Emotionen - Freude, Entsetzen, Furcht, Mut, Ratlosigkeit. Jeder, der den Mauerfall erlebt hat, erinnert sich an andere Gefühle. Der 9. November 1989 steht für das Ende der DDR, das Ende der Geschichte, den Beginn der deutschen Einheit - und für viele offene Fragen.
Der 9. November 1989 war ein Donnerstag. Wen man auch fragt, jeder hat seine eigenen und häufig auch ganz unterschiedliche Erinnerungen an den Tag, der als Symbol für das Ende des Kalten Krieges in die Geschichte eingegangen ist.
Leichte Sprache: Der Mauerfall
Angela Merkel, damals noch als Physikerin an der Akademie der Wissenschaften der DDR beschäftigt, ging wie jede Woche in die Sauna. Ex-Fussballnationalspieler Steffen Beinlich war 17 und früh im Bett, weil er in der Ausbildung war und morgens zur Arbeit musste. Auch der sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow verschlief die "Nacht der Nächte" wie er in seiner Autobiographie mitteilte. Der Schauspieler Jackie Schwarz verbrachte den Tag in der Entzugsklinik, Boxweltmeister Henry Maske hatte ein mulmiges Gefühl und Fernsehmoderator Günther Jauch pendelte die ganze Nacht aufgekratzt mit der Bahn zwischen Ost- und Westberlin.*
Das Ende des Kalten Krieges 1989: Der amerikanische Politologe Francis Fukuyama sprach im Rückblick sogar vom "Ende der Geschichte" und ging zeitweise davon aus, dass sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Auflösung des so genannten Ostblocks bald westliche Demokratienormen und marktwirtschaftliche Prinzipien weltweit als einziges Gesellschaftsmodell durchsetzen würden.
Überraschungsmoment
Schaut man sich die Fernsehbilder an, die Journalisten von der Nacht der Maueröffnung in Berlin und den darauf folgenden Tagen eingefangen haben, dann kann man die Ungläubigkeit der Menschen förmlich mit Händen greifen.
Die Gesichter der DDR-Grenzsoldaten, die vor der - nun teilweise offenen Mauer stehen - und die Menschen zu Tausenden passieren lassen müssen. Die Stimmen alter Menschen, die die Teilung der Stadt nach 1945 erlebt hatten, Ältere, die sich an den Mauerbau 1961 erinnerten, Familien, die mit Kindern, Oma und Opa von Ost- nach Westberlin strömten. Kein Zweifel, niemand hatte in dieser Nacht mit dem Mauerfall gerechnet.
Feierabendrevolution
Kaum jemand hatte Gepäck dabei. "Morgen sind wir wieder da... Wir müssen ja zur Arbeit gehen... " - so war es häufig zu hören. Deshalb wird die Friedliche Revolution manchmal auch als "Feierabendrevolution" bezeichnet.
Denn die Montagsdemonstrationen in Leipzig und anderen Städten der DDR, die dem Mauerfall vorausgingen, fanden in der Regel nach der Arbeit statt - ein Zeichen für das Pflichtbewusstsein, aber auch für die Grundstimmung, die vor dem 9. November bei der Mehrheit der Bevölkerung noch herrschte.
Die deutsche Einheit stand noch nicht auf der Tagesordnung. Erst in den folgenden Tagen und Wochen wurde aus dem Ruf "Wir sind das Volk" die Forderung "Wir sind ein Volk".
Die Geschwindigkeit, mit der die DDR wirtschaftlich und politisch am Ende zusammenbrach, hatte jedoch niemand vorausgesehen. Der britische Historiker Timothy Garton Ash hat von einer Kombination "aus gesundem Menschenverstand und Schlamperei der neuen Parteiführung" unter Egon Krenz gesprochen.*
Die unzähligen Einschätzungen, die es inzwischen aus den Reihen der Wissenschaft, von Politikern, Zeitzeugen und anderen zum Erfolg der Friedlichen Revolution in der DDR gibt, betonen in unterschiedlichem Maße den Beitrag verschiedener Personen und Gruppen.
Warum die Revolution erfolgreich war
- Extrem wichtig war die Haltung der Sowjetunion als östliche Führungsmacht. Der sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow stärkte mit seiner Reformpolitik "Perestroika" die Bürgerbewegung in der DDR und schwächte damit die DDR-Führung.
- Auch die Haltung der westlichen Führungsmacht, der USA, spielte eine Rolle. US-Präsident Ronald Reagan hatte die Sowjetunion 1987 zum Abriss der Mauer aufgefordert.
- Den bundesdeutschen Medien wird großer Einfluss zugeschrieben. Vor allem Radio und Fernsehen wurden jahrzehntelang auch in ostdeutschen Wohnzimmern empfangen. Sie waren in der Nacht des Mauerfalls vor Ort und trugen zur Verbreitung des Ereignisses in der Bevölkerung bei.
- Ebenso wurde die Entwicklung in Polen und Ungarn von der DDR-Bevölkerung wahrgenommen: die polnische Gewerkschaftsbewegung als Motor der Opposition und die Genzöffnung der ungarischen Regierung 1989.
- Nicht zuletzt kam enormer Druck aus der eigenen Bevölkerung, die all die Veränderungen nutzte, Botschaften besetzte, über Ungarn floh oder in der DDR auf die Straße ging.
Dass die Mauer am Ende "von innen aufgedrückt" wurde, darauf gründen viele Ostdeutsche ihre Identität und ihr Selbstwertgefühl im wiedervereinigten Deutschland.
Warum die Revolution heute noch aktuell ist
In der jüngsten Zeit versuchen verschiedene politische Gruppen, die Friedliche Revolution direkt mit aktuellen gesellschaftlichen Fragen in Verbindung zu setzen und für eigene Ziele zu nutzen. Wie einig ist das wiedervereinigte Deutschland, wer ist das Volk und was bedeutet der Ruf der Vielen von damals heute?, sind nur einige Punkte in der öffentlichen Debatte.
Gerade die Jüngeren gehen dabei sehr entspannt mit dem Thema um. Gesamtdeutsch mit ostdeutscher Identität, so etwa beschreibt sich Abiturient Julius Niewisch aus Potsdam.
Auch die "Dritte Generation Ostdeutschland" zeigt bereits deutlich mit ihrem Namen, dass sie in der Fortschreibung von Ost-West-Diskussionen nichts grundsätzlich Negatives sieht.
Eine frische, neue Art des Fragens wünschen sich auch einige, die "dabei waren". Zum Beispiel Roland Jahn: Der Chef der Stasi-Unterlagenbehörde setzte schon vor Jahren darauf, dass junge Menschen anfangen, ihre Großeltern, Eltern und Lehrer nach dem "damals" befragen, damit sich ein offenes Gespräch über Anpassung und Verstrickung in der DDR entwickeln kann.
Ich will begreifen, wie diese Diktatur funktioniert hat. Deshalb halte ich es für wichtig, dass sich jeder selbst darüber klar wird, wie er sich bewegt hat im Mechanismus der Diktatur. Das geschieht mir noch zu wenig." Roland Jahn (2011)*
Dies scheint nicht unbegründet. Denn anders als im Westen Deutschlands hat es in der DDR keinen lauten und zum Teil gewaltsam ausgetragenen Generationenstreit der "68er" gegeben. Statt dessen wird eine "Generationensolidarität" deutlich, in der die Kinder Verständnis für das Schweigen der Eltern über ihre DDR-Vergangenheit haben.
Die Revolution nicht zum Mythos machen. Erinnern an den 9. November
Der österreichische Politikwissenschaftler Michael Gehler warnte vor einer Mythologisierung der Revolutionen in der DDR und in den anderen ehemaligen Ostblockstaaten. Es waren Umsturzbewegungen, die Übergange ermöglichten, die lange andauern. In sehr kurzer Zeit vollzog der Osten, wofür westliche Demokratien Jahrzehnte Zeit hatten - mit allen wirtschaftlichen, politischen, kulturellen, gesellschaftlichen und individuellen "Nebenwirkungen".*
Der 9. November steht ohne Zweifel für Zivilcourage, Bürgermut und Widerstand gegen das diktatorische Regime in der DDR. Das Datum steht aber auch für Gewalt und Terror, für das Zusehen und mangelnden Bürgermut in einer anderen deutschen Diktatur. Am 9. November 1938 brannten überall in Deutschland Synagogen, wurden jüdische Geschäfte verwüstet, Juden geschlagen und umgebracht. Auch das gehört zur Erinnerung an den 9. November dazu.
BLPB, Juni 2013 (zuletzt bearbeitet November 2019)
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