Die Erinnerung an den 17. Juni 1953 scheint automatisiert. Vieles wird nur wiederholt, so Martina Weyrauch. Die Leiterin der Brandenburgischen Landeszentrale wendet sich gegen politische Rituale und setzt auf das Interesse der Bürger vor Ort an der eigenen Geschichte und auf neue Fragestellungen.
Was bisher geschah
Am 16. und 17. Juni 1953 erhoben sich in über 600 Orten der DDR mehr als eine Million Menschen, um gegen die SED-Diktatur zu demonstrieren. Sie forderten freie Wahlen und Demokratie, verbesserte Lebens- und Arbeitsbedingungen und die Deutsche Einheit. Der Aufstand wurde von sowjetischen Panzern blutig niedergeschlagen, die Anführer der Streikbewegung, die sich schließlich zum Volksaufstand entwickelte, wurden verhaftet; mehr als 50 Todesopfer waren zu beklagen. Während der Aufstand in der Bundesrepublik als Signal gegen die Diktatur in der DDR verstanden und nur wenige Wochen nach dem Aufstand der 17. Juni zum Tag der Deutschen Einheit erklärt wurde, wurden die Aufständischen in der DDR verfolgt und verfemt, der Aufstand selbst als faschistischer Putsch diffamiert ...
So oder ähnlich wurde und wird immer wieder in unzähligen Statements, Ankündigungen und offiziellen Einladungen der 17. Juni 1953 beschrieben. Gut und Böse, Abschreckung und Vorbild werden klar festgelegt. Man beginnt zu gähnen und fürchtet sich vor den offiziellen Sonntagsreden.
Aktuelle Fragen
Dabei ist das Ereignis selbst, der Volksaufstand noch immer hochaktuell, betrifft es doch die Geschichte - und damit auch ein stückweit die gegenwärtige Identität - vieler Ostdeutscher. Langweilig ist das ganz gewiss nicht. Die Aufregung, die Irritation, die Neugier beginnen, wenn man hinter diese Fassade des offiziellen Gedenkens, der Rituale und der in Stein gemeißelten „Wahrheiten“ schaut.
Warum richteten sich die stalinistischen Diskriminierungen im Vorfeld des 17. Juni 1953 gegen junge Christinnen und Christen, gegen diakonische Anstalten, gegen Bäuerinnen und Bauern, Selbständige im Einzelhandel und Unternehmerinnen und Unternehmer? Warum wurden auch diese als „Feinde des Systems“ betrachtet? Wie sah die wirtschaftliche und politische Lage in den verschiedenen Regionen der DDR eigentlich aus?
Spannend sind auch Fragen, die den bisherigen Blick erweitern. So zum Beispiel die Perspektive junger Frauen, die nach dem "Geschlecht" des Volksaufstandes fragen:
In der Erinnerung und auch in der wissenschaftlichen Forschung erscheint der Volkaufstand als Männerdomäne. Es geht um Bauarbeiter, die Protestresolutionen verfassen und zum Streik aufrufen, um Stahlarbeiter, die sich von Hennigsdorf auf den Weg nach Ost-Berlin machen, und um Streikführer, die mutig vorangehen und dafür auch ihr Leben riskieren. Auf Regimeseite zeigt sich ein ähnlich männliches Bild. Und auch in der Geschichtsschreibung zum Volksaufstand sind kaum Autorinnen zu finden. Ist der 17. Juni männlich oder wird er nur männlich erzählt? Es lohnt sich, einen Blick darauf zu werfen, in welchen Rollen Frauen am 17. Juni 1953 in Erscheinung traten.*
Löst man sich vom deutschen Fokus stellt man fest, wie sehr der 17. Juni 1953 von Entwicklungen in Osteuropa, insbesondere der Sowjetunion beeinflusst war. Was hatte das mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Aufteilung der Welt in feindliche Lager, dem Kalten Krieg zu tun? Welche Rolle spielten die westlichen Alliierten und die damalige Bundesregierung?
Wussten Sie, dass es Egon Bahr, dem damaligen Chefredakteur des RIAS und späteren Vordenker und Mitgestalter der neuen Ostpolitik Willy Brandts, zu verdanken ist, dass gegen schwerste Bedenken der US-Militäradministration der Aufruf der streikenden Arbeiter im Westberliner RIAS - dem "Radio im Amerikanischen Sektor" - verlesen wurde? Damit wurden auch durch das freie Wort die Aktionen Einzelner zur Volkserhebung in der ganzen DDR. Egon Bahr musste sich von der US-Kommandantur anhören, der RIAS wolle den dritten Weltkrieg heraufbeschwören. Warum wollten die Westalliierten trotz gegenteiliger Beteuerungen eben nicht aus der Zuschauerrolle heraustreten? Stand die Gefahr eines dritten Weltkriegs wirklich im Raum?
Menschen scheinen eher zu leiden als sich zu wehren - jedenfalls soweit es um gemeinsame Aktionen geht. Dass Menschen kollektiv den Aufstand wagen, ist eher selten. Wann sie es doch tun, hat der Historiker Falco Werkentin für den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 untersucht.
Leben Zeitzeugen auch in Ihrem Ort, in Ihrer Stadt?
Für die Ostdeutschen von besonderem Interesse sind Fragen, die die eigene Region betreffen. Wer waren die Aufständischen im Osten Deutschlands? Leben noch Zeitzeugen in Ihrem Ort, in Ihrer Stadt und wofür traten sie genau ein. Was sagt Ihnen das heute? An welche Forderungen für eine freie, gerechte Gesellschaft kann jeder von uns heute anknüpfen, weil sie auch heute noch der Erfüllung harren? Antworten darauf gibt es noch längst nicht überall.
Jahrelang diente der 17. Juni 1953 im Westen Deutschlands zur staatsoffiziellen Mahnung an den Volksaufstand. Er wurde zum „Feiertag der deutschen Einheit“ und die westdeutsche Bevölkerung fuhr ins Grüne. Als die Deutsche Einheit 1990 in Folge der Friedlichen Revolution 1989 in der DDR glücklich erreicht wurde, wurde der 17. Juni als Feiertag gestrichen und der nichtssagende 3. Oktober zum „Tag der Deutschen Einheit“. Auch das gehört zu den Merkwürdigkeiten der deutschen Geschichte.
Neue Zugänge zur Geschichte
Wenn politisch-historische Bildung heißt, dass wir uns fit machen, damalige Konstellationen, Konflikte, Gefühle und Einsichten für uns produktiv zu machen, gibt es keine unumstößlichen Aussagen.
Im Prozess des Erforschens und Erkennens nähern wir uns immer wieder neu und neugierig der Geschichte, sehen, was der Einzelne mit Zivilcourage erreichen kann, aber auch, wie er irren und scheitern kann. Dass auch ein Comic zu diesen neuen, anderen Zugängen zählen kann, zeigt die (fiktive) Geschichte von Armin und Eva sehr anschaulich, die in Hennigsdorf spielt, aber auch überall in der DDR hätte stattfinden können.
Welche Fragen bleiben unbequem? Welche Kontroversen bleiben schmerzhaft offen? Das zu betrachten, macht Geschichte so aufregend und Ereignisse wie den 17. Juni 1953 nicht nur zu Jahrestagen hochaktuell.
Martina Weyrauch, Juni 2011 (zuletzt bearbeitet: Juni 2020)
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