Herbst 1989. Im Süden der DDR gehen bereits Hunderttausende gegen die SED-Diktatur auf die Straße. In den damaligen Bezirken Cottbus, Frankfurt/Oder und Potsdam blieb es dagegen auffällig ruhig. Warum? Der Historiker Peter Ulrich Weiß hat den Umbruch untersucht.
Stilles Land. So oder ähnlich muss ein Reisender den Frühherbst 1989 in den brandenburgischen Dörfern und vielen Städten empfunden haben. Während im Süden der DDR bereits Hunderttausende gegen die SED-Diktatur auf die Straße gingen, schien in den damaligen DDR-Bezirken Cottbus, Frankfurt/Oder und Potsdam alles seinen „sozialistischen Gang“ zu gehen. Lediglich 21 Brandenburger Orte wurden im Oktober von der landesweiten Demonstrationswelle erfasst. DDR-weit waren es dagegen 330.
Die Gründe dafür waren vielfältig: Zum einen existierten vor 1989 nur sehr wenige oppositionelle Gruppen, die widerständig agierten. Zum anderen regte sich in der Bevölkerung trotz Umweltproblemen, Innenstadtzerfall, Versorgungsmangel und politischer Repression vergleichsweise wenig Widerspruch gegen das Regime. Das lag auch an der Drohkulisse, die von den hier stationierten mehr als 300.000 sowjetischen und ostdeutschen Soldaten und Sicherheitskräften ausging. Ebenso erschwerte der vorrangig ländlich-kleinstädtische Charakter organisatorisch wie auch „atmosphärisch“ die Bildung politisch-alternativer Kreise. Viele Unzufriedene aus der Brandenburger Provinz wanderten nach Ost-Berlin ab: Die Hauptstadt der DDR gab oppositionell und alternativ-kulturell den Ton in der Region an.
Dennoch gab es wichtige regionale Ausnahmen wie Brandenburg/Havel, Neuruppin, Forst oder Cottbus-Stadt. Hier gingen Polizei und Stasi immer wieder gegen „Politische Untergrundtätigkeit“ vor. Auch die Bezirksstadt Potsdam gehört dazu. Nirgendwo anders in Brandenburg tummelten sich vor 1989 so viele Oppositionelle, Andersdenkende und Aussteiger wie hier. Hinzu kamen zahlreiche Leute aus dem eher staatsnahen Kultur- und Bildungsbereich, wie zum Beispiel dem Hans-Otto-Theater, dem Kulturbund oder der Hochschule für Film und Fernsehen, die sich kritisch zum System stellten. Diese Orte wurden zu lokalen Kristallisationspunkten der 1989er Revolutionsbewegung.
Startschuss für Brandenburg
Dauerwirtschaftskrise, Reformstau und fehlende Demokratie lähmten die eingeschlossene DDR-Gesellschaft seit Jahren. Doch die Fälschung der Kommunalwahlergebnisse, die unkontrollierbare Flucht- und Ausreisebewegung und die Ignoranz der SED-Führung brachten das Fass im Laufe des Jahres 1989 zum Überlaufen. Zuerst und am mächtigsten in der Messestadt Leipzig. Den Startschuss für die Brandenburger Massenproteste gab die von 3.000 Leuten besuchte Informationsveranstaltung der damals noch illegalen Bürgerbewegung Neues Forum in der Potsdamer Friedrichskirche am 4. Oktober – fünf Tage vor dem landesweiten „Fanal“ der gewaltlosen Leipziger Montagsdemonstration. Doch es dauerte noch bis Ende Oktober, bis auch die Bewohner der Uckermark und der Lausitz den Schritt auf die Straße wagten.
Die drei Bezirksstädte Frankfurt/ Oder, Potsdam und Cottbus entwickelten sich schnell zu den ausschlaggebenden Zentren der Protestbewegung im heutigen Land Brandenburg. Die dortigen Großdemonstrationen mit jeweils 30.000 bis 40.000 Teilnehmern am 30. Oktober (Cottbus), 1. und 4. November (Frankfurt/Oder bzw. Potsdam) gerieten zu endgültigen Weckrufen für die bislang ruhigen „Ecken“ der Bezirke. Die Handlungsunfähigkeit der SED-Bezirksleitungen versetzte den untergeordneten Machtapparat in den Kreisen in eine Art Schockstarre. Nach dem erzwungenen Auszug aus den Betrieben zerfiel nicht nur die alte Organisationsbasis der „Arbeiterpartei“. Auch der gefürchtete Sicherheitsapparat wurde nach den Besetzungen der MfS-Dienststellen Anfang Dezember kalt gestellt. Cottbuser Stasi-Mitarbeitern gelang es dabei immerhin noch, das dortige Bürgerkomitee zeitweilig davon zu überzeugen, die Vernichtung von Stasi-Akten zu akzeptieren.
Dass die Revolution bis dahin friedlich verlief, war keineswegs selbstverständlich. Noch am 7. Oktober, dem 40. Jahrestag der DDR, zeigte die Staatsmacht, dass sie auch anders konnte: So ging die Polizei in mehreren Brandenburger Städten und Gemeinden gegen „feindliche Ansammlungen“ und „Ruhestörer“ vor. In Potsdam, wo sich rund 2.000 Reformanhänger in der Innenstadt versammelt hatten, endete der Protestzug mit einer Hatz auf Demonstranten und der Festnahme von über 100 Personen.
Der unerwartete Mauerfall am 9. November versetzte viele Brandenburger in einen Freudentaumel. Hunderttausende von ihnen fuhren in den folgenden Wochen nach West-Berlin und in die Bundesrepublik. Ihr „West-Erlebnis“ elektrisierte noch einmal Landstriche wie die Uckermark und die Prignitz, über die die Revolution bislang eher hinweggerauscht war. Zugleich bedeutete er das baldige Ende aller Vorstellungen von einer reformierten DDR. Angesichts unverminderter Ausreiseströme und des bevorstehenden Wirtschaftsbankrotts erschien nun vielen Menschen die deutsche Einheit als einzige politische Option. Gerade für den Grenzbezirk Potsdam waren die sozialen Folgen jedoch durchaus ambivalent: Einerseits wurde das verhasste Grenzregime aufgelöst, andererseits machten frühere Grundstückseigentümer aus dem Westen bald zu Tausenden ihre Ansprüche geltend.
Neue Kräfte
Das Neue Forum war zunächst die mit Abstand wichtigste oppositionelle Kraft in Brandenburg. Sie wurde in dem Moment von der in Schwante (Kreis Oranienburg) gegründeten Sozialdemokratischen Partei abgelöst, als die ersten freien Wahlen zur Volkskammer ausgerufen wurden. Dabei erhielt sie maßgebliche Unterstützung von der nordrhein-westfälischen SPD. Der Brandenburger SED/PDS gelang es im „Wende-Jahr“ trotz Politbüro-Skandale und implodierender Parteistrukturen rund ein Fünftel ihrer ehemals 250.000 Mitglieder zu halten. Mit Hilfe der Potsdamer Vorzeige-Reformer Lothar Bisky und Michael Schumann wurde sie zum Motor der parteiinternen Erneuerungsbewegung, das Land Brandenburg zu einer ihrer Wählerbastionen im vereinigten Deutschland.
Die Mitte Dezember 1989 ins Leben gerufenen Brandenburger Runden Tische etablierten sich schnell zu Institutionen der Revolution. Ihre Vertreter, die aus allen politischen Richtungen kamen, sicherten den gewaltlosen Verlauf des Umbruchs, die Auflösung des MfS sowie die Durchführung der vereinbarten Wahlen. Als Kontrollinstanzen der tief verunsicherten Bezirks-, Kreis- und Stadträte verhinderten sie ein drohendes Machtvakuum. Zugleich prägten sie als „Schulen der Demokratie“ das Entstehen einer neuen politischen Kultur.
Die Volkskammerwahlen am 18. März 1990 konnte die CDU-geführte „Allianz für Deutschland“ überraschend deutlich für sich entscheiden. Die Brandenburger Kommunal- und Landtagswahlen am 6. Mai bzw. 14. Oktober 1990 dagegen endeten mit einem klaren Sieg der SPD. Erster Ministerpräsident des Landes wurde der frühere Konsistorialpräsiden der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg Manfred Stolpe.
Dass mit der SPD und Bündnis 90 zwei grundlegend neue, oppositionelle Parteien in die Landesregierung gewählt worden waren, war gleichermaßen außergewöhnlich wie gegen den Trend: Alle anderen neuen Bundesländer wurden von der ehemaligen Blockpartei CDU regiert. Dies lag vor allem an der Verbindung von personalisiertem Wahlkampf und der großen Popularität, die SPD-Spitzenpolitiker wie Manfred Stolpe und Regine Hildebrandt, aber auch Willy Brandt als Ikone der westdeutschen Sozialdemokratie unter den Brandenburgern genossen. Weit mehr als die Hälfte aller Wähler gaben im Vorfeld an, Stolpe zum Ministerpräsidenten haben zu wollen. Dagegen galt CDU-Gegenkandidat Peter-Michael Diestel selbst in den eigenen Reihen als umstritten.
Im Gegensatz zur Volkskammerwahl zog nun auch eine beachtliche Anzahl von Kandidaten der Bürgerbewegung in die Kreistage, Stadtverordnetenversammlungen und Gemeinderäte ein – zweifellos ein Tribut an die Revolutionsmacher vor Ort.
Mit den Wahlen und der Neubildung des Landes Brandenburg war der politische Macht- und Systemwechsel abgeschlossen. Die Menschen beschäftigten nun vor allem die Umwandlungsprozesse im Zuge der deutschen Einheit und ihre Folgen.
Brandenburger Sonderweg?
Einen Sonderweg ging Brandenburg 1989/90 nicht. Dennoch ist es mit Blick auf den zögerlichen Beginn der Revolution kein Paradebeispiel für die durchschlagende Umsturzkraft der DDR-Oppositionsbewegung. Der Verlauf der Friedlichen Revolution in Brandenburg steht indessen beispielhaft für die Unfähigkeit des SED-Regimes, die eigenen Kräfte für die Rettung "seines" Staates mobilisieren zu können.
Viele SED-Mitglieder und Funktionäre waren verunsichert und wie gelähmt. Die sowjetische Reformpolitik unter Michail Gorbatschow und die Massenproteste im eigenen Land hatten eine tiefe ideologische Krise ausgelöst. In Brandenburg erwies sich neben den Alt-Kommunisten insbesondere die so genannte Aufbau-Generation der um die 60-jährigen SED-Funktionäre als unfähig, auf das demonstrierende Volk und seine Forderungen zuzugehen.
Peter Ulrich Weiß, Oktober 2013.
Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt Universität zu Berlin.
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Kommentare
Kommentierenstilles Land?
na ja, kommt auf die damalige Sichtmöglichkeit an. Innerlich lärmte der bockige Brandenburger als solcher laut.
Man konnte es von draußen nicht immer sehen. Das verleitete dann den damaligen Polizeigeneral von Frankfurt (Oder) zu der kühnen Feststellung: "Bei uns haben die so demonstriert, als ob wir das selbst organisiert hätten!"
Nun, der Mann neigte zu Fehlurteilen. Als er später dagegen protestierte, dass man der ehemaligen Anti-Terroreinheit, die im Bezirk in den Wäldern weiter trainierte, vernünftige Wege in die Zukunft zeigen wollte, mußte ihn der ehemalige Stasi-General mit dem Hinweis zum Schweigen bringen: "nun halt mal Deine Klappe, Du hast jeden Monat 2000 Mark von mir gekriegt!" Daraufhin verzog er sich im stillen Land.
Andererseits lärmte Rudolf Bahro lange vor der Wende in Schrottgorod (Eisenhüttenstadt) und im Spiegel, Grünheide, ein Pilgerort für manch unzufriedenen sowie verbotene Zone für Wolf Biermann liegt auch im "stillen" Land und wenn ich mich richtig erinnere, waren die Bezirke Cottbus und Frankfurt diejenigen, die wegen ihrer Lage im Polenrandnirwhana verstärt Mittel für die Kultur bekamen und diese auch sinnvoll nutzen. Also, so ganz leise war es nicht.
Und, dass die Brandenburger lieber eine eigene vorpommersche Pflanze als Chef wählten statt einen schwarzen Erzieher aus dem Westen für die ungehobelten Blockflöten wie in den anderen Reichsbahnländern lag wohl auch daran, dass der die Jahrzehnte davor auch nicht ganz ruhig war!
Re: stilles land
Danke für diesen Einblick hinter die Kulissen. Schrottgorod kannte ich gar nicht! Ich habe die Zeit selbst nicht erlebt, interessiere mich aber sehr dafür. Die wissenschaftliche Darstellung fand ich sehr gut verständlich.
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