Hans Otto Bräutigam

Von New York nach Potsdam – Ein Diplomat wird Landespolitiker

Hans Otto Bräutigam, Foto: Simone Römhold
© Simone Römhold

... Da kam völlig überraschend ein Anruf von Manfred Stolpe, der mir zunächst das Amt des Beauftragten des Landes Brandenburg bei der Bundesregierung und im Laufe weiterer Gespräche das des Justizministers von Brandenburg antrug. Ich wäre eigentlich lieber Kultusminister geworden, denn von der Aufgabe eines Justizministers hatte ich trotz meines Jurastudiums keine Ahnung.

Chronik der Landesregierung

Dr. Hans-Otto Bräutigam

Aber nachdem ich alles mit meiner Frau besprochen hatte, habe ich mich entschlossen, die Ämter zu übernehmen. Nach nur einer Woche hatte ich alles organisiert, ein Nachfolger war für mich gefunden, und Mitte November 1990 war ich im Amt. Die Wahl war auf mich gefallen, da die Landesregierung jemanden suchte, der das Rechtssystem der Bundesrepublik ebenso kannte wie die DDR-Verhältnisse. Da gab es in der Tat nicht so viele Kandidaten.

Für Brandenburg hatte ich im Grunde keine Präferenzen, außer dass ich Manfred Stolpe sehr gut kannte. Ich wäre auch einem Ruf nach Sachsen gefolgt. Damals waren die Länder schon neu gegründet. Ich finde, das war eine gute Entscheidung. Später habe ich mit dem sächsischen Justizminister Steffen Heitmann in einer gemeinsamen Verfassungskommission von Bund und Ländern für die Neugliederung des Bundesgebietes insgesamt gefochten, aber das wurde von der Mehrheit der Länder abgelehnt.

Das Justizministerium bestand bei meinem Amtsantritt aus vier Personen. Drei davon waren aus dem Osten und wussten genauso wenig wie ich, was ein Justizministerium eigentlich macht. Der vierte Mitarbeiter kam aus dem Justizministerium in Nordrhein-Westfalen. Er allein wusste, was in dieser Situation zu tun war: Wir suchten zunächst Räumlichkeiten und Personal und verteilten die Aufgaben.

Allmählich schälte sich dann ein Aufbauprogramm für das Gebiet der Justiz heraus. Von Anfang an habe ich Wert darauf gelegt, dass auch Juristen aus dem Osten dabei waren, wenn auch die Leitungspositionen von erfahrenen Leuten aus dem Westen besetzt wurden. Dieses politische Grundprinzip der Einbeziehung der Ostdeutschen habe ich bis zum Schluss meiner Tätigkeit beibehalten. ...

Hans Otto Bräutigam;  Foto: Simone Römhold
© Simone Römhold

Aber ich hatte auch schwierige Themen zu bewältigen wie den Umgang mit dem SED-Unrecht, die Überprüfung der Justizbeamten und die Neugestaltung der Gefängnisse. Ich war nämlich auch der oberste Gefängnisaufseher. Das empfand ich als besondere Bürde. Zum einen waren die Gefängnisse in einem unbeschreiblichen Zustand, und ständig brachen Häftlinge aus. Zum anderen gingen die Justizvollzugsbeamten mit den Häftlingen anders um als in West-Deutschland.

Deshalb mussten wir die alten Beamten quasi fortbilden. Das haben wir so schnell wie möglich organisiert. Ich habe dann im Laufe der Jahre erkannt, dass die Verbesserung des Strafvollzugs eines unserer wichtigsten Ziele sein muss, weshalb ich die Gefängnisse regelmäßig besucht habe.

Als nächstes mussten wir alle Justizbeamten, vom einfachen Gefängnisaufseher bis zum Staatsanwalt, überprüfen. Für Richter und Staatsanwälte, von denen eigentlich alle SED-Mitglieder waren, hatte die Volkskammer ein Verfahren beschlossen, wonach diese Überprüfung durch Ausschüsse vorgenommen werden sollte. Ich musste dazu Vorschläge machen, ob ich einen Justizbeamten noch für tragbar hielt.

Das waren Entscheidungen, die mir sehr schwer gefallen sind, da sie immer auch menschliche Aspekte enthielten. Ich fühlte mich aber durch meine Kenntnisse der DDR-Mentalität ganz gut bei dieser Aufgabe platziert. Dennoch habe ich mit westdeutschen Kollegen im Justizministerium über verschiedene Leute ziemliche Auseinandersetzungen gehabt. Ich war ein bisschen offener als sie, die keinerlei Bezug zur DDR hatten.

Auf der anderen Seite mussten wir auch alle Gerichtsurteile überprüfen. In den meisten politischen Fällen hatte es längst Amnestien gegeben, so dass wir nur Fälle allgemeiner Kriminalität überprüfen mussten, denn es konnte doch hinter diesem oder jenem Urteil ein politisches Motiv stecken. Ich bekam in den ersten Monaten ständig Vorschläge eines Juristenausschusses, wie mit den Urteilen umzugehen sei. Es war nicht so einfach, diese Entscheidung auf der Grundlage der Akten zu treffen.

Nicht zuletzt musste ich mich auch dem Umgang mit SED-Unrecht stellen. Das waren nicht nur Todesfälle durch Mauerschüsse, Körperverletzung oder Folter, sondern auch Wahlfälschung, Korruption, Rechtsbeugung oder Postzensur. Das große Problem dabei war, dass nach der DDR-Rechtspraxis und zum Teil nach den Gesetzen diese Handlungen dort nicht als Unrecht behandelt worden sind, vielmehr waren sie häufig durch Politbüromitglieder abgesegnet.

Es galt nun das Prinzip, nur entsprechende Taten, die auch im Westen Unrecht wären, sollten bestraft werden. Es gab dann Tausende Verfahren wegen kleinerer Delikte wie Briefzensur oder Hilfe bei Wahlfälschung, die aber eingestellt wurden. Mit einem Gesetzentwurf für eine Amnestie für leichtes und mittelschweres Unrecht konnte ich mich nicht durchsetzen, aber de facto wurde die Rechtssprechung so gehandhabt. Ansonsten habe ich mich generell aus der Aufarbeitungsdiskussion herausgehalten, soweit ich eben nicht als Justizminister davon betroffen war. ...

Natürlich haben wir als Landesregierung auch Fehler gemacht, die uns heute teuer zu stehen kommen. Für mich ist eines der größten Versäumnisse, dass wir uns nicht genügend um die Jugend gekümmert haben. Jugendhäuser wurden geschlossen, Sportvereine gab es nicht mehr. Ich glaube, das ist mit ein Grund dafür, dass der Rechtsextremismus auf dem Land stark verbreitet ist. Dazu kommt die Enttäuschung von großen Teilen der Bevölkerung über den Einigungsprozess. Sie haben das Gefühl, Verlierer der Einheit zu sein. Nur im Zuge von Generationen werden sich die Vermögensverhältnisse in Ost und West allmählich angleichen. Das schafft man eben nicht in wenigen Jahren, so viel Geld ist einfach nicht vorhanden.

Dr. Hans Otto Bräutigam,
geboren am 6. Februar 1931 in Völklingen an der Saar, war ab 1982 als Staatssekretär Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in der DDR und ab 1989 UN-Botschafter in New York.

Von 1990 bis 1994 wurde er parteiloser Minister der Justiz des Landes Brandenburg und Bevollmächtigter der Landesregierung beim Bund sowie im Anschluss daran bis 1999 Minister der Justiz und für Bundes- und Europaangelegenheiten.

2006 trat er in den Ruhestand.

Auszug aus Andrea von Gersdorff / Astrid Lorenz, "Neuanfang in Brandenburg", Potsdam 2010

 

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