Am 14. Juni 1992 gaben sich die Brandenburger per Volksentscheid ihre eigene Verfassung. Was ist eine Verfassung und wozu ist sie nütze?
Am 14. Juni 1992 gaben sich die Brandenburger Bürgerinnen und Bürger im letzten Schritt per Volksentscheid ihre eigene Verfassung. Damit hatte Brandenburg das Rennen um die schnellste Ausarbeitung einer Landesverfassung in den fünf neuen Bundesländern für sich entschieden.
Die Verfassung bezeichnet die Grundordnung eines politischen Gemeinwesens. Sie beschreibt die Organisation des Staatsaufbaus, regelt die Kompetenzen der Staatsgewalten untereinander und legt die wichtigsten Rechte und Pflichten zwischen Staat und Bürgern fest. Die Verfassung steht über allen anderen staatlich geschaffenen Rechten und kann in den meisten Fällen nur mit einer Zweidrittelmehrheit geändert werden.
Vollverfassungen, wie beispielsweise das Grundgesetz und auch die Brandenburger Verfassung, enthalten weiterhin Freiheits- und Grundrechte.
Die Brandenburger Verfassung war die erste Vollverfassung in einem deutschen Bundesland seit 1949. Sie zeichnet sich durch einige Eigenschaften aus, die sie von den anderen Bundesländern unterscheidet. Das hängt vor allem mit den Umständen zusammen, unter denen sie entstanden ist.
Interview mit der Brandenburger Verfassung
Was ist eine Verfassung und wozu ist sie nütze? Darauf antwortet die Verfassung gern selbst.
Sie orientiert sich unter anderem an der demokratischen Tradition Preußens, an der Verfassung Brandenburgs vom Februar 1947 und ist stark von den Erfahrungen und auch den Emotionen der Wendezeit geprägt. Sie sollte kein reines Organisationsstatut sein, sondern das Selbstverständnis eines neuen, freien, demokratischen Brandenburgs ausdrücken.
Wir, die Bürgerinnen und Bürger des Landes Brandenburg, haben uns in freier Entscheidung diese Verfassung gegeben, im Geiste der Traditionen von Recht, Toleranz und Solidarität in der Mark Brandenburg, gründend auf den friedlichen Veränderungen im Herbst 1989, von dem Willen beseelt, die Würde und Freiheit des Menschen zu sichern, das Gemeinschaftsleben in sozialer Gerechtigkeit zu ordnen, das Wohl aller zu fördern, Natur und Umwelt zu bewahren und zu schützen, und entschlossen, das Bundesland Brandenburg als lebendiges Glied der Bundesrepublik Deutschland in einem sich einigenden Europa und in der Einen Welt zu gestalten.“ (Präambel der Brandenburger Verfassung)
Seit ihrem Inkraftreten 1992 wurde die Verfassung zehn Mal geändert. Meist waren es Kleinigkeiten wie nötige sprachliche Aktualisierungen. Größere Änderungen waren 2011 die Einführung des Wahlalters ab 16 Jahren und die Festschreibung der Antirassismus-Klausel im Jahr 2013.
Am 23. Juni 2022 beschloss der Brandenburger Landtag eine weitere Änderung der Verfassung. In Artikel 7a wurden der Kampf gegen Antisemitismus und Antiziganismus als Staatsziele in der Verfassung verankert. Zudem wird die Verfassung geschlechtergerecht umformuliert und der Schutz der niederdeutschen Sprache verankert.
Turbulenter Anfang
Vorbilder | Akteure | Entwicklungen in den drei Lesungen
Die Verfassungsgebung in den fünf neuen Bundesländern verlief im Allgemeinen in drei Phasen. Die erste Phase war geprägt von rechtlich ungeordneten Verfassungsdiskussionen. Sie fanden noch außerhalb der Parlamente statt und wurden durch die Friedliche Revolution ausgelöst. In dieser Phase wurden schon erste Verfassungsentwürfe erarbeitet, die später zu einer wichtigen Grundlage für die weitere Entwicklung wurden.
Dr. Hans-Otto Bräutigam, Brandenburgischer Justizminister von 1990-1999, Redebeitrag während der 2. Lesung der Verfassung im Landtag, März 1992
Im zweiten Schritt übertrugen die neu entstandenen Länder in formalen Verfahren den Verfassungsausschüssen und Kommissionen die Aufgabe, neue Verfassungen zu erarbeiten. Die dritte und letzte Phase umfasste die Verabschiedung der Verfassungen durch das Parlament und gegebenenfalls oder direkt durch die Bürgerinnen und Bürger per Volksentscheid.
Im Sommer 1989 erreichte die Protest- und Fluchtbewegung in der ehemaligen DDR ein nie gekanntes Ausmaß. Es kam zu Demonstrationen in Berlin, Dresden, Halle, Jena, Leipzig, Magdeburg und Potsdam. Neu gegründete Bürgerinitiativen wie „Neues Forum“, „Demokratie jetzt“ oder „Initiative Frieden und Menschenrechte“ forderten vehement die Demokratisierung von Staat und Gesellschaft. Sie waren später ein wesentlicher Bestandteil der sogenannten Runden Tische.
Die Friedliche Revolution und das Ende der Teilung der beiden deutschen Staaten kamen für die Bevölkerung in Ost und West überraschend. Fieberhaft wurde kontrovers diskutiert ob und wie die deutsche Einheit zu vollziehen sei. In der DDR wurde 1989 noch überlegt die Verfassung zu reformieren und sie demokratisch zu gestalten. Regionale Runde Tische und vor allem der Zentrale Runde Tisch in Ostberlin erarbeiteten dazu schon Vorschläge und Entwürfe. Schnell zeichnete sich jedoch der Weg zu einem geeinten Deutschland ab. Das Grundgesetz sah dazu zwei Möglichkeiten vor. Einmal den Beitritt nach Artikel 23, indem die DDR dem Gebiet der Bundesrepublik beitreten würde oder die Einheit durch eine gesamtdeutsche Verfassung nach Artikel 146.
Am 18. März 1990 kam es zu der ersten freien Volkskammerwahl in 40 Jahren DDR-Geschichte. Unter Lothar de Maizière (CDU) bildete sich eine neue DDR-Regierung, die nur noch das staatliche Ende der DDR zu verwalten hatte. Sie vereinbarte Ende April mit der Bundesregierung die Einführung der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion zum 1. Juli 1990 sowie Ende August den „Vertrag über die Herstellung der Einheit Deutschlands“.
Aufgrund dieses Einigungsvertrages traten die fünf Länder der DDR, die zuvor wieder an die Stelle der Bezirke getreten waren, am 3. Oktober 1990 der Bundesrepublik Deutschland und dem Geltungsbereich des Grundgesetzes bei. Die Bundesrepublik Deutschland gesteht seinen Ländern ein Selbstorganisationsrecht und eine Verfassungsautonomie zu. Sie haben die Möglichkeit, sich selbst eine Verfassung zu geben. Das sollte auch für die fünf neuen Bundesländer gelten.
Während dieser aufregenden bundespolitischen Ereignisse, tat sich auch in den Ländern einiges. Der Wunsch nach belastbaren, geordneten und verlässlichen Verhältnissen war groß. Von Januar bis September des Jahres 1990 tagte in Brandenburg unter dem Namen AG Landesverfassung, eine Gruppe von Juristen, die zwei erste Verfassungsentwürfe erarbeiteten sollten.
Hilfe bekamen sie dabei unter anderem von Rechtsexperten aus Nordrhein-Westfalen, die sie in der schwierigen Materie der Verfassungsgesetzgebung unterstützten. Noch heute besteht eine enge Partnerschaft zwischen den beiden Bundesländern. Der erste der beiden Entwürfe wurde am 22. April 1990 veröffentlicht und rege diskutiert. Es fand ein offener gesellschaftlicher Diskurs über Verfassungsfragen statt. Die Beteiligung der Bevölkerung war dabei ausdrücklich erwünscht und – was entscheidender ist – möglich.
Die eingehenden Anregungen und Änderungswünsche flossen direkt in den zweiten Entwurf ein, der schließlich im September 1990 veröffentlicht wurde. Die Parteien in Brandenburg verzichteten, im Gegensatz zu anderen Ländern, auf eigene Verfassungsentwürfe, was das Verfahren beschleunigte. Der zweite Entwurf diente zusammen mit dem Verfassungsentwurf des Zentralen Runden Tisches schließlich als Grundlage für die parlamentarischen Beratungen.
Stanislaw Lec (*1909 †1966)
Polnischer Lyriker und Aphoristiker
Parallel gab es mit dem Verfassungsgesetz zur Bildung von Ländern in der DDR vom Juli 1990 den offiziellen Auftrag zum Aufbau eines neuen Bundeslandes. Am 14. Oktober erfolgten in Brandenburg die ersten freien, demokratischen Landtagswahlen. Die Arbeit des Landtages richtete sich zu diesem Zeitpunkt noch nach einem eilends abgeschlossenen sogenannten Arbeitsfähigkeitsgesetz. Dieses kleine Organisationsstatut regelte vorläufig die Arbeitsweise des Landtages. Am 13. Dezember beschloss der Landtag das Gesetz zur Erarbeitung einer Verfassung. Nur in Brandenburg war gesetzlich geregelt, dass die Verfassungsentwürfe durch einen Verfassungsausschuss zu erarbeiten sind. Das Verfahren in den anderen neuen Bundesländern richtete sich jedoch auch ohne formales Gesetz danach.
Nach dieser Vorphase begann am 31. Januar 1991, mit der Einberufung eines Verfassungsausschusses durch den Landtag, die eigentliche Arbeit an der Brandenburger Verfassung. Dem Ausschuss gehörten 15 Parlamentarier und, bis zur Vorlegung des zweiten Entwurfs im Dezember 1991, ebenso viele Personen des öffentlichen Lebens an. Darunter waren Lehrer, Pfarrer und juristische Sachverständige.
Dies war der Tradition der Runden Tische geschuldet, die eine breite Beteiligung der Bevölkerung am politischen Prozess vorgelebt hatten, um möglichst viele Interessen zu vertreten. Die Nichtparlamentarier wurden von den Parteien benannt. Die Besetzung erfolgte im Kräfteverhältnis der im Landtag vertretenen Fraktionen. Im März 1991 wurden zwei Unterausschüsse gebildet, die Formulierungsvorschläge erarbeiteten und die inhaltliche Diskussion im Hauptausschuss vorbereiteten. Der Unterausschuss I beschäftigte sich mit den Grundrechten und Staatszielen. Der Unterausschuss II erarbeitete die Formulierungen für die Staatsorganisation.
Der erste Entwurf dieses Ausschusses, auch Zwischenentwurf genannt, wurde der Öffentlichkeit in der Zeit vom 31. Mai bis zum 15. September 1991 zur Diskussion vorgelegt. Er enthielt neben mehrheitlich beschlossenen Formulierungen auch Alternativvorschläge und Minderheitenmeinungen, was die demokratische Vielfältigkeit und die Bemühungen um Konsens betonte. Die Bürgerinnen und Bürger wurden aufgefordert zu dem Entwurf Stellung zu nehmen und gegebenenfalls neue Anregungen zu äußern. Durch die Beteiligung sollte die Identifikation mit der Verfassung gestärkt werden.
Die 500 daraufhin eingehenden Kommentare der Bevölkerung und Verbände wurden bei den weiteren Beratungen berücksichtigt. In welchem Maße genau geht nicht aus den Protokollen hervor. In der ersten Lesung wurde allerdings betont, dass in drei wesentlichen Punkten den Wünschen der Bevölkerung entsprochen wurde: ausgeweitete demokratische Beteiligung, Drängen nach sozialer Gerechtigkeit und gesteigertes Umweltbewusstsein.
Es folgten weitere harte Debatten und Bemühungen kompromissfähige Lösungen zu finden, wodurch der Entwurf zahlreiche Änderungen und Überarbeitungen erfuhr. Im Dezember 1991 wurde schließlich dem Landtag von den Fraktionen der SPD, PDS, FDP und des Bündnis 90 ein überarbeiteter Entwurf vorgelegt. Dieser enthielt weiterhin zahlreiche Alternativvorschläge bei Formulierungen, zu denen im Ausschuss keine Einigung erzielt werden konnte. Die CDU stimmte als einzige Partei dem Entwurf nicht zu und formulierte zahlreiche Änderungsanträge.
Nach dem Ende der Zusammenarbeit im Dezember 1991 und der Abgabe eines endgültigen Entwurfs wurde der Ausschuss neu gebildet und bestand von da an nur noch aus Abgeordneten des Landtages. Die Arbeit der Nichtparlamentarier wurde jedoch durchweg und von allen Parteien in den weiteren drei Lesungen gelobt. Der Verfassungsausschuss tagte in der Zeit vom 22. Februar bis zum 13. Dezember 1991 in insgesamt zwölf Sitzungen.
Der nun vorgelegte Entwurf durchlief im Landtag zwischen dem 19. Dezember 1991 und dem 14. April 1992 insgesamt drei Lesungen. Diese parlamentarischen Debatten der Landtagsfraktionen wurden von vielzähligen Änderungsanträgen geprägt, in denen vor allem um die Formulierung einzelner Artikel der Verfassung gestritten wurde. Parteipolitische Auseinandersetzungen wurden dabei immer deutlicher.
Nach der ersten Lesung beispielsweise wurde der Verfassungsentwurf an den Verfassungsausschuss zurück überwiesen, um die fast 100 Änderungsanträge der Fraktionen zu beraten. Bis zur zweiten Lesung am 25. März 1992 kam es wieder zu umfangreichen Änderungen am Wortlaut der Verfassung.
Der Entwurf wurde anschließend wieder an den Ausschuss zurückgegeben, um eine abschließende Kompromissfindung mit der CDU zu erreichen. Die Stimmen der CDU-Abgeordneten waren für die nötige 2/3 Mehrheit zur Verabschiedung der Verfassung entscheidend. Dies wurde durch interne Konflikte innerhalb der Partei erschwert.
Am 14. April 1992 verabschiedete der Brandenburger Landtag in dritter Lesung die Verfassung mit der Mehrheit von 72 von 87 Abgeordneten. 15 Abgeordnete der CDU stimmten gegen die Verfassung oder enthielten sich.
Die endgültige Entscheidung behielt das Parlament jedoch einem geplanten Volksentscheid vor, der am 14. Juni erfolgte. Bei einer Abstimmungsbeteiligung von 48 Prozent der Stimmberechtigten entschieden sich die Bürgerinnen und Bürger mit 94 Prozent für die neue Verfassung.
Am 21. August 1992 trat die Brandenburger Verfassung schließlich als Vollverfassung in Kraft. Sie organisierte in 117 Artikeln dabei nicht nur den Staatsaufbau und die Funktionen der einzelnen Staatsorgane, sondern formulierte zusätzlich auch Grundrechte und Staatsziele sowie eine Kultur-, Sozial- und Wirtschaftsordnung.
Im Zuge der Wiedervereinigung gaben sich alle fünf neuen Bundesländer zwischen 1992 und 1994 eine Verfassung, wobei die Landtage als verfassungsgebende Versammlungen dienten. Brandenburg agierte dabei am schnellsten.
Vorbilder
Die Brandenburger Verfassung hatte viele Einflüsse. Einiges übernahm sie aus den alten Bundesländern, z. B. aus der Verfassung von Schleswig-Holstein. Dort kam es 1990 zu einer Verfassungserneuerung. Sie beeinflusste die Brandenburger Verfassung vor allem im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Landtag und Landesregierung sowie die Volksgesetzgebung. Den größten Einfluss hatten die alte Verfassung Brandenburgs von 1947, der Verfassungsentwurf des Zentralen Runden Tisches und das Grundgesetz.
Prof. Dr. Jutta Limbach, Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts a. D., Festrede anlässlich des 5. Jahrestages der Verfassung, August 1997
Zusätzlich gab der Einigungsvertrag zwischen der DDR und der Bundesrepublik einen rechtlichen Rahmen vor, der die politischen Möglichkeiten einschränkte. Auch aus anderen Verfassungen, die nach Revolutionen entstanden, wurde während der Beratungen gerne und viel zitiert. Die freiheitlichen und demokratischen Ideale der amerikanischen, der französischen und auch der deutschen Revolution von 1848, prägten die Verhandlungen zur Brandenburgischen Verfassung.
Verfassung von 1947
Die Verfassung für die Mark Brandenburg vom 6. Februar 1947 entstand maßgeblich unter dem Einfluss der Folgen des Zweiten Weltkriegs und der sowjetischen Besatzungsmacht. Sie orientierte sich größtenteils an der Weimarer Verfassung, war mit 69 Artikeln auffällig kurz und in vielen Bereichen schlicht formuliert. Doch enthielt auch sie schon einen Grundrechtskatalog, wenn auch einen überschaubaren. In Artikel 6 sind elf Grundrechte festgeschrieben, die auf Drängen der bürgerlichen Parteien als individuelle Schutzrechte gegenüber der Staatsgewalt eingefügt worden waren. Das rettete die Verfassung jedoch nicht. Nach vielen Verfassungsbrüchen verlor sie bereits nach fünf Jahren ihre Gültigkeit.
Im Juli 1952 wurde die Brandenburgische Verfassung mit einem Gesetz über die weitere Demokratisierung des Aufbaus und der Arbeitsweise der staatlichen Organe der Länder der DDR (Neugliederung der DDR) außer Kraft gesetzt. Die Länder wurden angewiesen in ihren Bereichen, Kreise und Bezirke zu bilden. Ohne förmliche Änderung der Verfassung der DDR, hörten die Länder praktisch auf zu existieren.
Obwohl die alte Landesverfassung von 1947 nur knapp fünf Jahre Bestand hatte, finden sich in den ersten Entwürfen zur neuen Verfassung deutliche Spuren von ihr. Schnell wurde jedoch klar, dass viele Formulieren zu veraltet oder stark von der nationalsozialistischen Vergangenheit sowie der sowjetischen Besatzung beeinflusst waren. Als Grundlage für eine moderne demokratische Verfassung rückten stattdessen das Grundgesetz und die Verfassung des Runden Tisches in den Vordergrund. Beibehalten wurden jedoch die direktdemokratischen Elemente, die in Artikel 36 der Verfassung von 1947 festgehalten waren.
Verfassung des Zentralen Runden Tisches
In der turbulenten Wendezeit war zunächst nicht ganz klar, wie es mit der DDR weitergehen sollte. Anfang Dezember 1989 trat zum ersten Mal der Zentrale Runde Tisch in Berlin-Niederschönhausen zusammen. Ihm gehörten die um Reformen bemühten Parteien, Vertreter der Kirchen und Vertreter der verschiedensten Oppositionsgruppen an. Gleichzeitig gründeten sich überall regionale Runde Tische. Sie füllten das durch den Zerfall der SED-Herrschaft entstandene Machtvakuum. Die Runden Tische wurden zu angesehenen Repräsentations- und Legitimationsplattformen und übernahmen die Gestaltung in der Übergangszeit.
Die regionalen Runden Tische und auch der Zentrale Runde Tisch in Berlin waren vor allem von den Ideen der Bürgerbewegung geprägt. So enthielten sie viel von der demokratischen und partizipatorischen Lebendigkeit, die durch die monatelangen Demonstrationen errungen wurde. Das Demokratieprinzip wurde durch umfassende demokratische Teilhaberechte stark betont.
Der Zentrale Runde Tisch leitete unter anderem die Auflösung der Staatssicherheit ein und fing an, mit der Hilfe von westdeutschen Experten, Verfassungsentwürfe zu erarbeiten. Er beriet aus diesem Grund zunächst über Landesverfassungen für die noch bestehenden Bezirke der DDR. Auch eine neue demokratische Verfassung der DDR wurde diskutiert. Die Arbeitsgruppe „Neue Verfassung der DDR“ legte dazu im April 1990 einen Entwurf vor.
In 136 Artikeln wurde versucht, eine wirklich demokratische, unabhängige, sozialstaatlich wie ökologisch orientierte DDR zu gestalten. Das Parlament und seine Ausschüsse sollten beispielsweise öffentlich tagen (Artikel 59). Jeder Bürger hatte das gleiche Recht auf politische Mitgestaltung (Artikel 21). Bürgerbewegungen standen unter dem besonderen Schutz der Verfassung und hatten Vortragsrecht im Parlament (Artikel 35). Auch die direkte Demokratie wurde großgeschrieben und sollte unbedingt ihren festen Platz in der Verfassung bekommen. Sowohl auf Landes- als auch auf Bundesebene. Die Annahme der Verfassung bedurfte der Bestätigung durch einen Volksentscheid (Artikel 135), ebenso jede Verfassungsänderung (Artikel 100).
Als sich im Verlauf des Frühjahrs 1990 die deutsche Einheit immer klarer abzeichnete, wurden diese ersten Entwürfe und Überlegungen für die Landesverfassungen genutzt, jedoch stärker an den Homogenitätsansprüchen des Grundgesetzes ausgerichtet. Trotz alledem hatte der Verfassungsentwurf des Zentralen Runden Tisches großen Einfluss auf die spätere Arbeit der Verfassungsausschüsse und Kommissionen.
Aus westdeutscher Sicht wurden diese Verfassungsentwürfe häufig als „Verfassungsromantik“ oder „Verfassungslyrik“ kritisiert, ohne die besonderen ostdeutschen Befindlichkeiten zu berücksichtigen. Die Bevölkerung sah sich nach 56 Jahren der Diktatur und repressiven Systemen, zuerst unter den Nationalsozialisten, dann als Satellitenstaat der Sowjetunion, endlich in der Lage, sich eine wirklich demokratische Staatsordnung zu geben. Da ist es nicht verwunderlich, dass starke Mitbestimmungsrechte ein wesentlicher Bestandteil der neuen Verfassungen sein sollten.
Obwohl der abschließende Entwurf von allen Parteien und Gruppierungen des Zentralen Runden Tisches unterzeichnet wurde, war er von den politischen Ereignissen überholt worden. In der Volkskammer der DDR existierte kein politischer Wille oder eine parlamentarische Mehrheit für eine eigenständige Verfassung. Dem Runden Tisch blieb die Aufgabe, die ersten freien Wahlen zur Volkskammer am 18. März 1990 mit zu organisieren.
Der lange Arm des Grundgesetzes
Das Grundgesetz hatte wohl den größten Einfluss auf die Brandenburger Verfassung, da sich die Bundesländer nach den wesentlichen Rechten des Bundesstaates richten müssen. Nach Artikel 28, Absatz 1 GG sind das Demokratieprinzip, der soziale Rechtsstaat und die Wahlrechtsgrundsätze für die Länder verpflichtend. Demnach kann die verfassungsgebende Gewalt nur durch das Volk selbst oder durch eine aus unmittelbaren Wahlen hervorgegangene repräsentative Versammlung ausgeübt werden. Das wurde in allen neuen Bundesländern durch die Bildung von Verfassungsausschüssen gewährleistet.
Die noch recht idealistischen Entwürfe der Runden Tische durchliefen in der weiteren Verfassungsarbeit zunehmend Reifungsprozesse. Anfänglich waren die Entwürfe durchaus auch als Gegenentwurf zum Grundgesetz gedacht. Nicht um es außer Kraft zu setzen, sondern um sinnvolle Erweiterungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Durch die absehbare Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten wurden die Entwürfe der Landesverfassungen jedoch immer stärker dem Grundgesetz angepasst. Vor allem in den späteren Phasen gewann das westdeutsche Verfassungsrecht zunehmend an Bedeutung, was zu bedauerlichen Abschleifungsprozessen, gerade im Bereich der Bürgerbeteiligung, führte.
Ein großer Streitpunkt war die Einführung direktdemokratischer Elemente auf Bundesebene, die in dem Verfassungsentwurf des Zentralen Runden Tisches noch vorgesehen waren. Bonner Regierungsvertreter sahen die Kompatibilitätserfordernis zum Grundgesetz nicht gegeben. Das Grundgesetz wurde kurzerhand nach Artikel 23 (Einheit durch Beitritt) auf beide deutsche Staaten übergestülpt, ohne die Chance für Verfassungsänderungen zu nutzen.
Der sogenannte Königsweg war zweifellos der schnellere Weg zu einem geeinten Deutschland, er war jedoch stark von einer westdeutschen Sicht geprägt, die Einflüsse und Errungenschaften der Friedlichen Revolution auf Bundesebene nicht zuließ. Die Möglichkeit, durch eine gemeinsame Verfassungsdiskussion die politische Einheit im Land entscheidend zu stärken, wurde vertan. Neben dem Zeitaspekt war ein weiterer Grund sicher auch die Vorstellung, sich nicht von der DDR darüber belehren zu lassen, wie eine funktionsfähige Demokratie auszusehen hat. Was auf Bundesebene versäumt wurde, setzten die neuen Bundesländer vielfach in ihren Landesverfassungen um.
Akteure
Neben den Ereignissen der Friedlichen Revolution von 1989 erlangten die Parteien den größten Einfluss auf die Verfassungen. Das ist angesichts der Art der Verfassungsgebung nicht weiter verwunderlich. Gewählte Parlamente organisierten die Verfassungsausschüsse und Kommissionen und so prägten parteipolitische Interessen bald die Diskussionen.
In der ersten Phase der Debatten war ihr Einfluss jedoch noch gering, da sich die Parteien selber erst im Aufbau befanden. Sie verfügten zum großen Teil über keine gefestigten Programme und mussten für sich erst klären, welche inhaltlichen Positionen sie vertreten wollten. Das war eine große Chance für die Verfassungsdiskussion, da das parteipolitische Denken noch nicht so ausgeprägt war. Die Runden Tische dienten dabei als eine Art Ersatz- und Trainingsparlamente.
Erst mit der Verlagerung der Verfassungsgebung auf die parlamentarische Ebene traten sie als die bestimmenden Akteure in Erscheinung. Mit Ausnahme von Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern versuchten die Parteien durch eigene Verfassungsentwürfe Einfluss auf die Verfassungsberatungen zu nehmen.
Von parteipolitischen Kontroversen blieb jedoch auch Brandenburg nicht verschont. Gerade zwischen den konservativen und den linksliberalen Lagern entstanden Reibungspunkte, bei denen nur schwer eine Einigung erzielt werden konnte. Viele Parteien, vor allem die CDU und die FDP, waren dabei von westdeutschen Standpunkten und bundespolitischen Auseinandersetzungen beeinflusst. Sie taten sich am schwersten mit Verfassungsinhalten, die über das Grundgesetz hinausgingen. Die Fraktionen rekrutierten zusätzlich auf informeller Ebene eigene Mitarbeiter, die größtenteils aus den alten Bundesländern stammten und somit auch westdeutsche Ansichten in die Diskussionen einbrachten.
So war ein Großteil der CDU vehement gegen die Ausweitung direktdemokratischer Elemente oder die Gleichstellung von Lebensgemeinschaften mit der Ehe. Auch kam vor allem der CDU der religiöse Bezug in der Verfassung zu kurz. Einen wirklichen Stellvertreterkrieg, der den Parteien oft nachgesagt wurde, gab es in Brandenburg jedoch nicht. Der viel beschriebene Brandenburger Weg stellte Sachpolitik vor Parteipolitik.
Abgeordneter Dr. Peter-Michael Diestel (CDU), Redebeitrag während der 3. Lesung der Verfassung im Landtag, April 1992
Die SPD nutzte ihren Machtvorsprung im Parlament nicht aus, sondern setzte stark auf Konsens und versuchte alle politische Parteien mit einzubeziehen. Darunter auch die PDS, die wegen der Nähe einiger ihrer Mitglieder zum DDR-Regime oft kritisiert oder schlichtweg ausgegrenzt wurde. Die anderen CDU-regierten neuen Bundesländer taten sich bei der Einbindung der Linken sehr schwer, worauf diese wiederum die entsprechenden Verfassungsentwürfe ablehnten und nicht unterstützten. Bei der oft schwierigen Kompromisssuche kam man den Fraktionen oft an anderer Stelle entgegen, sodass es zu einem relativen Kräftegleichgewicht kam.
Interessant ist die Zusammensetzung der Abgeordneten. In Brandenburg gestalteten im Vergleich zu allen anderen Bundesländern, auch den westdeutschen, eher junge Volksvertreter die Politik. Das Durchschnittsalter der 88 Parlamentsmitglieder im Brandenburgischen Landtag betrug 44 Jahre. 43 Prozent der Abgeordneten waren 40 bis 49 Jahre alt, bei 30 Prozent lag das Alter sogar unter 39 Jahren. Der Frauenanteil lag nur bei 20 Prozent. Lediglich die PDS-Fraktion bestand aufgrund einer Quotenregelung fast zur Hälfte aus Frauen.
Im Vergleich zu den westdeutschen Landesparlamenten hatten sehr viele brandenburgische Abgeordnete einen Hochschulabschluss. 80 Prozent hatten studiert, jedoch nicht wie in diesem Bereich üblich Rechts-, Wirtsschafts und Sozialwissenschaften. Diese Fächer galten als politisch belastet und entsprechende Kandidaten wurden seltener gewählt.
Vielmehr kamen die Abgeordneten aus medizinischen, technischen und naturwissenschaftlichen Fachrichtungen. Sie verhielten sich in der DDR oftmals systemkonform, steckten aber zum Ende der siebziger Jahre häufig in den Karrierewegen der sozialistischen Planwirtschaft fest und waren von den fehlenden Möglichkeiten zur persönlichen und politischen Entfaltung frustriert. Sogenannte politische Abweichler, die offen gegen das DDR-Regime gekämpft hatten, waren dagegen eher schwach vertreten.
Waltraud Dobczinski, Bürgerin, März 2002
Neben den Parteipolitikern hatten vor allem die juristischen Sachverständigen aus den alten Bundesländern maßgeblichen Einfluss auf die Arbeit an den Landesverfassungen. Ostdeutsche Experten waren größtenteils zu unerfahren, was das westdeutsche Staatsrecht betraf. Die juristische Beratung, besonders bei der Einpassung des Landesverfassungsrechts in die bundesstaatliche Rechtsordnung, wurde in vielen Fällen dankbar angenommen.
Auch in Fragen der Staatsorganisation war Hilfe von Nöten. Westdeutsche Landesverwaltungen und Landesregierungen stellten Experten ab, die den Aufbau staatlicher Gremien beratend begleiteten. Brandenburg wurde vor allem von Beratern aus Nordrhein-Westfalen unterstützt. Die Sachverständigen waren in Brandenburg gleichberechtigte Mitglieder im Verfassungsausschuss und besaßen volles Rede-, Antrags- und Stimmrecht.
Ihr Einfluss war im Verlauf der Debatten nicht gleich groß und nicht bei allen Themen gleich stark. Bei der Einführung direktdemokratischer Elemente ist er nachweisbar. Vor allem bei den Fragen, wie die Verfahren gestaltet werden sollten.
Im Gegensatz zu den anderen neuen Bundesländern beeinflussten in Brandenburg auch Vertreter der Kirchen, der sorbischen Minderheit und des Behindertenverbandes die Verfassungsarbeit. Vertreter dieser gesellschaftlichen Organisationen saßen als Mitglieder im Verfassungsausschuss und besaßen volles Rede- und Stimmrecht. So konnte auf besondere Anhörungsverfahren verzichtet werden, da die Interessen unmittelbar in die Debatten einflossen.
Entwicklungen in den drei Lesungen
Die Brandenburger Verfassung wurde in insgesamt drei Lesungen im Landtag verhandelt. Eine Lesung im parlamentarischen Prozess ist eine Beratung von Gesetzes- oder Haushaltsvorlagen. Üblicherweise gibt es drei, es können aber auch weniger festgelegt werden. In der ersten Lesung übergibt der zuständige Ausschuss, hier der Verfassungsausschuss, seine ersten Ausarbeitungen dem Parlament zur Debatte. Jeder Fraktion und ihren Abgeordneten werden die Unterlagen vorgelegt, so dass diese gegebenenfalls über spätere Änderungsanträge beraten können.
Die erste Lesung endet üblicherweise damit, dass die Vorlage in den zuständigen Ausschuss zurück überwiesen wird, um die weiteren Änderungen einzuarbeiten. In der zweiten Lesung werden dann die einzelnen Bestimmungen erneut diskutiert, die eingereichten Änderungsanträge erläutert und darüber abgestimmt.
Die dritte und letzte Lesung schließt sich recht zeitnah an die zweite an. Darin erfolgt die Schlussabstimmung über den eingebrachten Gesetzestext. Die erste Lesung zur Brandenburger Verfassung fand am 19. Dezember 1991 statt. Die zweite am 25. März 1992 und die dritte, in der die Verfassung verabschiedet wurde, am 14. April 1992.
Besonders die dritte Lesung ist als ein Beispiel der auf Konsens bemühten parlamentarischen Debatten in die brandenburgische Geschichte eingegangen. Die wesentlichen Diskussionspunkte zwischen den einzelnen Fraktionen und ihre Haltungen werden im Folgenden kurz erläutert.
1. Lesung
In der ersten Lesung wurden zunächst die Punkte debattiert, die die Fraktionen in geänderter Form oder gar nicht in der Verfassung haben wollten. Dazu gehörte vor allem die Präzisierung von Grundrechten, wie dem Widerstandsrecht oder dem Recht auf sexuelle Identität. Weiterhin wurden die Gleichstellung der Ehe mit anderen Lebensgemeinschaften, das Ausländerwahlrecht, die Regelungen zur Volksgesetzgebung sowie die Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs rege diskutiert.
CDU
Die Abgeordneten der CDU-Fraktion vertraten traditionsgemäß eine konservative Linie. Sie sprachen sich vehement gegen Erweiterungen des Grundgesetzes aus, da sie vermuteten, dass dieses ausgehöhlt werden sollte. Zudem hätten solche punktuellen Zeichen einer eigenen Landesidentität keine rechtliche Bindung, da das Grundgesetz über der Landesverfassung steht. Was rechtlich nicht bindend sein konnte, sollte auch nicht in die Verfassung.
Abgeordnete Beate Blechinger (CDU), Redebeitrag während der 1. Lesung der Verfassung im Landtag, Dezember 1991
Die Fraktion sprach sich gegen die Grundrechte auf Widerstand und die Gleichheit in der sexuellen Identität aus. Sie befürchtete, dass so gesellschaftsgefährliche Neigungen, wie Pädophilie oder Sodomie, unter den Schutz der Verfassung gestellt werden würden. Dass damit auch die Rechte von Homosexuellen nicht in die Verfassung aufgenommen wurden, nahm die Fraktion in Kauf.
Sie plädierten für klarere Formulierungen, was geschützt werden sollte und was nicht. Das betraf auch eheähnliche Lebensgemeinschaften. Die Formulierung „auf Dauer angelegt“ erschien ihnen nicht aussagekräftig genug, da kein Zeitraum definiert wurde, der das Wort „Dauer“ rechtfertigte. Die Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs wurde vehement abgelehnt.
Ein weiterer Kritikpunkt waren die Quoren bei der Volksgesetzgebung und Formulierungen zu Belangen kirchlicher Einrichtungen.
SPD
Die Abgeordneten der SPD vertraten eine sehr liberale Haltung, was das Thema der sexuellen Identität, die Frage des straffreien Schwangerschaftsabbruchs oder die Quoren bei der Volksgesetzgebung betraf. Weiterhin setzten sie sich für das Recht auf Akteneinsicht und die Möglichkeit zur Verbandsklage ein.
Abgeordneter Steffen Reiche (SPD), Redebeitrag während der 1. Lesung der Verfassung im Landtag, Dezember 1991
Zudem wollten sie auf das Widerstandsrecht in der Verfassung nicht verzichten und verwiesen auf die Geschichte, in der dieses Recht erst unter den Nationalsozialisten und später durch die SED außer Kraft gesetzt wurde. Durch die historische Entwicklung war für sie die Notwendigkeit eines Instruments gegen staatliche Gewalt damit begründet.
FDP
Die FDP setzte sich gemäß ihrer liberalen Tradition für schlanke staatliche Regelungen ein. Die Abgeordneten kritisierten die ausführliche Verfassung als eine Art Partei- oder Regierungsprogramm. Auch seien die Formulierungen in rechtlicher Hinsicht zu widersprüchlich und damit angreifbar.
Die FDP war gegen die Absenkung der Sperrklausel auf 3 Prozent für den Einzug in den Landtag. Sie befürchtete eine Zersplitterung der Parteienlandschaft wie einst in der Weimarer Republik. Auch die Quoren für die Volksgesetzgebung waren den Abgeordneten entschieden zu niedrig angesetzt.
Bündnis90
Sie traten vor allem für eine Stärkung der freiheitlichen Rechte, die Ausweitung der Volksgesetzgebung und für einen starken Umweltschutz ein. Ebenso wie die Linken plädierten sie für eine Absenkung der Sperrklausel auf 3 Prozent. Die Hürden für Volksbegehren und Volksentscheide wurden als zu hoch angesehen, um eine aktive direkte Demokratie zu fördern.
PDS
Die Abgeordneten der PDS-Fraktion stimmten von Anfang an für eine Vollverfassung und setzten sich für die Ausweitung und Präzisierung der Grundrechte ein. Einerseits um die eigene Landesidentität zu stärke, andererseits um so auch bundespolitische Anreize zu geben. Sie sprachen sich für die Gleichstellung der Ehe und auf Dauer angelegter Lebensgemeinschaften aus. Darüber hinaus unterstützten sie auch die Regelungen zum Diskriminierungsverbot und zum Umweltschutz. Die Staatsziele zu Arbeit, bezahlbaren Wohnraum und soziale Mindestsicherung waren für die Mitglieder der Partei elementarer Bestandteil der Verfassung.
Kritisiert wurden die zu hohen Hürden der Volksgesetzgebung. Auch trat die PDS für eine Senkung der 5 Prozent Klausel auf 3 Prozent für den Einzug in den Landtag ein. Sie versprach sich davon eine Belebung der Parteienlandschaft. Obwohl sich die PDS in der Opposition befand, bemühten sich die Abgeordneten stets um einen Konsens und arbeiteten konstruktiv mit an der Verfassung.
2. Lesung
Während der zweiten Lesung verschärfte sich der Ton zusehends. Einige Punkte waren geklärt und neu festgeschrieben. So stand beispielsweise die Sperrklausel für den Einzug in den Landtag nun endgültig bei 5 Prozent. Die vorher schon umstrittenen, aber noch ungeklärten Punkte wurden noch stärker kritisiert und über einhundert Änderungsanträge eingereicht. Weiterhin zeichnete sich eine Spaltung innerhalb der CDU ab, die die Diskussionen zusätzlich erschwerten.
Die Mehrheit der Fraktion, unter Führung von Dr. Peter-Michael Diestel, war um Konsens bemüht, während der CDU-Landesvorsitzende Ulf Fink eine Kampagne gegen den Verfassungsentwurf startete. Die daraus resultierende verweigernde Haltung von Teilen der CDU drohte die weitere Arbeit zu blockieren.
CDU
Ein Hauptkritikpunkt der Abgeordneten war weiterhin die teilweise Abweichung vom Grundgesetz. Damit war für einige die gesamte Verfassung ungültig und es wurde erbittert um die Präzisierungen gestritten. Sie wollten kein „Buch der Versprechungen“, das der Realpolitik nicht standhalten kann. Das gleiche galt für die Formulierung von Staatszielen. Sie erreichten schließlich auch, dass aus Artikel 5 der Satz: „Staatszielbestimmungen sind von den Staatsorganen zu verwirklichen und bei der Gesetzanwendung zu berücksichtigen.“, gestrichen wurde.
Abgeordneter Manfred Walther (CDU), Redebeitrag während der 2. Lesung der Verfassung im Landtag, März 1992
Die Staatsziele wurden von nun an vager formuliert. Weitere Dauerkritikpunkte waren die Diskussion um Familie, die sexuelle Identität und den straffreien Schwangerschaftsabbruch. Auch die Stellung der Kirchen und der Religion sowie die Geltungsbereiche und Quoren bei der Volksgesetzgebung wurden heftig diskutiert. Sie sollte sich auf die Möglichkeit des Volkes, die Verfassung zu ändern oder den Landtag aufzulösen, beschränken.
SPD
Die SPD war mit dem Entwurf größtenteils zufrieden und versuchte auch für die letzten Punkte einen Konsens zu erzielen. Sie hielt weiterhin die vorgeschlagenen Quoren für die Volksgesetzgebung für ausreichend, um die Gesetzgebung bürgerfreundlich zu gestalten und gleichzeitig das Parlament vor einer Flut von Bürgerbegehren zu schützen. Zudem trat sie für die vorgeschlagenen Akteneinsichtsrechte ein, um die Transparenz der Regierungsarbeit gegenüber dem Parlament zu erhöhen.
Dr. Hans-Otto Bräutigam, Brandenburgischer Justizminister von 1990-1999, Redebeitrag während der 2. Lesung der Verfassung im Landtag, März 1992
FDP
Auch die Abgeordneten der FDP zeigten sich mit der bisherigen Arbeit zufrieden. Sie fanden die Verfassung jedoch nach wie vor überreguliert sowie teilweise dem Grundgesetz widersprechend und plädierten für schlankere Bestimmungen. Unklar formulierte Staatsziele lehnten sie größtenteils als Parteiprogramme und rechtlich zu wenig bindend ab. Gegen Staatsziele im Allgemeinen hatten sie jedoch keine Einwände. Die Staatsziele zu Arbeit und Wohnung gehörten für sie unbedingt in die Verfassung.
Auch die Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruches lehnten sie nicht vollkommen ab, wollten sie jedoch nicht in der Verfassung niederschreiben. Sie hatte dort ihrer Meinung nach nichts zu suchen, auch mit dem Blick auf anstehende bundesrechtliche Regelungen. Weiterhin erschienen den Abgeordneten die Artikel zum Umweltschutz als überreguliert, da ihnen Bundesgesetze eindeutig entgegenstanden und die Artikel damit quasi überflüssig machten.
Bündnis90
Die Abgeordneten machten sich wie schon in der ersten Lesung für eine vereinfachte Volksgesetzgebung stark und kritisierten die CDU für ihre Vorschläge zur Anhebung der Quoren. Auch plädierten sie dafür, dass alle Einwohner Brandenburgs an Volksinitiativen teilnehmen konnten, um auch Ausländern einen gewissen Grad an Beteiligung zu ermöglichen. Wie auch die Linken traten sie für ein Abschiebungsverbot von Asylbewerbern ein, wenn sie von Folter oder Todesstrafe bedroht sind.
Sie verteidigten die Bestimmungen, nach denen in Brandenburg keinerlei Kernenergienutzung zugelassen werden sollte sowie die Möglichkeit zur Verbandsklage, um den Umweltschutz weiter zu stärken. Sie hatten dabei vor allem auch die Belange der zukünftigen Generationen im Blick und traten für nachhaltige Regelungen ein.
Abgeordneter Günter Nooke, Fraktionsvorsitzender Bündnis 90, Redebeitrag während der 2. Lesung der Verfassung im Landtag, März 1992
PDS
Die Abgeordneten waren mit der bisherigen Arbeit recht zufrieden und verteidigten die Errungenschaften der Staatsziele und auch die Erweiterung der demokratischen Grundrechte. Eine Gefahr für die Gültigkeit der Verfassung sahen sie darin nicht. Sie traten für das Recht auf Widerstand ein und protestierten gegen die beabsichtigte Streichung des Absatzes. Sie bezogen sich dabei besonders auf das historische Erbe Brandenburgs, das bewiesen habe, dass ein solches Recht notwendig sei.
Ebenfalls vertraten sie weiterhin die Meinung, dass die Garantie für einen straffreien Schwangerschaftsabbruch in die Verfassung gehöre. Verärgert waren die Abgeordneten über die Tatsache, dass sich der Beschluss durchsetzte, nachdem Artikel 18 Absatz 2 aus der Verfassung gestrichen werden sollte. Er garantiert, dass kein Asylbewerber in ein Land abgeschoben werden darf, in dem ihm Folter oder die Todesstrafe drohen. Der Absatz wurde später wieder in die Verfassung aufgenommen.
3. Lesung
Anfang April 1992 gelang es schließlich, in einer der letzten Sitzungen des Verfassungsausschusses, entscheidende Kompromisse zu schließen. Insbesondere durch die Streichung besonders kontroverser Formulierungen. So konnte die Zustimmung von einem Teil der CDU-Fraktion gewonnen werden, um die Verfassung zu verabschieden. 15 Mitglieder der CDU lehnten die Verfassung in der anschließenden Abstimmung ab oder enthielten sich.
Teile der CDU riefen später auch die Bevölkerung auf, der Verfassung nicht zuzustimmen. Die Abgeordneten aller anderen Parteien stimmten uneingeschränkt zu. Trotz dieser Verweigerung des demokratischen Konsenses ist die Debatte von den gemeinsam errungenen Kompromissen durchdrungen und lobt ausdrücklich die Zusammenarbeit aller Parteien.
CDU
In der CDU selbst gab es die größten Spannungen, nachdem ein Großteil der Abgeordneten (15 von 25) erklärte, der Verfassung ihre Zustimmung zu verweigern. Der Generalsekretär der CDU verkündete einen Abend vor der Abstimmung: „Wir wollen das nicht.“, was bei den anderen Parteien großes Unverständnis hervorrief, da nicht nur Teile der Verfassung abgelehnt wurden, sondern die Verfassung als Ganzes. Die Arbeit der letzten drei Jahre wurde damit in Frage gestellt.
Abgeordnete Beate Blechinger (CDU), Redebeitrag während der 3. Lesung der Verfassung im Landtag, April 1992. Sie stimmte anschließend trotzdem für die Verfassung.
Hauptkritikpunkt war wieder die angebliche Grundgesetzwidrigkeit. Dabei hat eine Landesverfassung gar nicht die Möglichkeit, das Grundgesetz zu gefährden. Eigene Ansätze sind durchaus gestattet. Sie sind nicht grundgesetzwidrig, sondern nicht rechtsgültig. Sie können nicht angewendet werden. Trotzdem darf das Land deutlich machen, dass es sich beispielsweise gegen die Lagerung von Atommüll stark machen wird.
Außerdem wurden die meisten Änderungsanträge der CDU, was die Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz anbelangte, angenommen. Allein zwischen der 1. und 2. Lesung waren es 43. Weitere Kritik richtete sich gegen die Ausweitung des Asylrechts, Regulierungen des Umweltschutzes, formulierte Staatsziele und die Quoren für die Volksgesetzgebung. Kurz vor der 3. Lesung wurden noch einmal allein fünf entscheidende Änderungen am umstrittenen Artikel 39 (Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen) vorgenommen.
Abgeordneter Dr. Peter-Michael Diestel (CDU), Redebeitrag während der 3. Lesung der Verfassung im Landtag, April 1992
Die Ablehnung erscheint dadurch noch unverständlicher. Vor allem, da Brandenburg auf die Verfassung angewiesen war, um sich endlich tatkräftig den weiter verschlechternden sozialen Bedingungen zu stellen.
SPD
Die Abgeordneten der SPD reagierten mit Unverständnis auf die Haltung der CDU und beschworen deren Abgeordnete, nicht in einer starren Kontra-Haltung zu verharren. Die Inhalte der Verfassung wurden gelobt. Die Grund- und Freiheitsrechte wurden den Bürgerinnen und Bürgern garantiert. Gleichzeitig wurde die Bevölkerung verpflichtet für Staat, Gesellschaft und Umwelt Verantwortung zu übernehmen.
Die direkte Demokratie wurde in ihrer Bedeutung für einen bürgerfreundlichen demokratischen Staat noch einmal besonders hervorgehoben. Die von der SPD vorgeschlagenen Quoren setzen sich schließlich durch. In Sachen des straffreien Schwangerschaftsabbruches musste die SPD letztendlich dem Druck der CDU nachgeben. Der Satz ist nicht mehr in der Verfassung enthalten.
Abgeordneter Steffen Reiche (SPD), Redebeitrag während der 3. Lesung der Verfassung im Landtag, April 1992
FDP
Die Abgeordneten der FDP waren im Großen und Ganzen zufrieden mit dem letzten Verfassungsentwurf, wenn sie auch die Staatszielbestimmungen weiter bemängelten. Ihrer Meinung nach konnte eine Verfassung nichts erzwingen, was der Staat nicht zu leisten vermag. Sie sprachen sich weiterhin gegen eine starke direkte Demokratie aus, da Wahlen als umfangreichste Form der Willensbekundung ausreichten.
Abgeordneter Alfred Pracht (FDP), Redebeitrag während der 3. Lesung der Verfassung im Landtag, April 1992
Sie beugten sich aber schließlich den vorhandenen Mehrheiten. Sie befürworteten weiterhin die Möglichkeit des Parlaments, sofort mit einem eigenen Gesetz auf eine Initiative zu reagieren, um die weiteren Verfahren abzukürzen.
Abgeordneter Alfred Pracht (FDP), Redebeitrag während der 3. Lesung der Verfassung im Landtag, April 1992
Bündnis 90
Die Grünen stimmten uneingeschränkt für die Verfassung, auch wenn sie ebenfalls einige Punkte zu bemängeln hatten. Die Quoren für die Volksgesetzgebung wurden weiterhin als zu hoch und damit bürgerunfreundlich erachtet. Die Artikel zum Umweltschutz (39 und 40) hatten in letzter Instanz noch einige Veränderungen hinnehmen müssen.
Dies wurde jedoch dadurch abgemildert, dass die Umwelt in der Verfassung mehrfach und in vielen Bereichen, wie der Gesellschaftsform, Fragen der Forschung, im Landeshaushalt und sogar in der Präambel, thematisiert wurde. Die Abgeordneten bauten darauf, im Rahmen dieser Verfassung gut politisch arbeiten zu können und so ihre Ziele im Parlament zu verwirklichen.
Abgeordneter Rolf Wettstädt (Bündnis 90), Redebeitrag während der 3. Lesung der Verfassung im Landtag, April 1992
PDS
Die Fraktion der PDS war mit dem Verfassungsentwurf zufrieden, auch wenn die sozialen Rechte ihrer Ansicht nach noch weiter hätten ausgebaut werden können und auch die Quoren für die Volksgesetzgebung zu hoch lagen. Zusätzlich wurden die Gerechtigkeit des Marktes und die soziale Gerechtigkeit in Frage gestellt, was auch in der Tradition der Partei begründet ist.
Abgeordneter Prof. Dr. Lothar Bisky, Redebeitrag während der 3. Lesung der Verfassung im Landtag, April 1992
Besonders gelobt wurde hingegen der geringe Einfluss westdeutscher Verfassungskonflikte, denen der Brandenburger Verfassungsausschuss mit breitem Konsenswillen entgegentrat. Die PDS unterstützte aktiv das neue Regelwerk, was im Hinblick auf die Situation in den anderen neuen Bundesländern eine Besonderheit darstellt. Dort wurde die Partei oftmals ausgegrenzt und konnte sich kaum einbringen.
Worüber gestritten wurde
Staatsziele | Grundpflichten | Direkte Demokratie | Grundrecht auf Leben | Lebensgemeinschaften, sexuelle Identität | Widerstandsrecht | Umweltschutz | Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz
In keinem anderen Bundesland waren die politischen Kontroversen um die neue Verfassung so ausgeprägt wie in Brandenburg, was deutlich an den Veränderungen im Laufe der Verfassungsentwicklung zu erkennen ist. Parteipolitische Interessen spielten dabei die größte Rolle.
Staatsziele
Einer der strittigsten und am heftigsten umkämpften Punkte war die Formulierung von Staatszielen. Noch heute stehen sie in der politischen wie wissenschaftlichen Kritik. Die Verfassungen der neuen Bundesländer tendierten dazu, zusätzlich zu den Grundrechten auch Staatsziele festzuschreiben. Sie bezeichnen Grundsätze und Richtlinien, die den staatlichen Organen Impulse für ihr Handeln geben sollen. Sie sind sozusagen immerwährende Staatsaufgaben.
„Ehrenwerte Motive garantieren noch lange keine Praktikabilität.“
Abgeordnete Beate Blechinger (CDU), Redebeitrag während der 3. Lesung der Verfassung im Landtag, April 1992
Auf Bundesebene wurden Staatsziele immer wieder einmal diskutiert, vor allem im Zuge der Verfassungsdebatten in den neuen Bundesländern. Es setzte sich aber weiter die bewährte Ansicht durch, nach der eine Verfassung „kurz und dunkel“ sein sollte. Kurze, knappe Sätze und vage Formulierungen wurden genutzt, um dem Staat keine Pflichten aufzuerlegen, die er möglicherweise nicht erfüllen kann.
Im Gegensatz zu Grundrechten sind Staatsziele nicht einklagbar, können vor einem Verfassungsgericht demnach nicht erstritten werden. Dennoch sollte das Land verpflichtet werden, auf eine Verbesserung der Umstände hinzuarbeiten. Die Grundrechte alleine waren den verfassungsgebenden Versammlungen zu wenig, da sie in vor allem subjektive Abwehrrechte der Bevölkerung darstellen und nur „nebenbei“ objektive Wertentscheidungen sind. Staatsziele grenzen sich davon noch einmal ab.
Die umfangreichen Staatszielkataloge können somit als ein Alleinstellungsmerkmal der neuen Bundesländer gesehen werden. Zwar gibt es auch in den Verfassungen der alten Bundesländer vereinzelt Staatsziele, gehäuft treten sie jedoch nur in den Verfassungen der neuen Bundesländer auf. Entgegen aller Kritiken versuchen sie das Grundgesetz nicht zu ersetzen, sondern es sinnvoll zu erweitern.
Ein Hauptmerkmal der Brandenburgischen Verfassung, und damit auch ein Hauptkritikpunkt, ist, dass sie auf eine systematische Trennung von Staatszielen und Grundrechten verzichtet. Sie ist thematisch nach Lebensbereichen geordnet, sodass im zweiten Hauptteil „Grundrechte und Staatsziele“ innerhalb eines Artikels sowohl Grundrechte als auch Staatszielbestimmungen festgeschrieben wurden. Die nötige juristische Klarheit und Abgrenzung fehlt.
Wahrscheinlich beruht die Systematik auf dem Entwurf der neuen Verfassung für die DDR, der sich stark am Grundgesetz orientierte, den Grundrechtekatalog jedoch um diverse Staatsziele erweiterte. Die Befürchtungen der Kritiker gingen soweit, dass sie eine Flut von Klagen an das Verfassungsgericht vorhersahen. Wohl auch darum fehlt in der endgültigen Fassung der Satz: „Staatszielbestimmungen sind von den Staatsorganen zu verwirklichen und in der Gesetzesanwendung zu berücksichtigen.“
Die rechtliche Angriffsfläche wäre so um ein vielfaches größer gewesen. Die Befürchtungen, dass die unklare Unterscheidung zwischen Grundrechten und Staatszielen das Landesverfassungsgericht vor unlösbare Aufgaben stellen würde, haben sich bis heute nicht bewahrheitet.
Die vorherrschenden Staatsziele in der Brandenburger Verfassung sind das Recht auf Arbeit und Wohnung. Das Recht auf Arbeit war in der Verfassung der DDR festgeschrieben und einige Vertreter des Verfassungsausschusses wollten diesen Punkt auch in der neuen Verfassung festhalten. Demnach ist das Land Brandenburg verpflichtet im Rahmen seiner Kräfte auf eine gezielte Arbeitsförderung und Vollbeschäftigung hinzuwirken. Ein Ziel, das schon allein von den verschiedensten bundespolitischen und europäischen Vorgaben eingeschränkt wird und somit stark an Wirkungskraft verliert.
Weitere Bereiche, die als Staatsziele formuliert wurden, sind:
- die Gleichstellung von Frauen und Männern (Art. 12 Abs. 3)
- die Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen alter und behinderter Menschen (Art. 12 Abs. 4)
- die seelische und geistige und körperliche Entwicklung der Kinder (Art. 27)
- die nationalen und ethnischen Minderheiten deutscher Nationalität (Sorben und Wenden) (Art. 25)
- das kulturelle, künstlerische und wissenschaftliche Schaffen sowie die sportliche Betätigung (Art. 34 und 35)
- der Umweltschutz (Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen) (Art. 39 und 40)
Vor allem eine Überregulierung des Umweltschutzes, der sich wie ein grüner Faden durch die Verfassung zieht, wurde immer wieder kritisiert. Entsprechende bundespolitische Regelungen und Gesetze würden ihn sofort außer Kraft setzen. Er ist vielmehr ein Ausdruck der ideellen Wünsche der Verfassungsväter und -mütter.
Grundpflichten
Darüber hinaus ist die Brandenburgische Verfassung reich an Grundpflichten, die den Bürger in die Verantwortung ziehen und das Staat-Bürger-Verhältnis weiter konkretisieren. Beispielsweise ist in Artikel 7 Absatz 2 festgelegt: „Jeder schuldet jedem die Anerkennung seiner Würde.“ Dieser Satz erweitert noch einmal das Grundgesetz, in dem es heißt, dass die Würde des Menschen unantastbar ist und wird in eine aktive Handlung umgewandelt.
Weiterhin wird unter anderem festgelegt, dass Kriegspropaganda und die Würde des Menschen verletzende Diskriminierungen verboten sind, der Missbrauch wirtschaftlicher Macht unzulässig und zu verhindern ist, oder dass jeder bei Unfällen oder Katastrophen zur Nothilfe verpflichtet ist. Zudem gibt es umweltbezogene Grundpflichten, wie die Nutzung des Bodens auch im Interesse künftiger Generationen nachhaltig zu gestalten.
Manfred Stolpe, Brandenburgischer Ministerpräsident von 1990-2002, Grußwort zum 10-jährigen Verfassungsjubiläum, 2002
Leider betreffen die Grundpflichten der Brandenburgischen Verfassung häufig Themen, die bundesgesetzlich geregelt sind. So können die Grundpflichten eher als Erinnerungen und Ermahnungen gesehen werden, die juristisch jedoch kaum relevant sind. Auffällig schweigsam ist die Brandenburgische Verfassung, wenn es um die Frage der schulischen Erziehungsziele geht. Alle anderen neuen Bundesländer äußern sich dazu ausführlich und streben ausdrücklich Werte wie Demokratie, Erhaltung der Umwelt, Frieden oder soziale Gerechtigkeit an. Brandenburg versäumte damit, sich klar vom sozialistischen Erziehungssystem abzugrenzen.
Direkte Demokratie
Geprägt durch die Erfahrungen der Friedlichen Revolution war es den Verfassungsvätern und -müttern besonders wichtig, die Elemente der direkten Demokratie fest in der Verfassung zu verankern. Dies war eine der zentralen Forderungen der Runden Tische und der Bürgerbewegungen. Es hatte sich die Überzeugung durchgesetzt, dass ein mündiges Volk auch außerhalb der Wahlen auf den Staatswillen einwirken können muss.
Gleichzeitig war es eines der am heftigsten umstrittenen Themen während der Ausarbeitungen und auch während der drei Lesungen im Landtag. Gestritten wurde dabei nicht nur um die Quoren, das heißt um die Anzahl der Bürgerinnen und Bürger, die einer Volksinitiative und später einem Volksbegehren zustimmen mussten, sondern auch um das Verfahren selbst.
So ist in Brandenburg, und auch in Sachsen, dem Volksbegehren noch die Volksinitiative vorgelagert. Dies ist durch die Verfassungsänderungen in Schleswig-Holstein beeinflusst, wo ebenfalls eine vorgeschaltete Volksinitiative eingeführt wurde. Das dreistufige Verfahren, die Kombination aus niedrigen Einstiegs- und hohen Abstimmungsquoren und Regelungen für die Kostenerstattung wurden übernommen. In den anderen drei neuen Bundesländern kann gleich ein Volksbegehren eingeleitet werden. Die Dreiteilung des Verfahrens verlängert dessen Dauer erheblich.
Die Quoren waren lange Verhandlungsthema. Als Vorbilder dienten vor allem die alten Bundesländer. Dort liegen die Quoren für ein Bürgerbegehren jedoch zwischen 10 und 20 Prozent der Stimmberechtigten. Das war den Befürwortern der direkten Demokratie entschieden zu hoch. PDS und Bündnis 90 schlugen eine Hürde von 10.000 Unterschriften für eine Volksinitiative vor, fanden im Ausschuss dafür allerdings keine Mehrheit.
SPD, FDP und CDU waren entschieden gegen eine Reduzierung der Quoren. Allerdings wurde dem Vorschlag, eine Landtagsauflösung per Volksentscheid zu ermöglichen, mit knapper Mehrheit zugestimmt. Zwischen Mai 1991 und März 1992 kam es noch zu einer Vielzahl von Änderungsvorschlägen seitens der Oppositionsparteien und auch von den Koalitionspartnern selbst. So wollte die CDU im März 1992 die Quoren für ein Volksbegehren drastisch auf zunächst 20 Prozent, wenige Tage später sogar auf 25 Prozent erhöhen.
Gleichzeitig sollte sich die Eintragungsfrist auf drei Monate verkürzen. Zusätzlich forderte die CDU-Fraktion, dass sich Volksbegehren nur noch auf Verfassungsänderungen und Landtagsauflösungen beschränken sollten. Die Bürger und Bürgerinnen hätten so keinen Einfluss auf die einfache Gesetzgebung nehmen können. Die Anträge scheiterten jedoch alle am Widerstand der SPD, um die sich wechselnde Mehrheiten bildeten.
Abgeordneter Manfred Walther (CDU), Redebeitrag während der 2. Lesung der Verfassung im Landtag, März 1992
Die momentanen Regelungen für Volksinitiativen und Volksbegehren sehen laut Art. 76-79 der Brandenburgischen Verfassung in Tab. 1 aufgezeigte Quoren vor. Initiativen zum Landeshaushalt, zu Dienst- und Versorgungsbezügen, Abgaben und Personalentscheidungen sind dabei unzulässig. An den Volksinitiativen dürfen sich alle Einwohner Brandenburgs, unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft, beteiligen. CDU und FDP stimmten gegen diese Regelung.
Die Diskussionen wurden stark von den SPD dominierten Mehrheitsverhältnissen beeinflusst. Ihr Entwurf wurde fast unverändert in die spätere Verfassung übernommen. Lediglich bei den Volksinitiativen und Volksbegehren, die eine Landtagsauflösung zum Ziel haben, wurden die Quoren von 100.000 auf 150.000 für die Initiative sowie von 150.000 auf 200.000 für das Begehren erhöht.
Dies geschah auf eigenen Antrag der SPD-Fraktion und ist typisch für die Haltung der Partei. Sie stimmt häufig für niedrige Quoren für Initiativen und Begehren, baut aber gleichzeitig zusätzliche Hürden durch hohe Zustimmungsquoren auf, gerade was Landtagsauflösungen und Verfassungsänderungen betrifft. Zusammen mit den Ausschlussklauseln für Haushalts- und Personalentscheidungen werden dadurch die Beteiligungsrechte der Bürgerinnen und Bürger eingegrenzt.
Obwohl in Brandenburg das Quorum für ein Volksbegehren mit 4 Prozent der Stimmberechtigten im Ländervergleich sehr niedrig ist, ist bisher nicht ein vom Volk initiierter Entscheid auf Landesebene zu Stande gekommen. Vier Begehren hatten jedoch Teilerfolge, da die Vorschläge vom Parlament übernommen wurden. Die Befürchtungen der Gegner von moderaten Quoren im Verfassungsausschuss und im Landtag, dass die Volksgesetzgebung zum Volkssport ausarten würde und somit eine ernsthafte Bedrohung für die parlamentarische Gesetzgebung darstellt, haben sich nicht bewahrheitet. Bis Juni 2017 wurden in 15 Jahren 13 Volksbegehren eingeleitet.
Direktdemokratische Verfahren auf kommunaler Ebene sind in den entsprechenden Kommunalverfassungen geregelt. Brandenburg erwähnt sie jedoch als einziges der neuen deutschen Bundesländer auch in seiner Landesverfassung im Rahmen der politischen Gestaltungsrechte. Tipps für die Durchführung einer Initiative finden Sie hier.
Grundrecht auf Leben
Nach den Regelungen für die Volksgesetzgebung war Artikel 8 der Brandenburgischen Verfassung einer der am heftigsten diskutierten. In ihm ist das Grundrecht auf Leben festgeschrieben. Außerdem wurde in ihm die Frage der Straffreiheit von Schwangerschaftsabbrüchen thematisiert. Im II. überarbeiteten Verfassungsentwurf vom September 1990 ist er noch nicht enthalten.
Am Anfang der Verfassungsdebatte 1991 war es einer Mehrheit der Verfassungsgeber jedoch ein Anliegen, das Recht auf einen straffreien Schwangerschaftsabbruch festzuhalten. So hieß es im veröffentlichten Entwurf vom Mai 1991 zunächst: „Das Land setzt sich für eine bundesrechtliche Regelung ein, wonach strafrechtliche Maßnahmen wegen Schwangerschaftsabbruch während der ersten drei Monate unterbleiben.“
Dieser Satz stieß auf den vehementen Widerstand der CDU und Teile der FDP. Die Abgeordneten der FDP waren dabei nicht generell gegen den straffreien Schwangerschaftsabbruch, meinten aber, dass es nicht in die Verfassung gehöre.
Letztendlich wurde der Satz gestrichen und man verständigte sich im Absatz 2 auf die Formulierung: „Für den Schutz des ungeborenen Lebens ist insbesondere durch umfassende Aufklärung, kostenlose Beratung und soziale Hilfe zu sorgen.“ Dies führt jedoch zu keiner stärkeren Rechtsbindung, als es das Grundgesetz ohnehin vorsieht.
Ebenfalls ist im ersten Absatz des achten Artikels die Formulierung enthalten, nach dem die Würde im Sterben garantiert wird. Dies stieß wiederum auf heftige Kritik der CDU, die sich mit ihren wiederholten Anträgen auf Streichung jedoch nicht durchsetzen konnten.
Lebensgemeinschaften, sexuelle Identität
Die Anerkennung auf Dauer angelegter Lebensgemeinschaften war schon im Verfassungsentwurf vom September 1990 enthalten und wurde nach langem Ringen ähnlich formuliert in die Landesverfassung übernommen. Das hatte für heftige Debatten gesorgt, da einige Parteien, vor allem die CDU und die FDP, die Stellung der Ehe in der Gesellschaft gefährdet sahen.
Es ging dabei auch um die Gleichstellung der Lebensgemeinschaften Homosexueller mit der Ehe, was in der späteren Formulierung nicht mehr deutlich wird, da sie entschärft wurde. Die CDU verfasste mehrere Änderungsanträge, um die strittigen Formulierungen streichen zu lassen, scheiterte damit jedoch weitestgehend.
Schlussendlich wurde die Schutzbedürftigkeit von anderen auf Dauer angelegten Lebensgemeinschaften anerkannt, wenn sie auch nicht im gleichen Absatz zu finden sind, wie Familie und Ehe. Dadurch kam es zu einer gewissen Abstufung. Weiterhin ist in Bezug auf Ehe und Familie zusätzlich von „fördern“ die Rede, was wiederum auf eine besondere Stellung hinweist. Seit der Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare am 1.10.2017 können diese nur noch heiraten. Eingetragene Lebenspartnerschaften können in eine Ehe umgewandelt werden.
Ebenso stark in der Kritik stand Artikel 12 der Brandenburger Verfassung. Er garantiert unter anderem, dass niemand wegen seiner sexuellen Identität benachteiligt werden darf. Damit wurde Artikel 3 des Grundgesetzes präzisiert, der diese Formulierung nicht enthält. Gestritten wurde darüber, da beispielsweise auch Pädophilie oder Sodomie als sexuelle Identität betrachtet werden kann und sich die CDU weigerte „gesellschaftsgefährdende Praktiken“ in der Verfassung zu schützen.
Widerstandsrecht
Ein Widerstandsrecht ist ein Abwehrrecht der Bürgerinnen und Bürger gegenüber einer rechtswidrig ausgeübten Staatsgewalt. Es kann sich auch gegen einzelne Personen oder Gruppen richten, wenn diese die demokratische Ordnung gefährden. In der Brandenburgischen Verfassung war zunächst in Artikel 2 Absatz 7 ein solches Recht festgehalten, was auf den Widerstand der CDU stieß und schließlich gestrichen wurde.
Die Abgeordneten sahen darin einen Widerspruch zu Artikel 20 Absatz 4 des Grundgesetzes, der eben genau dieses Recht garantierte. Weiterhin befürchteten die Abgeordneten, dass das Gewaltmonopol des Staates sowie der innere Frieden gefährdet und der Anarchie Tür und Tor geöffnet werden würde. Die linksorientierten Kräfte kritisierten diesen Entschluss, da nun ein wirkungsvoller Abwehrmechanismus gegen staatliche Willkür ausgeschaltet war.
Umweltschutz
Die Regelungen in Artikel 40 waren einer ständigen Diskussion ausgesetzt und erfuhren dementsprechende Veränderungen. Im Verfassungsentwurf vom September 1990 waren die Artikel, die die natürlichen Lebensgrundlagen und den Umweltschutz betrafen noch deutlich kürzer. Beide enthielten nur zwei Absätze. Es wurde viel ergänzt und stark am Wortlaut gearbeitet. In der jetzigen Verfassung besitzt Artikel 39 (Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen) neun Absätze und Artikel 40 (Grund und Boden) fünf.
Vielen Abgeordneten waren die Definitionen zu weit gefasst und sie verlangten deshalb Präzisierungen oder Streichungen. Insbesondere Abgeordnete der CDU und FDP bemängelten die Formulierungen, die teilweise klar im Gegensatz zum Grundgesetz oder bundesrechtlichen Regelungen standen. Vor allem der in Artikel 39 Absatz 9 enthaltene Satz stieß auf starke Kritik.
„Das Land wirkt darauf hin, daß auf dem Landesgebiet keine atomaren, biologischen oder chemischen Waffen entwickelt, hergestellt oder gelagert werden.“ Den Gegner erschien dies eher als Parteiprogramm, da das Land eine solche Regelung nicht durchsetzen könnte, wenn ein Bundesgesetz etwas anderes beschließen würde.
Ebenfalls gegen bundesrechtliche Regelungen richtet sich die Verbandsklage, die in Artikel 39 Absatz 8 festgeschrieben ist, um die Belange des Umweltschutzes zu fördern. Sie ermöglicht es vor Gericht zu ziehen, auch wenn keine individuellen Interessen, sondern die der Allgemeinheit betroffen sind. Auf Bundesebene ist die Verbandsklage nur in bestimmten Ausnahmen zulässig. Deswegen stimmte die CDU-Fraktion gegen die Aufnahme in die Landesverfassung. Die Mehrheiten um die SPD setzten sich jedoch durch.
Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz
Obwohl der Brandenburgischen Verfassung die Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz in vielen Fällen schlichtweg abgesprochen wurde, gibt es bis heute vom Bundesverfassungsgericht kein kritisches Wort dazu. Das Grundgesetz verfügt auch über die geeigneten Mittel, um sich gegen ausufernde Landesverfassungen zur Wehr zu setzen.
In Artikel 31 heißt es schlicht, aber wirkungsvoll: „Bundesrecht bricht Landesrecht.“ Daran scheitern auch die innovativsten Erweiterungen und Präzisierungen in den Landesverfassungen.
Im Überschwang der unerwartet wiedererlangten Freiheit wurden in der Brandenburgischen Verfassung sicherlich einige Grundrechte festgehalten, die mit Bundesrecht kollidieren. Die Verfassungsväter und -mütter haben versucht, eigene Schwerpunkte zu setzen und dabei bundesrechtliche Spielräume auszuschöpfen. Doch trotz aller Befürchtungen bzw. Mahnungen hat die Verfassung dadurch keinen Schaden genommen und das Grundgesetz ebenfalls nicht.
Was besonders ist
Präzisierung der Grundrechte | Antirassismus-Klausel | Ausländerwahlrecht | Fraktionszwang | Kontrolle der Regierung | Recht auf Akteneinsicht | Minderheitenrechte der Sorben/Wenden | Einbeziehung des Volkes
Die Entstehungsgeschichte der Brandenburger Verfassung ist wohl eine ihrer größten Besonderheiten. Durch die Mitarbeit vieler Gesellschaftsschichten ist nicht nur ein reines Organisationsstatut entstanden, sondern auch ein Stück Landesidentität.
Die Verfassung ist durchzogen von Wertvorstellungen und Idealen, die stark von den Ergebnissen der Friedlichen Revolution 1989 beeinflusst ist. Kollektive Zusammenarbeit über Parteigrenzen hinweg zeichnete die Entstehung der Verfassung aus. Zusätzlich zeichnet sie sich durch einige feine Unterschiede aus und grenzt sich somit von anderen Bundesländern ab.
Jeder Tag bedeutete tausend Schritte weg vom Vertrauten, Veränderungen in der Politik, den Betrieben, der Kultur, in der ganzen Gesellschaft.“
Astrid Lorenz, Autorin „Neuanfang in Brandenburg“, 2010
Präzisierung der Grundrechte
Fast alle neuen Bundesländer gaben sich Vollverfassungen, das heißt, sie haben umfangreiche Grundrechtskataloge mit in die Verfassung aufgenommen. Nur Mecklenburg-Vorpommern hat darauf verzichtet. In den alten Bundesländern fehlen sie ebenfalls größtenteils. Sie berufen sich auf den Grundrechtskatalog im Grundgesetz, wodurch die Rechte auch automatisch für die Länder gelten.
Die anderen vier neuen Bundesländer hatten das Bedürfnis, die Grundrechte zu verdeutlichen und sogar zu ergänzen. Ein Grund dafür liegt in der damals noch allseits präsenten DDR-Vergangenheit, in der politische Rechte zwar formuliert waren, aber kaum Gültigkeit hatten und in vielen Fällen erst recht nicht juristisch eingeklagt werden konnten. Deshalb bestand größtenteils der Wunsch nach ausgeprägten Grundrechtskatalogen.
Der Spiegel (Nr. 34/91), August 1992
Brandenburg setzt beispielsweise in seiner Verfassung, wie alle anderen neuen Bundesländer und das Grundgesetz auch, auf die Gleichstellung von Mann und Frau im wirklichen Leben. Die Wahrung der Gleichberechtigung ist zugleich ein Staatsziel.
Dieser Punkt wurde von allen Parteien befürwortet, wohingegen die Gleichstellung von Ehe, Familie und anderen Lebensgemeinschaften in Artikel 22 Absatz 2 hart umkämpft war. Die Verfassung enthält ebenfalls ein Diskriminierungsverbot gegenüber der sexuellen Identität. Weiterhin wurde auch Kindern, als eigenständigen Persönlichkeiten, das Recht auf Achtung ihrer Würde zugesprochen.
Brandenburg garantiert in seiner Verfassung in Artikel 23 Absatz 1: „Alle Menschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und unbewaffnet zu versammeln.“ Damit wird die Versammlungsfreiheit im Land Brandenburg zu einem sogenannten Jedermann-Recht. Das Grundgesetz sieht die Versammlungsfreiheit nur für deutsche Staatsangehörige vor.
Ebenfalls wird in Brandenburg die Berufsfreiheit für jedermann garantiert. Das ist freiheitlich und demokratisch gedacht, in der Praxis aber kaum umzusetzen, da das Bundesrecht über Landesrecht steht und sich das Land somit nicht an seine gewährten Garantien halten muss. Auch die Regelungen des bundesweiten Asylbewerbergesetzes würden bestimmte Regelungen nichtig werden lassen.
Staatsziel: Kampf gegen Rassismus, Antisemitismus und Antiziganismus
In der Brandenburger Verfassung sind der Kampf gegen Rassismus seit November 2013, Antisemitismus und Antiziganismus seit Juni 2022 als Staatsziele verankert. Dieser hohe Stellenwert für staatliches Handeln, der darin deutlich wird, ist bemerkenswert, denn nicht allen Bundesländern haben diese Prinzipien Verfassungsrang. Zum Beispiel war Brandenburg nach Schleswig-Holstein erst das zweite deutsche Bundesland, das den Kampf gegen Antiziganismus in seiner Verfassung festgeschrieben hat.
Eine Verfassung bringt aber nicht nur ein politisches Selbstverständnis zum Ausdruck, sondern gibt auch den Menschen, die in dem Land wohnen, einen Rahmen zur Orientierung und Ordnung. Die Bundeverfassungsrichterin Ines Härtel hat die Verfassung mit einem Obdach verglichen und auf die Verantwortung aller für ihr Bestehen hingewiesen:
"Damit ist die Landesverfassung das feste Fundament der Rechtsgemeinschaft dieses Bundeslandes und zugleich ein Obdach für alle Bürger und Einwohner Brandenburgs mit gleichen Rechten und Pflichten (vgl. Art. 3 Abs. 1 LVerf). Damit sind diese auch in die Sorge um die Verfassung eingebunden. Sie sind „Hüter dieser Verfassung“ zusammen mit der herausgehobenen Verfassungsgerichtsbarkeit, dem Parlament und der Regierung in unterschiedlich graduierter Verantwortung."
(Professorin Ines Härtel, Festrede am 22. Juni 2022 aus Anlass "30 Jahre Verfassung des Landes Brandenburg)
Warum Staatsziele in der Verfassung richtig sind
Antirassismus wurde in der Verfassung Brandenburgs verankert. Aber nicht als Verfassungsgrundsatz, wie es eine Initiative im Potsdamer Landtag gefordert hatte, sondern als Staatsziel. Jes Möller, Präsident des Landesverfassungsgerichts, erklärt, warum das richtig ist.
Ausländerwahlrecht
In allen Landesverfassungen werden die Volkssouveränität und die Wahlrechtsgrundsätze zur besonderen Kennzeichnung des Demokratieprinzips hervorgehoben. Der Art. 22 Absatz 1 der Brandenburger Verfassung glänzt in seinem zweiten Satz mit der bemerkenswerten Ergänzung, dass auch „anderen Bürgern“ das Wahlrecht zuerkannt wird, soweit es das Grundgesetz zulässt. Es ist ein in der Verfassung verankertes Ausländerwahlrecht.
Angehörige anderer Staaten und Staatenlose mit Wohnsitz in Brandenburg sind damit der deutschen Landesbevölkerung gleichgesetzt. Das garantiert eine Erweiterung der Gruppe der Wahlberechtigten und ermöglicht auch Bürgerinnen und Bürgern ohne einen deutschen Pass aktive Mitbestimmung. Das Grundgesetz verhindert momentan noch ein Ausländerwahlrecht auf Landesebene.
Fraktionszwang
Der Fraktionszwang wird in der Brandenburgischen Verfassung für unzulässig erklärt. Zusätzlich ist zur Sicherung des freien Mandats verboten, einen Abgeordneten des Landtags zu zwingen, gegen sein Gewissen oder seine Überzeugung zu handeln. Die übrigen Landesverfassungen garantieren das freie Mandat der Abgeordneten in der aus dem Grundgesetz bekannten Weise.
Rein rechtlich hat die schärfere Formulierung in der Brandenburgischen Verfassung keine stärkere Wirkung, jedoch drückt sie ein Politikverständnis aus, das versucht, sich gegen vorgegebene Parteirichtlinien zumindest theoretisch ein Werkzeug zu schaffen.
Kontrolle der Regierung
Die Brandenburgische Verfassung zeichnet sich durch weitgehende und scharf greifende Minderheitenrechte bei der Kontrolle der Regierung aus. Jeder Abgeordnete hat, nach Stellung eines formellen Antrags, Zugang zu den amtlichen Akten, Dateien und Unterlagen der Behörden und Dienststellen des Landes. Der Zugang darf nur verwehrt werden, wenn es zwingende Gründe zur Geheimhaltung gibt.
Brandenburg ist ebenfalls das einzige der fünf neuen Bundesländer, das seiner Bevölkerung eine Auflösung des Landtags per Volksbegehren und Volksentscheid erlaubt.
Recht auf Akteneinsicht
Brandenburg hat in seiner Verfassung von 1992 als erstes und einziges Bundesland das Grundrecht auf Datenschutz und Akteneinsicht festgeschrieben. Zugrunde lag der Vorsatz, dass die Verwaltung für Bürger und Bürgerinnen transparent sein muss. 1998 verabschiedete der Landtag das Akteneinsichts- und Informationszugangsgesetz. Obwohl sich zu der Zeit auch schon andere Bundesländer intensiv mit der Frage des Datenschutzes befassten, war das Gesetz das erste seiner Art in der Bundesrepublik Deutschland. Auf Bundesebene wurde erst 2005 das Informationsfreiheitsgesetz auf den Weg gebracht.
Dr. Alexander Dix, Landesbeauftragter für den Datenschutz und das Recht auf Akteneinsicht (1998-2005), 2002
Und doch wurde auch dieser fortschrittliche Aspekt mittlerweile von der Zeit und vor allem von den neuen Medien überholt. Die bestehenden Gesetze reichen nicht aus. Die Brandenburger Behörden müssen immer wieder Anfragen ablehnen, weil die aktuelle Gesetzeslage ihnen keine größere Informationsfreigabe erlaubt. Eine zeitgemäße Anpassung ist dringend erforderlich.
Minderheitenrechte der Sorben/Wenden
In der Brandenburgischen Verfassung sind die Rechte und die nationale Identität der Sorben/Wenden besonders geschützt. Bei Landtagswahlen gilt für sorbische Parteien nicht die sonstige 5-Prozent-Hürde, sodass stets Vertreter der Minderheit im Landtag sitzen und am Gesetzgebungsverfahren beteiligt sind. In Sachsen gibt es eine solche Regelung im Landeswahlgesetz nicht.
Brandenburg verpflichtet sich in seiner Verfassung explizit in Artikel 25, Absatz 1: „Das Recht des sorbischen Volkes auf Schutz, Erhaltung und Pflege seiner nationalen Identität und seines angestammten Siedlungsgebietes wird gewährleistet.“ Ein 100 prozentiger Schutz ist das leider nicht.
Es kommt es immer wieder zu massiven Protesten, wenn sorbische Dörfer mitten in Braunkohlegebieten liegen und eingeebnet werden sollen. Das Dorf Horno im Landkreis Spree-Neiße ist eins der bekanntesten Beispiele. 2005 wurde es nach jahrzehntelangem Kampf eingeebnet und seine Bewohner umgesiedelt. Insgesamt sind in den letzten Jahrzehnten über 130 meist sorbische Dörfer verschwunden, 27.000 Menschen wurden umgesiedelt.
Siedlungsgebiet der Sorben/Wenden in Brandenburg
Einbeziehung des Volkes
Die Arbeit an der Brandenburger Verfassung zeichnete sich von Beginn an durch eine starke Beteiligung der Bevölkerung aus. Von Anfang an war sie in der vorparlamentarischen Verfassungsdiskussion involviert und auch an den weiteren Phasen beteiligt. Das trug zu einer breiten Zustimmung zur Verfassung in der Gesellschaft bei.
Die Mischung aus Parlamentariern und Personen des öffentlichen Lebens im Brandenburger Verfassungsausschuss hatte sich bewährt und zu einer effektiven Zusammenarbeit geführt. Der Brandenburgische Verfassungsausschuss tagte als einziger Ausschuss dieser Art in den neuen Bundesländern in der Regel öffentlich.
Nur in einigen Fällen war die Öffentlichkeit von den Verhandlungen ausgeschlossen. Von den insgesamt 20 Hauptausschusssitzungen waren nur vier nicht öffentlich und zwei zum Teil nicht öffentlich. Die Sitzungen der beiden Unterausschüsse waren zu mehr als zwei Dritteln öffentlich zugänglich.
Die Veröffentlichung des Zwischenentwurfs in großer Auflage im Mai 1991 und die daraufhin eingehenden mehr als 500 Stellungnahmen sind ein weiterer Beweis für die starke Einbindung der Bevölkerung. Mit dem Entwurfstext wurden auch Minderheitsvoten zu bestimmten Verfassungsartikeln veröffentlicht. Im Verfassungsausschuss hatten sich zu diesen strittigen Punkten bisher keine mehrheitsfähigen Formulierungen gefunden.
So wurde eine Übersicht über die verschiedenen parteipolitischen Positionen gegeben und alternative Formulierungen vorgeschlagen, die von den Bürgerinnen und Bürgern, Vereinen, Verbänden und Institutionen diskutiert werden konnten. Die stärksten Reaktionen riefen die Bereiche Grundrechte und Staatsziele sowie die Bereiche, die die direkte Demokratie betrafen hervor.
Kritisiert wurde dabei oft die Höhe der Quoren und es wurden niedrigere Barrieren gefordert. Unter den Einsendungen waren auch drei eigenständige Verfassungsentwürfe. Die anderen neuen Bundesländer veröffentlichten ihre Verfassungsentwürfe ebenfalls, erhielten jedoch weit mehr Zuschriften als die Arbeitsgruppe Landesverfassung in Brandenburg. Der Spitzenreiter war Sachsen, wo in zwei Monaten über 1.300 Zuschriften eingingen. Die Landtage nahmen die Zuschriften in ihrer Gesamtheit zwar zur Kenntnis, berücksichtigten jedoch selten einzelne Vorschläge. Die Stellungnahmen dienten eher zur Information der Ausschussmitglieder.
Mit dem Volksentscheid vom 14. Juni 1992 endete die öffentliche Beteiligung. Bei einer Abstimmungsbeteiligung von 48 Prozent der Stimmberechtigten entschieden sich die Bürgerinnen und Bürger jedoch mit 94 Prozent für die neue Verfassung. In Brandenburg verringerte sich das öffentliche Interesse an der Verfassungsdiskussion seit Sommer 1990 stetig, was mit den wachsenden sozialen Problemen im Zuge der gesellschaftlichen Umbrüche zusammenhing.
Manfred Stolpe, Brandenburgischer Ministerpräsident von 1990-2002, Redebeitrag während der 1. Lesung der Verfassung im Landtag, Dezember 1991
Von den zehn alten Bundesländern haben nur vier (Bremen, Hessen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland Pfalz) ihre Landesverfassungen ebenfalls durch Volksentscheid bestätigen lassen. Von den fünf neuen Bundesländern verzichteten nach kontroversen Diskussionen Sachsen-Anhalt und Sachsen auf eine Bestätigung durch einen Volksentscheid.
BLPB, Juni 2017 (zuletzt bearbeitet: Juni 2022)
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Die Aufzeichnung der Feierstunde im Landtag Brandenburg am 22. Juni 2022, das Grußwort der Landtagspräsidentin Prof. Dr. Ulrike Liedke und die Rede von Prof. Dr. Ines Härtel, Richterin des Bundesverfassungsgerichts, finden Sie hier.
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