Ungarn unter Viktor Orbán fordert die Europäische Union heraus. Der ungarische Wissenschaftler Dániel Hegedüs beobachtet den Abbau der Demokratie in seinem Land sehr genau und warnt vor einer Befriedungspolitik gegenüber Ungarn. Insbesondere Deutschland steht in der Kritik.
Wie schätzen Sie die Lage in Ungarn ein?
Das Land steckt in einer fundamentale Demokratiekrise. In der EU wird zwar oft der Begriff „Rechtsstaatlichkeitskrise“ in Bezug auf Ungarn angewendet, dieser trifft heute aber nur begrenzt zu. Das Regime hat sich in den vergangenen sieben Jahren enorm verändert. Die liberale Demokratie in Ungarn ist durch ein hybrides Regime ersetzt worden. Solche Regime weisen sowohl demokratische als auch autokratische, autoritäre Merkmale auf.
Die Jahre 2012/2013 als „nur“ die liberale Verfassungsmäßigkeit, Rechtsstaatlichkeit und die „checks and balances“, also die Gewaltenteilung, im Visier der ungarischen Regierungspartei Fidesz und von Premierminister Viktor Orbán standen, sind schon lange vorbei. Das politische Spielfeld, die Bedingungen des politischen Wettbewerbs, sind heute so unausgewogen, und das im strukturellen und systematischen Sinne, dass Ungarn als ein Lehrbuchbeispiel für hybride Regime dienen könnte.
Was sind die wichtigsten Merkmale des politischen Systems?
Die Spielregeln und Charakteristiken des politischen Wettbewerbes folgen einem Ziel, nämlich den Machterhalt des Amtsinhabers zu sichern. Die Regeln der Wahlkampagne und der Kampagnenfinanzierung, die überwältigende Mediendominanz der Regierungskreise, der unbegrenzte Zugriff auf Finanzressourcen durch die politisch organisierten, zentralisierten Korruptionsstrukturen und die Aushöhlung der Verfassungsinstitutionen sichern einen enormen Vorteil für die Regierungsparteien im politischen Wettbewerb, der nicht mehr mit den Regeln des freien und fairen Wettbewerbs eines demokratischen Systems zu vereinbaren ist.
Daniel Hegedüs ist u.a. als Lehrbeauftragter am Osteuropa Institut der Freien Universität Berlin und als Forschungsberater für Freedom House tätig.
Aber gerade in diesen Punkten steuert die EU dagegen …
Das stimmt, aber nur bis zu einem gewissen Punkt. Zwar haben die Europäische Union und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EMRK) bisher für ein akzeptables Niveau der Grundrechte gesorgt, aber das sogenannte „Lex CEU“, das auf die Schließung der US-amerikanischen Central European University abzielt, und das neue Gesetz über die Transparenz vom Ausland finanzierter, zivilgesellschaftlicher Organisationen (Fremde-Agenten-Gesetz) markieren einen weiteren klaren Wendepunkt in der Dynamik des seit 2010 anhaltenden demokratischen Aushöhlungsprozesses in Ungarn.
Diese diskriminierende Gesetzgebung gegen eine Universität und die Einschüchterung der kritischen Zivilgesellschaft mit einem Gesetzentwurf, der sowohl inhaltlich, als auch stilistisch dem Muster des russischen „Fremde-Agenten-Gesetzes“ folgt, stellen solche unverhüllt autoritären Tendenzen dar, die die hybride, also nicht demokratische, Natur des Regimes unleugbar machen.
Sie sagen, der Verfall der Demokratie in Ungarn sei messbar. Wie messen Sie ihn?
Es gibt verschiedene wissenschaftliche Methoden dafür. Eine Möglichkeit sind qualitative Forschungsmethoden, die zum Beispiel Freedom House anwendet. Sie haben seit 2008 einen kontinuierlichen und seit 2010 einen steilen Rückfall der demokratischen Qualität in Ungarn festgestellt. Qualitative Forschungsmethoden sind ebenso wissenschaftlich wie quantitative Methoden, doch lassen sie mehr Interpretationsspielraum zu.
Wie sind Sie vorgegangen?
Wir wollten die endlosen einerseits-andererseits Debatten über die Lage der Demokratie in Ungarn vermeiden, als wir mit Democracy Reporting International (DRI) entschieden haben, den Rückgang der Demokratie in Ungarn durch quantitative Analysen zu demonstrieren. DRI hat im September 2016 eine Medien-Monitoring Analyse während der Kampagne für ein Referendum zur Quotenregelung für die Verteilung von Flüchtlingen innerhalb der EU durchgeführt. Im Ergebnis konnte die vollständig verzerrte und unausgewogene Berichterstattung der öffentlich-rechtlichen und regierungsnahen privaten Fernsehsender aufgedeckt werden.
Außerdem haben wir in öffentlichen Auftragsvergabestatistiken den Anteil der vier politisch stärksten Oligarchen untersucht. Diese zwei Bereiche, Medien und öffentliche Aufträge, haben eine besondere Bedeutung, weil der systematisch unausgewogene Zugang zu den Medien und zu Finanzressourcen, die für politische Zwecke einsetzbar sind, ein besonderes Charakterzeichen hybrider Regime darstellt.
In anderen Fällen haben wir die Rechtsprechung des ungarischen Verfassungsgerichtes mit Hilfe unserer ungarischen Partnerorganisation untersucht. Wir konnten statistisch nachweisen, dass vor allem die Besetzung des Gerichtes mit Richtern, die allein von Orbáns Regierungspartei Fidesz nominiert und gewählt wurden, dazu beigetragen hat, dass in politisch sensiblen Fällen das Verfassungsgericht seit 2013, also genau seitdem jene Richter die Mehrheit im Gericht stellen, seine Urteile tendenziell im politischen Interesse der Regierung trifft. Diese Analyse der Verfassungsgerichtsbarkeit demonstriert zusammen mit der Untersuchung der ungarischen Fallstatistiken des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte den Zerfall der Rechtsstaatlichkeit im engeren Sinne in Ungarn.
Wie stark ist der Verfall?
Stärker, als es wahrgenommen wird. Man kann ganz oft das Argument hören, dass die Lage der Demokratie nicht so schlimm sei, dass nur die Opposition zu schwach sei. Meiner Ansicht nach verbirgt sich hinter diesem Argument ein gravierendes Missverständnis. Wahr ist, dass die ungarischen Sozialisten und ihre Splitterpartei "Demokratische Koalition" unter der Führung von Ex-Premierminister Ferenc Gyurcsány bis heute unter einer enormen Legitimitäts- und Vertrauenskrise wegen ihrer Regierungsleistung zwischen 2002 und 2010 leiden. Dieses Erbe betrifft aber zum Beispiel sicher nicht die Grüne Partei LMP (Politik kann anders sein) und ihre Splitterpartei PM (Dialog für Ungarn).
Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie daraus?
Dass Oppositionsparteien ohne größere politische Last trotz einer sehr widersprüchlichen und oft abgelehnten Regierungspolitik nicht mehr Unterstützer gewinnen können oder sich kaum neue Akteure auf dem politischen Spielfeld etablieren können, lässt sich vor allem dadurch erklären, dass oppositionelle Politik in der Berichterstattung der Massenmedien kaum sichtbar oder überwiegend negativ dargestellt wird.
Hier lohnt ein Blick auf die OSZE-Medienanalyse in der Wahlkampagne 2014. Zudem wird der Zugang zu nötigen Ressourcen kaum gewährleistet. Zusammenfassend lässt sich der objektive Effekt des unausgewogenen politischen Spielfeldes kaum verleugnen. Er betrifft alle oppositionellen Akteure und wirkt sich negativ auf deren Präsenz auf der politischen Bühne aus.
Aber der Erfolg von Momentum scheint doch gegen Ihre Thesen zu sprechen?
Momentum ist eine junge Bewegung, die erfolgreich Stimmen gegen das Olympia-Projekt von Víctor Orbán gewinnen konnte. Insofern ist die Gründung von Momentum selbstverständlich ein positives Zeichen bezüglich der möglichen Mobilisierung von Ressourcen, doch das allein widerlegt die Analyse oben nicht.
Wie erlebt die ungarische Bevölkerung den Abbau demokratischer Werte im Alltag?
Es ist fast unmöglich, eine repräsentative Antwort auf diese Frage zu geben. Die Politikverdrossenheit in Ungarn ist ziemlich hoch, 35 bis 42 Prozent aller Wahlberechtigten sind passiv und verfügen über keine politischen Präferenzen. Die Unterstützung der Regierungspartei Fidesz variiert zwischen 25 und 30 Prozent aller Wahlberechtigten.
Die Strategie des Fidesz ist einfach. Er möchte die aktivste, gut mobilisierbare Wählerbasis aufrecht erhalten, die noch eine relative Stimmenmehrheit ermöglicht. Hingegen sollen die Bevölkerungsschichten, die mit möglichen Proteststimmen die Opposition unterstützen könnten, weitgehend politisch demobilisiert und in Passivität gehalten werden.
Die Transformation der relativen Mehrheit von Stimmen in eine absolute Mehrheit der Mandate ist die Aufgabe des Wahlsystems. Doch wenn das System längerfristig keinen Machtwechsel durch Wahlen zulässt, dann kann es durchaus zu schnell zunehmenden Protesten und einer raschen politischen Mobilisierung kommen, die auch zu Farbrevolutionen führen könnten.
Der EU wird insbesondere im Westen eine Befriedungspolitik vorgeworfen, die den Abbau der Demokratie in Ungarn fördert. Was denken Sie?
Unter den europäischen Partnern und in den europäischen Institutionen herrscht meiner Meinung nach ein klares Missverständnis über die politische Situation in Ungarn und ebenso eine Fehlinterpretation der eigenen Möglichkeiten und des Bewegungsspielraumes. Ganz oft nutzt man das österreichische Beispiel als Argument, wonach ein zu starkes Eingreifen aus Brüssel die gesellschaftliche Unterstützung des europäischen Projektes in dem betreffenden Mitgliedsland langfristig untergräbt.
Doch Ungarn ist nicht Österreich. Die schablonenmäßige Wiederholung der mit Österreich nach 2000 gesammelten Erfahrungen ist oberflächlich und zeigt die mangelnde Kenntnis der Situation in Ungarn. Selbst nach den offiziellen Eurobarometer-Umfragen ist die ungarische eine der pro-europäischsten Gesellschaften in der EU. Die Ungaren sind sich sehr bewusst über die Abhängigkeit ihres Landes von der EU, über die enorme Summe und Bedeutung der finanziellen Leistungen, die es jährlich von der EU erhält und über die Tragweite ebenso wie die Alternativlosigkeit der wirtschaftlichen Verknüpfungen mit dem Binnenmarkt.
Nicht zufällig möchte die ungarische Regierung die pro-europäische Haltung der Bevölkerung mit unterschiedlichen Kampagnen und Konsultationen in eine negative Richtung beeinflussen. Doch die Ergebnisse dieser Anstrengungen blieben bis heute eher moderat. Der einzig wahre politische Verlierer einer politischen Konfrontation mit der EU wäre also die ungarische Regierung.
Und doch ist die Stimmung gegenüber der EU nicht gerade auf einem Hoch...
Was heute die Glaubwürdigkeit und Unterstützung der Europäischen Union in der ungarischen Gesellschaft eher untergräbt, ist der unentschiedene Standpunkt und das inkonsequente und ineffektive Handeln der Europäischen Union gegenüber der ungarischen Regierung. Es entsteht der Eindruck, dass sich die EU ohne Konsequenzen regelmäßig provozieren und austricksen lässt.
Man muss auch deutlich sagen, dass die Befriedungspolitik nicht in erster Linie von den europäischen Institutionen, sondern von den Mitgliedstaaten ausgeht, unter anderem sehr stark von Deutschland. Das Europäische Parlament ist führend in der Kritik gegenüber Budapest. Das Verhalten der Europäischen Kommission kann zwar kritisch beobachtet werden, doch es sind letztendlich die Mitgliedstaaten, die ein härteres Vorgehen gegenüber Ungarn sowohl seitens der Kommission, als auch seitens der EU als ganze bisher verhindert haben.
Besteht noch Hoffnung für die Demokratie in Ungarn oder ist der Autoritarismus die Zukunft?
Als europäischer Bürger und Demokrat möchte ich nicht daran glauben, dass Autoritarismus die Zukunft für Ungarn oder irgendeines anderen EU-Mitgliedsstaates bedeutet. Doch die europäischen Partner und Institutionen müssten endlich erkennen, dass es sicher viel politisches Kapital und Zeit braucht, dass es auch schmutzig und unangenehm werden kann, aber je früher sie handeln, desto besser wird ihre Kosten-Nutzen-Rechnung am Ende ausfallen.
Außerdem birgt das Nicht-Handeln längerfristig größere Risiken, als eine politische Intervention gegen die ungarische Regierung. Wenn nämlich die demokratischen Spielregeln nicht aufrechterhalten werden können, dann untergräbt das langfristig die Legitimität der Europäischen Union als eine demokratische Wertegemeinschaft.
Wie weit sollte die EU gehen? Den Austritt Ungarns aus der Gemeinschaft riskieren…
Ungarn loszuwerden, ist keine realistische Option. Erstens, zehn Millionen ungarische BürgerInnen haben einen Rechtsanspruch auf die europäische Staatsangehörigkeit. Sie sind Unionsbürger. Zudem sorgt die EU-Mitgliedschaft Ungarns dafür, dass die demokratischen Grundrechte nicht völlig ausgehebelt werden.
Zweitens, ein EU-Austritt oder -ausschluss Ungarns könnte kurzfristig dazu führen, dass Hunderttausende das Land noch im letzten Augenblick verlassen, solange sie noch von ihrer Bewegungsfreiheit Gebrauch machen können. Viele, die andere Sprachen beherrschen, über eine wettbewerbsfähige Qualifikation verfügen und für ihre Kinder eine europäische Zukunft sichern möchten, werden diesen Weg gehen.
Drittens, ein Ausschluss oder Austreten Ungarns würde schon kurz- oder mittelfristig zu einem Zusammenbruch der exportorientierten ungarischen Wirtschaft und dadurch zur ökonomischen und gesellschaftlichen Destabilisierung des Landes führen, was aus geopolitischen Gründen nicht in Interesse der EU steht. Die Krankheit des ungarischen Patienten muss also innerhalb der EU geheilt werden. Je früher die Behandlung anfängt, desto geringer sind die Kosten und Risiken.
Vielen Dank für das Gespräch.
Landeszentrale, Juni 2017
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