Warum fügte sich die SED-Führung gewaltlos ihrem Untergang? Warum riss der hochgerüstete Sicherheitsapparat das Ruder nicht noch einmal herum? Und wieso blieben, trotz aufgestauter Wut auf SED und MfS, Hunderttausende von Demonstranten friedlich?
Ein Augenzeugenbericht über die gewaltsame Auflösung des Protestzuges von rund 2.000 Potsdamern, die am 40. Jahrestag der DDR auf der zentralen Einkaufsmeile der Stadt für Reformen demonstrierten, steht stellvertretend für eine Welle der Polizeigewalt, die an diesen Tagen über das ganze Land schwappte.
Am 7. Oktober 1989, um 16 Uhr, konnte ich beobachten, wie mehrere Angehörige der VP am Nauener Tor in Potsdam einen jungen Mann mit Schlagstöcken schlugen, als er sich weigerte, abgeführt zu werden. (…) Ebenso musste ich um 16.30 Uhr, in der Friedrich-Ebert-Straße / Ecke Klement-Gottwald-Straße, mit ansehen, wie ein junger Mann von etlichen Volkspolizisten brutal mit Schlagstöcken zu Boden geprügelt wurde.“
Mehr als 3.300 Festnahmen, davon 106 in der Potsdamer Bezirksstadt, schockierten nicht nur unbeteiligte Augenzeugen oder betroffene Oppositionskreise, sondern auch Teile der SED-Basis, die solch ein Vorgehen als unverhältnismäßig verurteilten. Zusammen mit vorherigen Zusammenstößen sind sie Teil der heißen Phase der Revolution. Als solche fanden sie bilderreich Eingang in Filmdokumentationen, Ausstellungen oder Fotobände zu „1989“. Prügelnde Polizisten, sprühende Wasserwerfer oder brutale Stasihäscher verkörpern hier eine bis zum Ende diktatorisch regierte DDR, in der Gewalteinsätze zum alltäglichen Herrschaftsrepertoire der SED gehörten.
Sprachlich allerdings prägten diese Bilder keinesfalls die Revolutionserinnerung. Stattdessen hat sich der Begriff „friedliche Revolution“ durchgesetzt. Im Gegensatz zu „Revolution“, die mancher lieber durch „Wende“ oder „Anschluss“ ersetzen würde, wurde das adjektivische Beiwort nie bestritten. Doch eben jene Friedlichkeit, hochgespielt zum „Wunder der Gewaltlosigkeit“, ist erklärungsbedürftig. Warum fügte sich die SED-Führung gewaltlos ihrem Untergang? Warum riss der hochgerüstete Sicherheitsapparat, der de facto mehrere Hunderttausend Mann mobilisieren konnte, das Ruder nicht noch einmal herum? Und wieso blieben, trotz aufgestauter Wut auf SED und MfS, die Hunderttausende von Demonstranten friedlich?
Fanal von Leipzig
Gegen Regimekritiker kämpfte die SED von jeher mit offenen oder verdeckten Repressionsinstrumenten. Gewaltsame Großeinsätze galten dabei als legitimes, eingeplantes und einzuübendes Mittel zur „Verteidigung der sozialistischen Errungenschaften“. Davon zeugen unter anderem der Truppenübungsplatz in Bad Belzig, auf denen die Polizei zwischen Potsdamer Häuserattrappen für den Ernstfalleinsatz in der Bezirksstadt trainierte, oder die im „Vorbeugekomplex“ – 86.000 DDR-Bürger waren darin erfasst – vorgesehenen Isolierungslager des MfS. Im Ernstfall sollten dorthin allein in den Brandenburgischen Bezirken über 1000 Personen verbracht werden. Die bisherige Gewaltplanung und -ausübung von Polizei und Geheimdienst folgte insofern der Logik und den Mechanismen der SED-Herrschaftssicherung.
Erst die Leipziger Montagsdemonstration vom 9. Oktober brachte die ereignisgeschichtliche Wende. Obwohl die Staats- und Geheimdienstchefs Erich Honecker und Erich Mielke am Tag zuvor die „Unterbindung“ von Demonstrationen befahlen und Tausende Sicherheitskräfte in und um die Messestadt zusammengezogen worden waren, blieb der Einsatzbefehl gegen die 70.000 Teilnehmer aus. Bezirkseinsatzleiter Helmut Hackenberg, zugleich 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Leipzig, hatte aufgrund von Gehorsamsverweigerungen und ausbleibenden Anweisungen aus Ost-Berlin in letzter Minute davon abgesehen, ein Zuschlagen anzuordnen. Weder er, noch der Leipziger Polizeipräsident Gerhard Straßenburg wollten ein mögliches Blutbad verantworten.
Honecker-Nachfolger Egon Krenz gab später an, den entscheidenden Rückzugsbefehl gegeben zu haben, was aber umstritten ist. Bedeutend jedoch ist, dass kurz vor Beginn der Montagsdemonstration sowohl in den Kirchen als auch im Leipziger Stadtfunk ein Appell verlesen wurde, in dem neben Stardirigent Kurt Masur, Theologe Peter Zimmermann und Kabarettist Bernd-Lutz Lange auch drei Sekretäre der SED-Bezirksleitung zum Gewaltverzicht aufriefen. Damit drang nach außen, dass die SED längst in Hard- und Softliner gespalten war.
Zwei Tage später änderte das SED-Politbüro mit einer plötzlichen „Dialog“-Offerte ihre Strategie und versuchte, sich als gesprächswillige Parteiführung zu verkaufen. Als dann Egon Krenz, seit dem 18. Oktober neuer SED-Generalsekretär, die „Wende“ ausrief und Waffeneinsätze nachdrücklich verbot, war die Gefahr einer blutigen Niederschlagung weitgehend gebannt. Die Leipziger „Botschaft“, dass mit Gewaltlosigkeit ein Gewaltregime bezwingbar ist, löste nun eine Massenprotestwelle aus, die auch die tiefste Provinz erreichte. Polizei oder MfS griffen nach dem 9. Oktober nicht mehr mit physischer Gewalt ein.
Gorbatschow-Faktor
Dieser staatliche Gewaltverzicht hatte viele Gründe. Manche gehen auf Risikoabschätzungen im engeren Machtzirkel zurück, andere auf die Folgen der ideologischen Erosionserscheinungen im Ostblock und in der SED. So zeigten sich 1989 die Parteiführung und ihr Funktionärsapparat – trotz permanenter „Kampf“-Rhetorik – in der Gewalt-Frage gleichermaßen verunsichert wie uneins. Insbesondere die Angehörigen der Generationen, die nicht am Widerstandskampf gegen die Nationalsozialisten teilgenommen hatten, hielten Distanz zur Gewaltoption.
Die Vorgänge in Polen und China hatten deren Grenzen und Konsequenzen gezeigt: So war es trotz Verhängung des Kriegsrechts und der massenhaften Internierungen von Solidarność-Mitgliedern 1981 nicht gelungen, die polnische Gewerkschaftsbewegung zu bezwingen. Und die massiven Sanktionen, die der empörte Westen nach der Niederschlagung der Pekinger Demokratiebewegung am 4. Juni 1989 gegen China verhängte, hätten im Fall der DDR deren Wirtschaftskollaps beschleunigt – ein Szenario, vor dem die SED-Spitze nachweislich zurückschreckte.
Wie wiederum die sowjetischen Streitkräfte in der DDR auf einen Gewaltausbruch reagieren würden, galt als nicht eindeutig vorhersehbar. Zwar hatte Gorbatschow die seit 1968 geltende Breschnew-Doktrin aufgegeben, die ein militärisches Eingreifen der UdSSR bei den Bündnispartnern legitimierte, doch die DDR war letztlich Besatzungsgebiet und strategisch eminent wichtig. Insofern war ein „befriedender“ Einsatz gegen Demonstranten (wie 1953) ebenso wenig auszuschließen wie ein erzwungener Machtwechsel in Ost-Berlin.
Hinzu kam, dass das ursprüngliche Anliegen der Massenprotestbewegung es der SED schwer machte, ihren „Gegner“ dauerhaft zu kriminalisieren. Denn dieser demonstrierte zunächst nicht für die radikale Abschaffung des Sozialismus und der DDR, sondern für ihre Reformierung. Die Feind-bild-Propaganda blieb daher diffus. Zudem gab es auch innerhalb der SED zahlreiche offene und heimliche Unterstützer von Glasnost und Perestroika. Diese Reformkräfte gewaltsam zu bekämpfen, hätte bedeutet, auch Gorbatschow und den „großen Bruder“ herauszufordern.
Dass die mächtigen Sicherheitsapparate des MfS, der NVA und der „Volkspolizei“ – bislang zuverlässige Exekutive der Gewalt – nach dem 9. Oktober und vor allem nach dem Mauerfall das nahende Ende der DDR so widerstandslos hinnahmen, geht ebenfalls auf innere und äußere Faktoren zurück: Zum einen – und am wichtigsten – lag dies natürlich am Ausbleiben entsprechender Befehle. Zum anderen aber lähmte der Zerfall der identitätsstiftenden Feindbilder, Klassenkampfvorstellungen und „Kampfaufträge“ die Moral der Offiziere und Mitarbeiter soweit, dass eine Gegenmobilisierung zur Rettung der DDR ausblieb.
Für viele von ihnen hatten die überlieferten Definitionen von „Konterrevolution“ und „Klassenfeind“ ihre Überzeugungskraft verloren angesichts der osteuropäischen Reformprozesse, der schieren Menge von Demonstranten und dem Wissen um die tiefe Staatskrise. Passivität, Orientierungslosigkeit und Entsetzen regierte in den Chefetagen. Im Fall des MfS sorgten zudem die Besetzungsaktionen der Bürgerkomitees und der Beschluss der Geheimdienstauflösung ab dem 4. bzw. am 14. Dezember schnell dafür, dass eventuellen Gegenschlagabsichten der Boden entzogen wurde.
Kirche als Friedensstifter
Auf der Gegenseite leisteten die Kirchen bzw. die Pfarrer und kirchlichen Mitarbeiter, die nicht selten selbst seit Jahren an der Spitze der Protestbewegung standen, einen erheblichen Beitrag zur Gewaltfreiheit. Sie besaßen jahrelange Erfahrungen im Umgang mit staatlichen Behörden, praktizierten kirchliche Friedensarbeit und waren im friedlichen Ausloten von Spielräumen eingeübt. Sie waren deshalb vielerorts Autoritäten, deren Appelle und Anleitungen zur Gewaltlosigkeit zur maßgeblichen Richtschnur des Handelns wurden.
Die Kirchen boten einen anerkannten Schutzraum und zugleich eine vom Staat mehr oder weniger respektierte Gegenöffentlichkeit, in der bereits vor 1989 gesellschaftskritische Aktivitäten stattfanden. Die Friedensgebete mit ihrer „Wiederholungsstruktur“ zu Beginn nahezu jeder Demonstration im September/Oktober 1989 stimmten die Teilnehmer programmatisch und mental auf den Gewaltverzicht ein. Sie waren wesentlicher Bestandteil einer entstehenden Protestkultur, die sich demonstrativ vom staatlichen Vorwurf des „Rowdytums“ absetzte und die ihre Forderungen aus der friedlichen „Mitte der Gesellschaft“ her ableitete. In diesem Sinne wirkten auch die vielerorts geschlossenen „Sicherheitspartnerschaften“ zwischen Demonstranten und Polizei. Obwohl die Polizei in der Regel von den Bürgerrechtlern in diese „Partnerschaften“ hineingedrängt wurde, erfüllten sie den Zweck, den Protest zu legalisieren und der „Volkspolizei“ eine „Beschützerrolle“ aufzuzwingen.
Doch auch ohne die Mentorenschaft der Kirchen erschien es im Kalkül der Demonstranten als schlichtweg selbstmörderisch und sinnlos, die Auseinandersetzung mit dem überlegenen Sicherheitsapparat gewaltsam zu suchen. Dass dieser sich nach dem 9. Oktober weitgehend (aber nicht ausnahmslos) an die verordnete Zurückhaltung hielt, trug auf seine Weise dazu bei, Eskalation zu vermeiden.
Glücksmoment der Geschichte
Die weitgehende Friedlichkeit, die die Revolution in der DDR ebenso wie die Umbrüche in Polen, Ungarn oder der ČSSR kennzeichnete, geht auf ein ganzes Bündel von Ursachen und Akteuren zurück. Doch als Ausdruck des Herrschaftszerfalls war sie keineswegs erwartbar. Die blutigen Ereignisse in Rumänien, Bulgarien oder Jugoslawien zeugen vom Gewaltpotenzial, das dem Zusammenbruch des kommunistischen Ostblocks innewohnte. So ist bei aller Einzelfaktoranalyse das gewaltarme Ende der DDR auch als ein historischer Glücksmoment zu betrachten angesichts der Wucht, mit der sich das Rad der Geschichte drehte.
Peter Ulrich Weiß, Dezember 2013
Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt Universität zu Berlin.
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Kommentare
Kommentierenbewegtes Ende der DDR
sicher gehören die Bürgerbewegten zu denen, an die man zum 25. Jahrestag der Öffnung in alle Richtungen dankend denken soll. Aber man sollte ebenso wenig vergessen, dass auch im Apperat und bei der "Firma" denkende Menschen durchaus bewußt etwas anderes wollten als die offizielle Linie und ihren Anteil am Gelingen der Umgestaltung haben. Sie wäre sonst nicht so vonstatten gegangen!
Bei dieser Gelegenheit möchte ich an Ibrahim Böhme erinnern, der trotz alledem am Werden der SDP einen nicht unerheblichen Anteil hatte und dessen undifferenzierte Abschaffung ein Geburtsfehler der SPD in den Reichsbahnländern war. Und ebenso möchte ich an die Rede von Mischa Wolf am 4. November 89 auf dem Alex erinnern, die deutlich machte, das die Erkenntnis vom Nichtmehrweiterso bei etlichen DDR-Gründern angekommen war. Der Kreis der Änderungswilligen ging halt von Schorlemmer bis Gysi , auch wenn das einigen Bärtigen nicht gefällt!
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