Die »verlorenen Orte« sind nicht immer bedeutungslos gewesen, sondern wurden von heute auf morgen ihrer ursprünglichen Funktionen beraubt und verfielen. Geschichte hat hier schon seit Jahrhunderten Reste von überlebter Kultur in der Landschaft hinterlassen.
Es hat einige Zeit gedauert, bis wir an den Rändern Brandenburgs gelernt haben, dass das eigentlich Besondere entleerter Landstriche darin besteht, dass sie auf geheimnisvolle Weise nicht besonders sind. Man muss nur einmal auf den endlos langen Autobahnen gefahren sein, um die unspektakulär schönen Aussichten der einsamen Räume zu genießen: Endlose Kiefernwälder, grenzenlose Felder und ab und an ein kleiner See. Verstreut sieht man aufgegebene Ortschaften, baufällige Höfe und zahlreiche Windräder, die wohl auch deshalb hier stehen, weil es an heimischer Bevölkerung fehlt, die erfolgreich dagegen hätte protestieren können. Menschen sieht man nicht. Die eigentliche Landschaftsdominante ist der Himmel. Meist ein wenig diesig. Viel Sonne und wenig Regen.
Die »verlorenen Orte« in Brandenburg sind nicht immer bedeutungslos gewesen, sondern wurden ihrer Bestimmung durch massive Eingriffe und gesellschaftliche Brüche erst entledigt. Dafür bedurfte es nicht einer allmählichen Veränderung, sondern eines plötzlichen Wandels. Dieser ermöglichte, dass die Orte von heute auf morgen ihrer ursprünglichen Funktionen beraubt wurden und verfielen. Das hat Tradition in Brandenburg, wo Geschichte schon seit Jahrhunderten und immer wieder zahlreich Reste von überlebter Kultur in der Landschaft hinterlassen hat.
Reste überlebter Kultur in der Landschaft
Ein Beispiel dafür ist der Funktionsverlust, der mit der politischen Wende 1989 und der anschließenden Neuorientierung in Verbindung steht. Der passierte nicht einfach so. Es war ein gewollter Systemwechsel, der zum Verschwinden führte. Dieser Wechsel war gepaart mit einer großen Hoffnung auf eine bessere Zukunft und wohl auch einer bedauerlichen Gleichgültigkeit gegenüber dem Zurückgelassenen. Die DDR war am Ende und selbst ihre dezentralen Macht- und Geheimstätten von der Waldsiedlung Wandlitz über die FDJ-Jugendhochschule bei Bernau bis zum RAF-Eingliederungslager »Objekt 74« bei Briesen verschwanden in der Bedeutungslosigkeit der hauptstädtischen Umgebungsprovinz. Die Verwalter des DDR-Baunachlasses hatten dem massiven Veränderungsdruck der Wiedervereinigung und dem Verfall wenig entgegenzusetzen.
Doch während die Geringschätzung gegenüber den sozialistischen Hinterlassenschaften zunächst als Achtlosigkeit wahrgenommen wurde, verstand man die entstehende Leere und die neuen Rückzugsorte in der Folge zunehmend als Potenzial. Mit dem Bruch und den einsetzenden Bedeutungsverlusten verbunden war eine neue Freiheit der Zugänglichkeit. Gerade weil den Orten weder Bedeutung noch Werte blieben, konnte man nun besuchen, was vorher noch industrielles oder militärisches Sperrgebiet war. So schonungslos die Folgen der Wende auch gewesen sein mögen, durch sie erhielten die Orte ihre magische Wirkung, die es heute ermöglicht, sie als einzigartig wahrzunehmen. Man will sie entdecken. Sie wecken eine tiefe Neugierde.
Gerade weil die riesigen Räume von Lausitz, Prignitz, Uckermark oder Fläming, die Landschaften des Oderbruchs, Spreewaldes oder Havellandes erlauben, vergessene Orte zu finden, die nur für uns und niemanden sonst da sind, ist die »Leere ein Luxus« (Wolfgang Kil).
Stille Orte der Industriekultur
Lost Places gibt es in Brandenburg unzählige. Und es sind so viele, dass jeder Brandenburger und jede Brandenburgerin, aber auch die Gäste von nah und fern, einen finden können. Hierzu zählen die noch erhaltenen Industriebrachen, die sich nach Produktionsende in einzigartige Kultur- und Naturbiotope verwandeln konnten. Ganz im Süden des Landes findet man die alten Tuchfabriken in Forst, Guben, Spremberg und Cottbus. Einige dieser Industriejuwele sind selten schön: Am Gubener Neißeufer trotzte der imposante Turmbau der ehemaligen Tuchfabrik »Wolle Werk 1« der Abrisswut und blieb als Erinnerungszeichen. Von hier blickt man in die Gubiner Berge in der polnischen Stadthälfte, eine Frühlingsattraktion, die in den 1920er Jahren Heerscharen in Berliner Sonderzügen hierher kommen ließ.
Ein paar Kilometer weiter neißeaufwärts kommt man nach Forst (Lausitz), das einstige »Manchester des Ostens«. Ein Muss sind die Forster Kraftzentralen, Industriehallen und Fabrikbauten. Hierzu zählen die alten Industriebauten stolzer Besitzer wie Noack & Bergami, Avellis, Cattien oder C. H. Pürschel. Erwähnenswerte Lost Places im Süden von Brandenburg sind auch die malerischen Biotürme in Nachbarschaft zur Kunstgießerei Lauchhammer, das Kraftwerk Plessa und die inmitten der Domsdorfer Wälder gelegene Brikettfabrik Louise. Hier zeigt die Internationale Bauausstellung 2000–2010 in der Lausitz bis heute ihre Wirkung. Erfolgreich hat man sich gegen die Abrisseile der Rückbauförderung gestellt und konnte so einen Teil des industriellen Erbes bewahren.
Stille Orte der Industriekultur entdeckt man natürlich auch im Norden Brandenburgs. Beispielsweise das Wittenberger Zweigwerk der amerikanischen Singer-Nähmaschinenfabrik oder die Ziegelei samt Ringofen in Altglietzen. Und ganz besondere, einzigartige verlorene Industrieorte an malerischer Wasserlandschaft finden sich am Eberswalder Finowkanal: Die alten Messingwerke, das stolze Kraftwerk Hegermühle oder die versteckte Borsighalle samt Gasgeneratorenhaus.
Ganze Landschaften in Abseitslage
Man sieht in Brandenburg aber auch ganze Landschaften, die sich in Abseitslage befinden. Hierzu zählen ohne Zweifel die riesigen Tagebaurestflächen der Niederlausitz. Transitorische Räume, die sich ständig verändern. Hier entdeckt man weite Altindustrieflächen, die die Natur in den letzten 30 Jahren erfolgreich zurückerobert hat. In Wanninchen beispielsweise, 20 Kilometer nördlich des Besucherbergwerks F-60 bei Lichterfeld, liegt eine Oase der Vogelwelt. Dort finden im Umfeld einer Altkippe inmitten des Heinz-Sielmann-Landes im Frühjahr und Herbst tausende von Kranichen und Wildgänsen ihr sicheres Nachtlager. Das sind weit über 3.000 Hektar Naturerlebnis.
Keine 30 Autominuten östlich liegt eine weitere Tagebaurestlandschaft auf den Altflächen des bis heute aktiven Tagebaus Welzow. Dort kann man während geführter Erkundungstouren stundenlang durch die bizarre Mondlandschaft vorbei an Restlöchern und Halden laufen.
Zu den vergessenen, überflüssigen und verlorenen Landschaften in Brandenburg zählen auch die alten Militärareale zwischen Prenzlau und Cottbus, zwischen Frankfurt (Oder) und Rathenow. Wer kennt schon das ehemalige sowjetische Kernwaffensonderlager Lychen II, den knapp 10 Kilometer östlich von Bernau gelegenen Flugplatz und ehemaligen Kernwaffenstützpunkt Werneuchen, auf dem Nikita Chruschtschow 1957 zum DDR-Staatsbesuch landete, oder den gigantischen Ex-Militärflughafen Groß Dölln bei Templin?
Weitgehend unbeachtet ist auch der mit 25.500 Hektar ebenfalls riesenhafte Truppenübungsplatz bei Lieberose, dessen bis heute ruinenhaft erhaltener Ausguck auf dem »Feldherrenhügel« einst Erich Honecker und Leonid Iljitsch Breschnew für den Manöverpanoramablick diente. Es ist als seien die Truppen der Sowjetarmee samt ihrer hier einst stationierten Nuklearraketen erst vorgestern verschwunden. Die sandige Landschaft ist eine weite, von Wölfen und Wiedehopfen bewohnte Heideebene mit zerstreuten Bunkerflügeln und Schützengräben, deren Zwischenräume sich mit Kiefern und Birken füllen.
Die eigentliche Freiheit
Wer hier spaziert, sieht stundenlang niemanden. Nun soll dort eine internationale Naturausstellung entstehen. Wenn es klappt, ist Fingerspitzengefühl geboten. Denn eines scheint an den verlorenen Orten nicht zu funktionieren. Sobald sie durch organisierte Kräfte und massive Eingriffe von oben vitalisiert werden, und mag die damit verbundene Absicht noch so gutwillig sein, verlieren sie schnell ihren Reiz.
Verlockend sind diese peripheren Räume als Rückzugsorte. Es sind Meditationswelten ohne die sonst übliche Erholungsinfrastruktur von städtischen Wellnessoasen. Sollen die wortstarken und metropolhektischen Berliner in ihrem modischen Moloch verschwinden und weiterhin ihre vielgerühmte Stadtluft inhalieren. Die eigentliche Freiheit findet man im weiten Brandenburg. Denn während Berlin brummt, ruht das periphere Umfeld der Hauptstadtmetropole gelassen in seiner Strukturschwäche. Hier werden verfallene Architekturen als übriggebliebene Entspannungsplätze zugelassen.
Und genau darin liegt eine besondere Stärke Brandenburgs. Seine »verlorenen Orte« und Räume setzen Kräfte in uns frei, die wir vorher kaum für möglich erachtet hätten. Sicherlich sind es auch Orte des Abschieds. Es ist aber ein Abschied, dessen Spuren in den leeren Landschaften noch lesbar sind. Egal ob man sich einen Samstagnachmittag an der Forster Neiße, einen Spaziergang durch die tagebaunahe Klinkerarchitektur von Welzow oder eine nostalgische Fahrt nach Eisenhüttenstadt gönnt. Hier begegnet man sich selbst in einer von Geschichten umgebenen Ruhe, die sich erst bemerkbar macht, wenn man die wohltuende Einsamkeit wieder verlässt.
Lars Scharnholz
Aus: Das Brandenbuch. Ein Land in Stichworten. Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung, 3. Auflage, Potsdam 2020
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Kommentare
KommentierenSowjetarmee
Fachlicher Hinweis:
Die Rote Armee "verschwand" bereits am 25. Februar 1946 ... seit 26.02.1946 nannte sie sich "Sowjetarmee" ;-)
Aufmerksamer Leser
Vielen Dank für das aufmerksame Lesen. Wir haben es hier gleich korrigiert und auch für den nächsten Nachdruck des "Brandenbuches" aufgenommen.
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