Wer sind die Menschen, die den Neuanfang in Brandenburg auf den Weg gebracht haben? Welche Erinnerungen haben sie an den Herbst ‘89? Was motivierte sie dazu, aktiv Politik zu betreiben? Wie sieht ihr ganz persönliches Resümee aus?
Die Interviewpartner wurden repräsentativ ausgewählt. Befragt wurden Mitglieder des ersten Landtages sowie erste Landesminister, Vertreter verschiedener Generationen, Ost- und Westdeutsche, Frauen und Männer und natürlich Angehörige unterschiedlicher Parteien.
Die wenigsten Personen verfolgten einen Plan. Sie kamen auf ganz unterschiedliche Weise dazu, Politik zu gestalten. Sie suchten und schauten sich um, sie wurden unerwartet in etwas hineingezogen, sie griffen zu, als sich eine Gelegenheit ergab oder sie blieben einfach ihren Grundsätzen treu. Und dann gab es noch die „Macher“ – Personen, die sich immer gern engagierten und sich nun entschieden, dies in der Politik zu tun.
Ob Herbert Knoblich, Beate Blechinger, Britta Stark oder Heinz Vietze – ihnen allen ist gemeinsam, dass sie im Sommer 1989 noch nicht ahnten, ahnen konnten, was in den nächsten Monaten sie, ihre Familie und Freunde, die Nachbarn und Kollegen, die gesamte Gesellschaft erwarten würde. Vieles kam zusammen, damit sich die Unzufriedenheit der einzelnen zu einer gemeinsamen Protestwelle formte. Sie brachte die Freiheit, Politiker, Funktionäre und Direktoren zu entmachten und das politische System umzukrempeln. Allen Genannten ist auch gemeinsam, dass sie später zu denen gehörten und gehören, die in der erlangten Demokratie das neu gegründete Land Brandenburg gestalten und prägen würden.
Wir stellten allen Personen dieselben Fragen, darunter: Welchen beruflichen Hintergrund hatten sie und wie war ihre Haltung zur DDR? Welche Erinnerungen haben sie an 1989/90 und die Phase danach? Was motivierte sie dazu, aktiv Politik zu betreiben? Welchen Umgang mit der Vergangenheit bevorzugten sie? Wie bewerten sie heute die damaligen Ereignisse und Entscheidungen? Und: Würden Sie das alles noch einmal machen?
Die Antworten sind in Erzählform wiedergegeben. Wir wünschen uns, dass Sie die Geschichten so in Atem halten wie uns, weil sie zeigen, wie viel Entwicklung in einem Leben möglich ist, wenn man will. Wir wünschen uns auch, dass nebenbei erkennbar wird, wie Politik in einem Bundesland abläuft, dass sie sinnvoll ist, dass die Menschen in Brandenburg einen Schatz gemeinsamer Erfahrungen haben, der sie eint und unterscheidet von anderen. Wer weiß, woher er kommt, kann selbstbewusster entscheiden, wohin er will.
Die Rückblicke, so individuell sie auch sind, ergeben zusammen ein recht genaues Abbild des personellen Neuanfangs in Brandenburg.
Was bleibt?
Die Menschen in diesen Seiten erinnern sich stellvertretend für all diejenigen, die ab 1990 den Neuanfang in Brandenburg gestalteten. Wer ihre Rückblicke liest, erfährt von Lebenslinien, die sich verselbständigten. Es war ein historischer Moment: Gefestigte Persönlichkeiten, die sich eingerichtet hatten und ihre Zukunft zu kennen glaubten, wurden zu Fordernden, dann zu selbst Geforderten, zu Lernenden, deren Wissen über die Welt täglich zerrann und neu entstand. Niemand war 1994 so, wie er 1989 war – selbst wenn er zu jenen zählte, die nicht Neues schaffen, sondern Altes bewahren wollten.
Was der Einzelne im Schnelldurchlauf erlebte, widerfuhr der Gesellschaft insgesamt als Elitenwechsel. Unterhalb der Führungspositionen herrschte durchaus oft Konstanz, aber je höher die Ebene, desto mehr Personalwechsel gab es – innerhalb der SED, PDS und der Blockparteien, über die Neugründung von Parteien und Fusionen, in den politischen Organen, über die Besetzung neuer Organe, den Austausch der Verwaltungs- und Wirtschaftseliten, Personalwechsel nach 1990 im Zuge von Stasi-Überprüfung und politischer Auseinandersetzungen. Diese Prozesse zeichnete der vorliegende Beitrag nach, um das Verständnis für die einzelnen Rückblicke und das „Drumherum“ zu schärfen.
Jeder Einzelne hat Aufstieg, Ausstieg, Umstieg selbst erlebt. Sie sehen ihre eigenen Leistungen aus der damaligen Zeit heute durchaus nicht nur rosig. „Schönwetterverfassung“, Fehlentscheidungen in der Wirtschaftspolitik, im Bildungs- und Gesundheitsbereich, die nicht funktionierende Bürgerbeteiligung benennen sie als Probleme. Entscheidungen in der Grauzone zwischen mangelnder Amtserfahrung und versuchter Vorteilsnahme – besonders im Zusammenhang mit Grundstücks- und Finanzgeschäften – beschäftigten Untersuchungsausschüsse des Landtags und Gerichte. Die meisten Personen aber erinnern sich gern an die Phase des Neuanfangs in Brandenburg.
Dies mag auch daran liegen, dass sie dem schmerzhaften Teil der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit aus dem Weg gingen. Die Bereitschaft, Einsicht in frühere Fehler mit gegenseitigem Vergeben zu belohnen, entwickelten die Beteiligten unter sich und nicht im transparenten öffentlichen Diskurs. Ein solcher Diskurs hätte verdeutlicht, dass individuelle Verantwortung und Schuld sich nicht auf eine Zusammenarbeit mit der Stasi reduzieren lassen, sondern Auftraggeber, Informationsempfänger und Dulder einschließen, er kann einen Konsens darüber herstellen, wie und warum wem vergeben oder nicht vergeben wird.
Seit dem Neuanfang ist viel geschehen. Es gab Konflikte und Koalitionen, die nicht absehbar waren. Die geringe Wahlbeteiligung, politische Stimmungsschwankungen der Bürger und ihr Misstrauen gegenüber Parteien blieben in allen neuen Ländern. Das ist schade. Denn der Geist der „Gründergeneration“ lebt nur fort, wenn sich viele Menschen für die Demokratie in ihrem Land begeistern und bereit sind mitzugestalten – durch Lob und Kritik, durch Wählen und Handeln. Dieses Vermächtnis ist noch nicht erfüllt.
Auszug aus Andrea von Gersdorff / Astrid Lorenz, "Neuanfang in Brandenburg", Potsdam 2010
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