Zwischen 1933 und 1938 wollte die Hitler-Regierung vor allem eins: die jüdische Bevölkerung aus der Gesellschaft und aus dem Land drängen. Dennoch blieben viele deutsche Juden. Tausenden von ihnen wurde diese Heimattreue zum tödlichen Verhängnis.
Die nazideutsche Politik der Zeit zwischen 1933 und 1938 war vornehmlich darauf ausgerichtet, die Juden mit ausgeklügelten Schikanen aus der Gesellschaft, besser noch, aus dem Land zu drängen. Trotz aller Repressionen verblieben aber viele deutsche Juden in dem Land, das sie noch immer als ihre Heimat ansahen. Tausenden von ihnen wurde diese Treue zum tödlichen Verhängnis.
Kompakt erklärt
Holocaust
Gleich nach der Machtübernahme begannen die Nationalsozialisten mit Repressionen gegen die jüdische Bevölkerung in Deutschland. In den ersten Jahren waren dies vor allem diskriminierende Maßnahmen, deren offensichtliches Ziel es war, die Juden aus dem Land zu drängen.
Eine Chronik der deutschen antijüdischen Aktionen zwischen 1933 und 1945 zeigt auf, in welch perfider Art und Weise vorgegangen wurde (PDF-Datei, S. 110)
Gestern Staatsbürger - heute "nur noch Jude"
200 Jahre lang hatten die deutschen Juden aktiv ihren Beitrag zur deutschen Kultur und Wissenschaft geleistet, hatten für Deutschland ihren Blutzoll entrichtet – 1848, 1870/ 71 und im I. Weltkrieg. Umsonst: plötzlich war der Traum von der so beharrlich angestrebte deutsch-jüdische Symbiose einem Alptraum gewichen. Mit großer Verbitterung stellte die Jüdische Rundschau in ihrer Ausgabe vom 22. Januar 1937 fest:
Der stolze deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens von gestern war heute nur noch Jude, und er rieb sich die Augen, und er begann zu fragen: Jude? Was bedeutet das? ... Der Jude stand allein in eisiger Kälte, am Rande des Abgrunds, sich und seinem Judentum gegenüber.“
Die Periode offener physischer Gewalt setzte Anfang November 1938 mit der „Reichskristallnacht“ ein und endete schließlich mit der fabrikmäßig betriebenen Vernichtung von Millionen europäischer Juden, die während des II. Weltkriegs in den Einflußbereich Deutschlands gerieten.
Kollaboration mit den Nationalsozialisten
Selbst als die Tötungsmaschinerie auf Hochtouren lief, versuchten zionistische Organisationen und Einzelpersonen, Juden von den Deutschen „freizukaufen“. Teilweise gelang dies sogar. Aber nicht nur Nazideutschland selbst, auch viele andere Länder und deren Bevölkerung trugen unter deutscher Besetzung direkt oder indirekt zur massenhaften Ermordung der Juden bei.
Sei es durch Auflagen und Einschränkungen bei der Einwanderung, sei es durch den Einsatz von Hilfswilligen – unter anderem in der Ukraine, dem Baltikum, Frankreich, den Niederlanden sowie in den zahlreichen mit Hitlerdeutschland verbündeten Staaten – bei der Deportation oder Tötung.
In den zwanziger und dreißiger Jahren hatten in vielen europäischen Ländern ultrakonservative oder faschistische Regierungen die Macht übernommen. In fast allen diesen Staaten kam es auch zu offenen Diskriminierunge der jüdischen Bevölkerung. Auch die noch verbliebenen demokratischen Staaten Europas schränkten in den dreißiger Jahren die Zuwanderung von Juden, besonders aus Deutschland, ein.
Besonders krasse Beispiele sind das Weißbuch der britischen Regierung zu Palästina (vgl. Geschichte Israel) und das unsolidarische Verhalten der polnischen Bevölkerung während des Aufstandes im Warschauer Ghetto.
An der Hauptverantwortung der Deutschen an diesen in der Weltgeschichte einmaligen Greultaten ändert dies allerdings nichts: klassische, christlich motivierte Judenfeindlichkeit des Mittelalters, rassisch motivierter neuzeitliche Antisemitismus und schlicht pathologischer Haß auf jene Minderheit, verbunden mit eigens für die „Endlösung“ ersonnenen Massenmord-Mechanismen richteten in deutschen Namen Unfaßbares an.
Die Nationalsozialisten hatten Deutschland mit einem System von Konzentrationslagern überzogen, die obenstehende Karte zeigt nur die Hauptlager. Die Vernichtungslager – allein in Auschwitz-Birkenau starben zwischen 1942 und 1945 nahezu 1 Million Menschen – befanden sich außerhalb des „Altreiches“, im sogenannten Generalgouvernement.
Warum? Worte finden für das Unsagbare
Nach dem II. Weltkrieg mußte die jüdische Gemeinschaft eine erschütternde Bilanz ziehen: zwischen 4 und 6 Millionen Opfer hatte sie zu beklagen. Eine genaue Zahl der in den Konzentrations- und Vernichtungslagern, den Ghettos, während des deutschen Vormarschs im Osten und bei „Säuberungsaktionen“ wirklich ums Leben Gekommenen wird sich wohl niemals ermitteln lassen.
Auch nach ihrer Befreiung starben noch hunderte Juden an chronischer Unterernährung, Krankheiten, in sowjetischer Haft oder bei Pogromen, zum Beispiel in der polnischen Stadt Kielce. Von den Überlebenden hatten die meisten nur einen Wunsch: den Kontinent, auf dem sie so Schreckliches zu erdulden hatten, so schnell wie möglich zu verlassen.
Anfang 1945 zählte die UN-Organisation zur Verwaltung der Flüchtlingsfrage (UNRRA) mehr als 13,5 Mill. solcher „entwurzelter Personen“ (displaced persons;DP's), davon waren etwa 250.000 Juden. Die zionistische Jewish Agency – inoffizielle „Regierung“ der Juden in Palästina – war bestrebt, möglichst viele der jüdischen DP's in den vor seiner Gründung stehenden jüdischen Staat zu holen. Dass etwa 12.000 von ihnen in Deutschland blieben und hier mit der Reorganisation jüdischen Gemeindelebens begannen, erschien vielen Juden nach den Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit geradezu frevelhaft.
Der unfaßbare Schrecken des Holocaust stellte auch die jüdische Theologie und Philosophie vor die Frage nach dem „warum?“
Theologen wie Ignaz Maybaum sahen das millionenfache Leiden und den Tod als Strafe Gottes für – von den Opfern allerdings nicht selbst begangene – Verfehlungen an: die Betroffenen gaben ihr Leben als Sühne für die Schuld der Menschheit insgesamt. In ähnlicher Weise hatte das Judentum von jeher versucht, die Katastrophen seiner Geschichte zu bewältigen. Schließlich geschah und geschieht nichts gegen den Willen Gottes, und schon für die Propheten galten die Widersacher Alt-Israels als Werkzeuge des Herren – also Hitler in einer Reihe mit Nebukadnezar und Titus?
Eine solche These erregte Widerspruch. Und für den radikalen Existentialisten Richard Rubenstein lautete die Antwort auf den Holocaust: Gott ist tot! Problematisch für das Judentum wurde in der Folgezeit eine Tendenz zur Mythologisierung des Völkermordes. An die Stelle des jüdischen Kultus rückte vielfach ein Bekenntnis zur jüdischen (Leidens-)Geschichte, aus der Historie erwuchs somit eine neue Identität ewige Leidender. Kritisch und provokativ hinterfragt der Publizist Rafael Seligmann diese „Reduzierung des Judentums auf eine immerwährende Trauer- und Leidensgemeinschaft“:
So tritt der Völkermord an die Stelle des religiösen Auserwähltheitsanspruchs, löst Adolf Hitler Gott als Schöpfer jüdischen Seins ab. Nach dem Völkermord der Nazis ist das Judentum am Ende dieses Jahrhunderts in eine nicht minder große, diesmal geistige Gefahr geraten. Nur – die gegenwärtige Bedrohung kommt aus den eigenen Reihen. Es ist die Versuchung, das Judentum abzukoppeln, es zur Gemeinschaft der Opfer zu minimieren. Die Identifizierung der Juden mit dem Holocaust aber wäre der endgültige Triumph Hitlers.“ *
Teilen auf
Neuen Kommentar hinzufügen