Barrierefrei mitbestimmen

Beteiligungsmöglichkeiten für Gehörlose

Demokratie lebt vom Miteinander und Mitbestimmen. Teilhabe setzt aber Wissen voraus, den Zugang zu Informationen, zu öffentlichen Plätzen und Einrichtungen. Barrierefreiheit heißt das. Aber eben daran mangelt es in Deutschland, so dass behinderte Menschen oft "draußen" bleiben.

Inklusion ist Menschenrecht
Inklusion ist Menschenrecht. Foto: mainstrand auf flickr | CC BY-NC 2.0

Seit einiger Zeit ist in der öffentlichen Debatte viel die Rede von Inklusion. Es geht beispielsweise um das Recht auf Bildung und Erziehung sowie auf Barrierefreiheit. Das bedeutet, es darf keine Zugangs- oder Kommunikationshindernisse im öffentlichen Leben geben. Und zwar für alle Menschen.

Genau in diesem Punkt bestehen in Deutschland aber – etwa im Vergleich zu den USA - noch große Defizite. Sicher, es ist Einiges in Bewegung geraten, aber doch scheint viel zu wenig darüber bekannt zu sein, wie die Informationen für Menschen aussehen müssten, die aus unterschiedlichen Gründen besondere Angebote benötigen.

Wie zum Beispiel Menschen, deren Mutter- oder Erstsprache die Deutsche Gebärdensprache, kurz DGS, (geworden) ist. Selbst in den alltäglichen Bereichen des Lebens stoßen sie an Grenzen, die es ihnen unmöglich machen, sich an gesellschaftlichen Prozessen im gleichen Maße wie Hörende zu beteiligen – sei es der Theaterbesuch, das Gespräch in einer Behörde oder die Nutzung des Notrufs. Die mangelnde Aufklärung über Gehörlosigkeit spielt dabei eine große Rolle.

Zahlenspiegel: In Deutschland leben rund 80.000 Gehörlose. Nach Angaben des Deutschen Schwerhörigenbundes gibt es etwa 16 Millionen Schwerhörige. Ca. 140.000 davon haben einen Grad der Behinderung von mehr als 70 Prozent und sind auf Gebärdensprach-Dolmetscher angewiesen.

Zumeist werden Hörgeschädigte mit ihrer Einschränkung falsch wahrgenommen. Taube könnten eben nicht hören, so eine weit verbreitete Annahme. Sie seien aber ohne Weiteres in der Lage, Informationen durch Untertitel - die im Übrigen nur von 8,4 Prozent der 22 wichtigsten deutschen Fernsehsender angeboten werden  - oder aus dem  Teletext im Fernsehen,  wohl aber in jedem Fall aus den Printmedien zu entnehmen.

Das stimmt so nicht. Das Lesen von Texten, die für Menschen gemacht wurden, die nicht hörgeschädigt sind, kann allenfalls eine Brückenfunktion erfüllen. Es kann aber nicht die  Gebärdensprache ersetzen. Vielen ist nicht bewusst, dass es sich bei der Gebärdensprache – die übrigens in jedem Land anders ist und sogar eigene Dialekte ausbildet - um eine vollwertige Sprache mit eigener Grammatik handelt und nicht einfach nur um ein Zeichensystem, das die deutsche Lautsprache mit Händen darstellt.

Obwohl die Gebärdensprache seit Mai 2002 in Deutschland per Gesetz als eigenständige Sprache anerkannt ist, ist ihre Verwendung lange noch nicht selbstverständlich. Sogar in den Bereichen, die wesentlich für die Beschaffung von Informationen sind, gibt es kaum ausreichende Angebote: in der Frühförderung, der Schul- und Berufsbildung sowie im Arbeitsleben.* 

Das hat Folgen. Denn ohne ein Unterrichtsangebot in DGS kann oft keine hohe Schriftsprachkompetenz erworben werden. Aber auch mit Förderung haben „gehörlose Schüler [...] im Alter zwischen 18 und 19 Jahren durchschnittlich eine Lese- und Schreibkompetenz[...] von acht- bis neunjährigen Kindern[...]“*.  Ein wichtiger Grund dafür ist die eingeschränkte Kommunikation innerhalb der Familien, in denen entweder das Kind oder die Eltern hörgeschädigt sind. In etwa 90 Prozent der Fälle hören Kinder und Eltern unterschiedlich, so dass die Kinder das Sprachangebot der Eltern nicht voll wahrnehmen können. Dabei ist eine gelingende Kommunikation im frühkindlichen Alter das A und O für den Erwerb egal welcher Sprache.

Als würde man Chinesisch lernen

Der Prozess der Alphabetisierung ist vergleichbar mit der eines deutschen Kindes, das Chinesisch lernt. Gehörlose müssen aus einer anderen Muttersprache heraus – der DGS nämlich - das Lesen und Schreiben in einer ihnen nicht voll zugänglichen Sprache erlernen. Anders als in der Lautsprache, wo es in erster Linie ums Hören geht, müssen Hörgeschädigte Blickkontakt haben, um sich in ihrer Sprache zu verständigen.

Allein diese sehr unterschiedlichen Bedingungen machen es sehr schwierig, zwischen Hörenden und Gehörlosen die gleichen Möglichkeiten zur politischen Meinungsbildung  zu schaffen. Dazu tritt nun aber zusätzlich ein Unverständnis in der Gesellschaft. Statt zum Beispiel die Gebärdensprache in den Medien zu stärken, wollte der Fernsehsender „Phoenix“ sogar seine Dolmetschereinblendungen am 8. Juli 2013 durch Untertitel ersetzen. Dank zahlreicher Petitionen und vehementer Kritik u.a. durch Gehörlosenvereine konnte diese Fehlentscheidung verhindert werden.

Demonstration am 14. Juni 2013 in Berlin

Demonstration am 14. Juni 2013 in Berlin. Screenshot: Landeszentrale / Quelle: youtube

Hier zeigt sich, welches Bedürfnis nach Teilhabe der sprachlichen Minderheit trotz widriger Umstände innewohnt. Selbstorganisierte Bundes-und Länderverbände leisten bislang die Arbeit, für die eigentlich die Regierungen Verantwortung übernehmen müssten. So zählte die Demonstration am 14. Juni 2013 in Berlin 12.000 Teilnehmer, die an den 25. Jahrestag der Anerkennung der Gebärdensprache durch das Europäische Parlament erinnerten und die bestehenden Defizite vehement aufzeigten.

Welcher Anstöße bedarf es noch, um „Gehör zu finden“? Warum gibt es zum Beispiel keinen tauben Interessenvertreter im Bundestag? In Berlin gelang es dem Grünen-Politiker Martin Zierold im September 2011 als erstem gehörlosen Politiker in Deutschland in die Bezirksverordnetenversammlung von Berlin-Mitte einzuziehen. Er hat erlebt, wie schwer es für einen Gehörlosen ist, überhaupt in den Politikbetrieb einzusteigen.

Es ist ja alles auf Hörende ausgerichtet, ich brauche immer eine Dolmetscherin. Die Finanzierung vor der Wahl war sehr schwierig. Andere Politiker machen Wahlkampf, damit sie bekannter werden. Für mich war das nur möglich, weil eine meiner Dolmetscherinnen mich ganz oft auch ehrenamtlich begleitet hat. Seit der Wahl ist es etwas besser: Die Dolmetscherkosten ... sind jetzt bewilligt. Aber was ist, wenn ich eine Einrichtung besuchen, Hintergrundgespräche mit anderen Politikern führen oder Öffentlichkeitsarbeit machen will? Das sind Hürden, die es für andere Politiker nicht gibt.*

Kompakt erklärt

Das gleiche Grundmuster gilt auch für andere Menschen mit Behinderungen, Menschen im Rollstuhl, Blinde oder Menschen mit Lernbehinderungen: Sie wollen mitreden, mitbestimmen und teilhaben. Sie treffen aber auf Barrieren, die Menschen ohne Behinderungen nicht haben.

Doch wie kann der Übergang zu einer inklusiven Gesellschaft geschafft werden, die nicht nur auf dem Papier besteht? Gut zuhören und hinsehen – das wäre schon ein erster Schritt.

Hannah Irene Riesenberg, Juli 2013. Die Autorin studiert Gebärdensprach- und Audiopädagogik an der Humboldt Universität Berlin.

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