuanfang gesehen. Zum Thema Aufarbeitung fühlte ich mich nicht berufen, das ist eine Sache der Bürger der DDR. Ich kann nicht sagen, wie ich mich in der DDR eingerichtet hätte.
Allerdings wurde anfangs scheinbar von vielen Aufklärung mit Denunziation verwechselt. Aus meinem Bereich weiß ich, dass Mitarbeitern von Instituten und Universitäten einfach unterstellt wurde, sie wären entweder SED-Kader gewesen oder hätten mit der Stasi zusammengearbeitet. Natürlich gab es Parteimitglieder im Hochschulbereich, aber diesen Umgang mit den Leuten fand ich schändlich. Insbesondere rechte Gruppierungen haben versucht, aus solchen Anschuldigungen Kapital zu schlagen. Aber wir haben uns so gut es ging vor die Mitarbeiter und Professoren der Universitäten und Hochschulen gestellt. ...
Wunderbar war vor allem die Offenheit und Diskussionsbereitschaft, die allenthalben herrschte und die ich so anderswo nicht erlebt habe. Ich musste zeitweilig im Halbstundentakt Gespräche führen, um Vertreter der Wissenschaft und Kultur kennen zu lernen. Das war toll für alle Beteiligten. Diese Bereitschaft zum Gespräch und zur Diskussion ist immer noch zu spüren. Auch das Bewusstsein für eine funktionierende Demokratie ist noch vorhanden, selbst wenn es ein bisschen in den Hintergrund gedrängt wurde.
Deswegen habe ich auch keine Sorge davor, wenn manche Leute von einer Rückwendung zur DDR sprechen.
Man kann den Menschen nicht ausreden, dass sie ihr eigenes Leben gut in einem Staat gelebt haben, auch wenn es ein Unrechtsstaat war. Daraus zu folgern, sie würden lieber zur DDR zurückkehren, halte ich für unsinnig. Ich stelle immer wieder fest, dass die Menschen trotz aller Probleme nach wie vor dankbar für die Wende sind.
In 20 Jahren wird das Bewusstsein dafür sicher abgenommen haben, wenn immer weniger die damalige Zeit miterlebt haben. Insofern müsste sich der Geschichtsunterricht stärker mit der DDR beschäftigen, damit nicht in Vergessenheit gerät, dass die DDR oberhalb des alltäglichen Lebens eine Diktatur war. Wobei für mich letztlich am wichtigsten ist, dass die Leute selbst Deutschland als demokratischen Staat erleben.
geboren am 9. Mai 1941 in Luckenwalde bei Berlin, war ab 1972 Abgeordneter der FDP im Landtag Baden-Württemberg, zuletzt als Fraktionsvorsitzender.
1990 bis 1994 amtierte er als Minister für Wissenschaft, Forschung und Kultur im Land Brandenburg. Nach dem Scheitern der FDP in der Landtagswahl 1994 wurde er Landesvorsitzender und 1999 Spitzenkandidat der FDP, die jedoch erneut nicht ins Parlament einzog.
Seither ist er nur noch ehrenamtlich in Brandenburg aktiv. 2006 wurde er zum Ehrenvorsitzenden der FDP Brandenburg gewählt.
Auszug aus Andrea von Gersdorff / Astrid Lorenz, "Neuanfang in Brandenburg", Potsdam 2010
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