... Von Kindheit an hatte ich eine kritische Haltung zur DDR, weil ich in Babelsberg an der Grenze zu West-Berlin aufwuchs, Westfernsehen gucken konnte und oft Verwandte aus dem Westen zu Besuch kamen.
Aber es gab eine längere Phase, in der ich versuchte, mich zu arrangieren und Veränderungen im System zu bewerkstelligen. Ich war sogar einmal Gruppenratsvorsitzender in der Schule, ein anderes Mal FDJ-Sekretär in meiner Klasse. Für meine Schule war das natürlich eine Herausforderung, weil ich gleichzeitig das christliche Bekenntnisabzeichen trug und in kritischer Distanz politisch tätig war.
Eine kurze Zeit überlegte ich gar der CDU beizutreten, um mit Hilfe dieser Partei Veränderungen zu organisieren. Mein Patenonkel bewahrte mich davor, indem er mir zeigte, wie viele damit gescheitert waren.
Seit ich 1986 überraschend das erste Mal anlässlich des Geburtstages meines Großvaters in den Westen reisen durfte, stellte ich mir bei weiteren Reisen wiederholt die Frage, ob ich da bleiben sollte. Ich kehrte in die DDR zurück, wollte aber mehr als bisher für Veränderungen tun.
Bei meinem ersten Besuch im Westen fühlte ich mich nach 24 Stunden mehr zu Hause als im Osten. Ich spürte das Lebenselixier Freiheit. Ich hatte keine Lust mehr, im Staatstheater DDR in dem großen Stück „Aufbau des Sozialismus“ meine Rolle zu spielen und auf wichtige Rechte und Freiheiten sowie auf einen möglichen Wohlstand zu verzichten. Außerdem gingen mir die Bürokratie und Rückständigkeit auf die Nerven.
Sie brachten mich um kostbare Lebenszeit. Es dauerte manchmal eine Stunde, bis ich ein funktionierendes öffentliches Telefon gefunden hatte. Oder ich benötigte zwei Stunden mit dem Zug vom Bahnhof Friedrichstraße bis nach Griebnitzsee in Potsdam, weil man ja um West-Berlin herumfahren musste.
Ich merkte, dass es eine grundlegendere Opposition braucht, um etwas zu verändern. Daher bemühte ich mich, Informationen über die SPD zu bekommen, weil ich mich der Partei von Willy Brandt, Helmut Schmidt und Hans-Jochen Vogel am nächsten fühlte. Gleichzeitig überwand ich Stück um Stück die Angst vor Repressalien. 1988 begann ich mit den Überlegungen für eine Neugründung dieser Partei in der DDR.
Ich wusste recht gut über die wahren Zustände in der DDR Bescheid, da ich mich ausführlich über westliche Medien informierte. Aber es war nicht leicht, Gleichgesinnte zu finden, die bereit waren, die DDR so grundlegend in Frage zu stellen. Doch seit dem Spätsommer 1989 traf ich mich im Berliner Sprachenkonvikt regelmäßig mit Ibrahim Böhme und Angelika Barbe. Die Gründung einer Partei war außerdem so verboten, dass es nicht einmal ein Verbot gab und auch keine rechtliche Möglichkeit, die Genehmigung dafür zu beantragen. Aber am 7. Oktober 1989 gründeten wir dann gemeinsam mit anderen Mitstreitern in Schwante die SDP. Wir nannten sie so, damit wir nicht als Westgründung diffamiert werden konnten. ...
Als SDP-Mitbegründer kandidierte ich für die Volkskammer auf der Liste der SPD im Bezirk Potsdam und wurde am 18. März 1990 gewählt. Ich wollte natürlich die bürgerlichen Freiheitsrechte – Pressefreiheit, Reisefreiheit, Meinungsfreiheit, freie Wahlen und Parteien – für die DDR, aber es ging mir auch um die Strukturen im Land bis hin zur Wirtschaft. Ich wollte eine schnelle Annäherung an die Bundesrepublik und die zügige Angleichung der Lebensverhältnisse.
Während der Verhandlungen zum Einigungsstaatsvertrag wurde mir immer stärker bewusst, dass es in der DDR auch bewahrenswerte Dinge gab, wie zum Beispiel das Sozialversicherungssystem und die Polikliniken, in denen mehrere Ärzte gemeinsam arbeiteten. Erhalten wollte ich sie aber nicht, weil sie aus der DDR waren, sondern weil ich sie im Vergleich zur Bundesrepublik doch einen Tick moderner fand. Leider ist daraus selbst im Osten, auch durch die Haltung der CDU, nicht allzu viel geworden.
Die Stimmung in der Volkskammer war vor allem gegenüber der SED-Nachfolgepartei PDS sehr aggressiv. Besonders die Mitglieder der ehemaligen Blockparteien versuchten in ihrer Ablehnung nachzuholen, was sie über Jahre versäumt hatten. Das lag auch daran, dass sich Ministerpräsident Lothar de Maizière immer weniger gegen Helmut Kohl und dessen Ziehsohn Günther Krause, der zum starken Mann der Ost-CDU wurde, durchsetzen konnte. Der setzte Parteikalkül vor alles andere und wurde darin vom damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl unterstützt. ...
Die Rolle der Westdeutschen war gemischt. Sie wirkten manchmal bremsend, vor allem in der CDU, aber es gab anfangs ebenso viele, die ihre gesamte Lebenserfahrung einbrachten und auch Neues lernen wollten.
Später kamen Bedenkenträger, die sich geräuschlos aus ihrem alten Leben verabschieden und dabei noch gutes Geld verdienen wollten. Sie machten Dienst nach Vorschrift. Typische Glücksritter fanden sich vor allem in der Wirtschaft. Sie nutzten die Unwissenheit der Ostdeutschen finanziell aus.
Große Unternehmen wie Krupp kauften ihre Konkurrenzbetriebe auf, kassierten Fördergelder und machten diese Betriebe dann dicht. Dann blieb der Osten nicht mal verlängerte Werkbank. Das waren für mich bittere Erfahrungen.
Wir haben zwangsläufig Fehler gemacht, die bis heute nachwirken. Zum einen haben wir die Kreise in Brandenburg zu klein gefasst, so dass wir viele Millionen D-Mark in Strukturen wie den Bau von Kreisverwaltungen investiert haben, obwohl es anders gegangen wäre. Wir haben uns auf Prognosen verlassen, die ein Bevölkerungswachstum vorhersagten und deshalb den Bau überdimensionierter Kläranlagen gefördert, die die Gebühren für Wasser in die Höhe getrieben haben.
In der Bildungspolitik haben wir das dreigliedrige Westschulsystem übernommen, weil wir Volkes Wille umsetzen mussten. Ich wollte wie Bildungsministerin Marianne Birthler vom Bündnis 90 eine Schule für alle bis zur 10. Klasse und daneben Gymnasien, die anders als in der DDR, für alle Schüler offen sein sollten.
Wir haben damals nicht genug dafür gekämpft, wenigstens ein nur zweigliedriges Schulsystem einzuführen. Das ist für mich eine der bittersten Erfahrungen, dass wir sehenden Auges einen schweren Fehler machen mussten, den wir heute nur mit größter Anstrengung korrigieren können. Bei der vorschulischen Bildung sind wir 1990 gut gestartet. Später haben wir dann in der Landesregierung Kürzungen beschlossen, die sich unter dem Eindruck der Pisaergebnisse als falsch herausstellten.
Leider haben wir auch 1996 die Abstimmung über die Fusion von Berlin und Brandenburg zum falschen Zeitpunkt gemacht. Der damalige Berliner CDU-Fraktionsvorsitzende Klaus-Rüdiger Landowsky hatte seine Zustimmung zum Vertrag davon abhängig gemacht, dass nicht mit der Senatswahl in Berlin, sondern erst ein halbes Jahr später abgestimmt wird. Die Abstimmung scheiterte, und das hat bis heute negative Folgen für das Land und die Republik. ...
Ich war von Beginn an für eine sinnvolle Balance von Neuanfang und Aufarbeitung. Die Aufarbeitung der Vergangenheit sollte neue Chancen ermöglichen. In der Volkskammer habe ich mit Stolz das Stasi-Unterlagengesetz mit beschlossen und glaube, dass uns damit die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit besser als in anderen ehemaligen Diktaturen gelungen ist. Als SPD-Landesvorsitzender musste ich mich als Mitglied im Stolpe-Untersuchungsausschuss schon bald mit den Stasi-Vorwürfen gegen Manfred Stolpe beschäftigen.
Ich vertraue ihm bis heute, aber ich ahnte schon zu DDR-Zeiten, dass er, um zu erreichen, was er erreicht hat, mit allen sprach, die Macht hatten. Wenn er also Oppositionellen wie Bärbel Bohley oder Freya Klier helfen wollte, musste er auch mit Vertretern der Stasi verhandeln. Ich glaube nicht, dass er je die Seiten gewechselt hat oder diese Gespräche wegen eines persönlichen Vorteils führte.
Ich bin stolz auf das, was uns gemeinsam gelungen ist, und auch darauf, dass ich zentrale Entscheidungen mit bewirkt und geprägt habe. Hätte ich nicht, gemeinsam mit Johannes Rau, 1990 Manfred Stolpe in die SPD gezogen, wäre die SPD in Brandenburg sicher nicht so lange in der Regierungsverantwortung. Leider habe ich einzelnen Menschen zu sehr vertraut, weil ich davon ausging: So wie ich dir begegne, so wirst du auch mir begegnen. Dennoch habe ich neue Freundschaften geschlossen, über Parteigrenzen hinweg eigenartigerweise mehr in der Linken als in der CDU.
Dass mein Beitrag zum Aufbau des Landes anerkannt wird, zeigen mir die Einladungen zu Veranstaltungen zu den runden Jahrestagen der Wende. Ich bin dankbar dafür. Das eine ist eigenes Verdienst, zugleich hatte ich aber auch Glück, dass ich damals zum richtigen Zeitpunkt an der richtigen Stelle gewesen bin.
geboren am 27. Juni 1960 in Potsdam-Babelsberg, war Mitbegründer der Sozialdemokratischen Partei der DDR und von 1990 bis 2000 Landesvorsitzender in Brandenburg.
Von 1990 bis 2005 hatte er ein Landtagsmandat inne, ab 1994 war er in zwei Legislaturperioden Minister für Wissenschaft, Forschung und Kultur bzw. für Bildung, Jugend und Sport.
2005 wechselte er in den Deutschen Bundestag, wo er bis 2009 Abgeordneter war.
Auszug aus Andrea von Gersdorff / Astrid Lorenz, "Neuanfang in Brandenburg", Potsdam 2010
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